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Dienstag, 23. Februar 2021

"Was nicht trifft, trifft auch nicht zu." Elazar Benyoëtz (Fälschlich oft Karl Kraus zugeschrieben.)

Der Aphorismus "Was nicht trifft, trifft auch nicht zu" stammt von dem österreichisch-israelischen Lyriker und Aphoristiker Elazar Benyoëtz, wie Bernd-Christoph Kämper und M. Wollmann herausgefunden haben.

Mit der falschen Zuschreibung an Karl Kraus hat anscheinend Sozialwissenschaftler  Oskar Negt begonnendie Journalisten Henryk M. Broder und Jan Fleischhauer bevorzugen eine krassere Fassung des falschen Karl-Kraus-Zitats: "Was trifft, trifft auch zu"

Das inzwischen beliebte angebliche Karl-Kraus-Zitat ist weder so noch so ähnlich in den Schriften von Karl Kraus zu finden.

 

Kurze Geschichte des Kuckuckszitats:

Elazar Benyoëtz hat das Zitat in seinem Buch "Worthaltung. Sätze und Gegensätze" 1977 im Münchner Carl Hanser Verlag veröffentlicht: 

1977
  • "Was nicht trifft, trifft auch nicht zu." 
    Elazar Benyoëtz: "Worthaltung. Sätze und Gegensätze." 
    Hanser, München: 1977, S. 9 (Link)
Hans Weigel rezensierte dieses Buch Elazar Benyoëtzs in der FAZ
1977 mit einem Hinweis auf Karl Kraus:
  • "Von naheliegender Beeinflussung durch Karl Kraus (den er gewiß kennt) hält er sich weitgehend fern. Nur ganz wenige seiner Sätze könnten von Kraus sein ('Was nicht trifft, trifft auch nicht zu')." (Link)
Die Feststellung von Hans Weigel in der FAZ, der Aphorismus könnte von Karl Kraus sein, hat vielleicht dazu geführt, dass Oskar Negt und einige andere später irrtümlich meinten, der Aphorismus sei tatsächlich von Karl Kraus. 

Schon ein Jahr nach der Publikation des Aphorismus wird er fälschlich Karl Kraus zugeschrieben:

1978

  • "Karl Kraus hat einmal gesagt: 'Was nicht trifft, trifft auch nicht zu.' Die polemische Schärfe der Kritik ist es nicht, die mich bedrückt."
    "Arbeiterbildung: soziologische Phantasie u. exemplarisches Lernen in Theorie, Kritik u. Praxis." Hrsg. von Oskar Negt, Hans-Dieter Müller und Adolf Brock, Rowohlt, rororo Sachbuch, Reinbek bei Hamburg: 1978, S. 84  (Link)

1984

  • "Wenn Karl Kraus sagt: 'Was nicht trifft, trifft auch nicht zu', dann meint er genau diese durch parteilichen Eingriff in die Verhältnisse vermittelte Wahrheitsfindung."
    Oskar Negt: "Lebendige Arbeit, enteignete Zeit: politische und kulturelle Dimensionen des Kampfes um die Arbeitszeit" Campus Verlag, Frankfurt /New York: 1984, S. 14 (Link)

1987

  • "Dem Satz von Karl Kraus: 'Was nicht trifft , trifft auch nicht zu', gebe ich einen hohen Erkenntniswert."
    Das Argument, Band 29, 1987, Nr. 164-166, S. 495 (Link)

1993 behauptete Oskar Negt in einer Laudatio im SPIEGEL, Rudolf Augstein sei ein "Geistesverwandter" von Karl Kraus und beiden gemeinsam sei das von Kraus formulierte Prinzip: "Was nicht trifft, trifft auch nicht zu". (Link)

 1995

  • "Karl Krauss (!), gewiß einer der schärfsten Zuspitzer und galligsten Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft , hat einmal gesagt: 'Was nicht trifft , trifft auch nicht zu.'" S. 134 (Link)

2007 verteidigt Henryk M. Broder mit diesem Pseudo-Karl-Kraus-Zitat die Moderatorin Eva Herman, allerdings in der Variante: "Was trifft, trifft auch zu" -, und 2010 verteidigt er damit Thilo Sarrazin im SPIEGEL gegen den Vorwurf, rassistisch zu argumentieren.

Den Angestellten des vielgerühmten SPIEGEL-Archivs fällt weder auf, dass der SPIEGEL im Abstand von 14 Jahren zwei verschiedene Versionen des angeblichen Kraus-Zitats druckte, noch, dass beide Versionen in den Schriften von Karl Kraus nicht zu finden sind.

Pseudo-Karl-Kraus-Zitat.

 


 __________
Quellen:
Elazar Benyoëtz: "Worthaltung. Sätze und Gegensätze." Hanser, München: 1977 (Link)
Markus M. Ronner: "Neue treffende Pointen. Ott Verlag, Thun: 1978, S. 272  (Link) [zitiert nach M. Wollmann]
Arbeiterbildung: soziologische Phantasie u. exemplarisches Lernen in Theorie, Kritik u. Praxis. Hrsg. von Oskar Negt, Hans-Dieter Müller und Adolf Brock, Rowohlt, rororo Sachbuch, Reinbek bei Hamburg: 1978, S. 84  (Link)
Oskar Negt: "Lebendige Arbeit, enteignete Zeit: politische und kulturelle Dimensionen des Kampfes um die Arbeitszeit" Campus Verlag, Frankfurt /New York: 1984, S. 14 (Link) 
Das Argument, Band 29, 1987, Nr. 164-166, S. 495 (Link)
Oskar Negt: "Von Menschen und Nachrichten" Der Spiegel 6/1993,  1. November 1993  (Link)
Henryk M. Broder: "Alvin Rosenfeld: Aus kritischer Distanz" 3. März 2007 (henryk-broder.com)
Henryk M. Broder: "Thilo und die Gene. Streitfall Sarrazin: Haben eigentlich alle dasselbe Zeug gekifft?" Der Spiegel, 36/2010, 6. September 2010 (SPIEGEL)
Jan Fleischhauer: "Der Schwarze Kanal: Was Sie schon immer von Linken ahnten, aber nicht zu sagen wagten." Rowohlt, Reinbek bei Hamburg: 2012, digitalbuch (Link)
Henryk M. Broder: "Nehmt Euch in Acht vor den Propagandamedien!"  4. Mai 2016  (achgut.com) 

WikiMANNia



 

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Dank:

Tobias Blanken und Michael Gunzcy verdanke ich den Twitter-Hinweis auf dieses Falschzitat, M. Wollmann und Bernd-Christoph Kämper den Hinweis auf Elazar Benyoëtz.

 

Artikel in Arbeit. Geändert:  15/3 2021; 15/12/2022 (Zusatz Benyoëtz).

Sonntag, 14. Februar 2021

"Hinter jedem Faschismus verbirgt sich eine gescheiterte Revolution." Walter Benjamin (angeblich)

 

Pseudo-Walter-Benjamin-Zitat.

Dieses Bonmot wurde dem im Jahr 1940 verstorbenen Philosophen Walter Benjamin über 60 Jahre nach seinem Tod das erste Mal untergeschoben, und schon viele Leute haben vergeblich eine Version dieses Zitats in einem Text Walter Benjamins gesucht.

Auch die Behauptungen, das Zitat sei eine Paraphrase von Stellen aus Benjamins Essay "Über den Begriff der Geschichte" oder aus seiner Rezension von Ernst Jüngers Sammelschrift "Krieg und Krieger" mit dem Titel "Theorien des deutschen Faschismus" stimmen nicht, wie man sich leicht selbst überzeugen kann, da beide Texte Online zu lesen sind (Link1) (Link2).

Bei einer chronologischen Durchsuchung aller digitalisierten Texte taucht das Zitat das erste Mal im Jahr 2007 als marxistischer Slogan - allerdings ohne Zuschreibung an Walter Benjamin - in einem Buch über den Philosophen Slavoj Žižek auf.


  • "Žižek in other words takes the old Marxist slogan that ‘every rise of Fascism is a sign of a failed revolution’ very seriously: his understanding of history is consistent with Walter Benjamin’s, in as much as it regards a given historical failure or even catastrophe as indicative of the previous grounding ‘openness’ of agiven socio-political constellation."
    Heiko Feldner, Fabio Vighi: "
    Žižek - Beyond Foucault", Palgrave Macmillan, New York: 2007, S. 33  (pdf) 

Zwei Jahre später erklärte Slavoj Žižek diesen "alten marxistischen Slogan" aus der Sekundärliteratur über ihn ohne Quellennachweis zu einem Zitat Walter Benjamins, und Žižek hat dieses Bonmot einer unbekannten Person später in Büchern und Interviews noch oft als Walter-Benjamin-Zitat wiederholt.

2009

  • "What phenomena such as the rise of the Taliban demonstrate is that Walter Benjamin's old thesis that "every rise of Fascism bears witness to a failed revolution" not only still holds true today, but is perhaps even more pertinent than ever."

    "First As Tragedy, Then As Farce" by Slavoj Zizek; Verso, 2009 (

Seit 2011 haben auch andere Autorinnen und Autoren diesen Satz in verschiedenen Varianten fälschlich Walter Benjamin zugeschrieben.

2011

  • The Nazis converted the revolutionary hymn into a nationalistic paean to Hitler, bringing to mind German-Jewish Marxist Walter Benjamin’s adage that “every fascism is an index of a failed revolution.”
    David Bester: Song and struggle: “Bravely Comrades, In Step” People's World, May 19, 2011  (Link)

2011

  • Walter Benjamin is credited with saying “behind every fascism is a failed revolution,” (by which he meant communism).  (Link)

 2012

  • "Walter Benjamin seems to have it right when he deemed Fascism to be the product of a failed revolution." (Link)

2013

2013

  • "Do, however, recent vicissitudes of Muslim fundamentalism not confirm Walter Benjamin’s insight that 'every rise of Fascism bears witness to a failed revolution'? The rise of Fascism is the Left’s failure: a proof that there was a revolutionary potential, a dissatisfaction, that the Left was unable to mobilize."
    Slavoj Žižek: "Deaths on the Nile. Is Egypt’s revolution following the course of Iran’s?" In Thesetimes, August 23, 2013 (Link)

 2014

  • "Doch auch hier gilt, dass sich hinter jedem Faschismus eine gescheiterte Revolution verbirgt, und die einzige Möglichkeit der Linken, diese Loslösung durch die Rechte zu bekämpfen, ist, ihre eigene Loslösungsbewegung zu starten .."
    Slavoj Žižek: "Weniger als nichts: Hegel und der Schatten des dialektischen Materialismus" 2014 (Link)
     

 2015

  • "Žižek beruft sich auf Walter Benjamins Einsicht, dass jeder Aufstieg des Faschismus von einer gescheiterten Revolution zeuge ..". (DIE ZEIT)

2015

  • "'Hinter jedem Faschismus steht eine gescheiterte Revolution' lautet die Quintessenz der Faschismusanalyse des deutschen jüdischen marxistischen Theoretikers Walter Benjamin.  (slp.at)

 

2016

  • "Nachtwey: Weil die Linke keine alternative Erzählung anbietet. Walter Benjamin hat mal gesagt: Jeder Faschismus beruht auf einer gescheiterten Revolution - der Aufstieg von rechten Bewegungen hat damit zu tun, dass die Linken es nicht geschafft haben, eine Alternative zu entwickeln."  (Der Spiegel)
  •  
2020
  • "das Walter Benjamin zugeschriebene Bonmot, „dass jeder Aufstieg des Faschismus von einer gescheiterten Revolution zeugt“ (Žižek 2015: 14), ist wohl selten so oft zitiert worden wie in den letzten Jahren." (Link)
2020
 
  •  "Žižek constantly repeats Walter Benjamin's observation that 'every fascism is a sign of failed revolution.'" (Link)
 
2021
  • "Guérot fürchtet, Le Pen könnte 2022 tatsächlich gewinnen – und bezieht sich auf den Philosophen Walter Benjamin. Dieser hat schon in den Dreißigerjahren analysiert: "Jeder faschistischen Periode geht eine gescheiterte soziale Revolution voraus." Für Guérot waren die Gelbwesten in Frankreich eine soziale Revolution." (DIE ZEIT)
2021 
  • Ulrike Guérot: "'Jeder faschistischen Periode geht eine gescheiterte soziale Revolution voraus.' Walter Benjamin" (Twitter) 

 

Twitter, 2021:

 
Nach Ralf Bülow könnte das Kuckuckszitat durch eine falsche Verallgemeinerung eines Satzes Walter Benjamins aus einem Briefentwurf zu seinem Moskauer Tagebuch entstanden sein:
 
Walter Benjamin, zum Moskauer Tagebuch, 1. Mai 1927 (archive.org)

 
Artikel in Arbeit. Es könnten noch ältere Belege für das Zitat gefunden werden.
________________
Quellen:
 
Walter Benjamin: "Über den Begriff der Geschichte", in: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Suhrkamp, Frankfurt am Main: 1972, Band I, S. 691 ff. (Link)
Walter Benjamin: "Theorien des deutschen Faschismus", in: W.B.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Suhrkamp, Frankfurt am Main: 1991, Band III Kritiken und Rezensionen (Internet Archive)
Walter Benjamin:  Briefentwurf zum Moskauer Tagebuch vom 1. Mai 1927, in: Gesammelte Schriften, Band 6, 1991, S. 781 (Link)
 
Heiko Feldner, Fabio Vighi: "Žižek - Beyond Foucault", Palgrave Macmillan, New York: 2007, S. 33  (pdf)  
Slavoj Žižek: "Deaths on the Nile. Is Egypt’s revolution following the course of Iran’s?" In Thesetimes, August 23, 2013 (Link)
Slavoj Žižek: "Weniger als nichts: Hegel und der Schatten des dialektischen Materialismus" 2014 (Link)  
Jennifer Ruth:  "Demanding the Impossible" Slavoj Zizek, Polity Press, 2013 (Link)  
Annika Joeres: Macrons härteste Gegnerin, DIE ZEIT, 12. Februar 2021  (Link)
 
 
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Dank:
Ich danke Tobias Blanken für den Hinweis auf dieses Kuckuckszitat und dessen Ursprung bei Slavoj Žižek sowie Ralf Bülow für seine These zur stillen Post.
 
 
 
 
 
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ANHANG

  • "Auf der Ebene dieser Ausdrucksformen der Massen verbinden sich faschistische Ideologie und Ästhetik: Das Ausbleiben der sozialen Revolution geht einher mit einer Inbeschlagnahme der Insignien der Revolution, mit einer Inszenierung und Theatralisierung des Politischen."
    Jean-Michel Palmier: "Walter Benjamin: Lumpensammler, Engel und bucklicht Männlein: Ästhetik und Politik bei Walter Benjamin" Suhrkamp: 2009, S. 1143 (Link)
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Donnerstag, 26. September 2019

"Dass es 'so weiter' geht, ist die Katastrophe." Walter Benjamin

Dieser prägnante Satz Walter Benjamins aus seiner posthum publizierten Studie "Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus" wird meistens etwas entstellt zitiert:

  •  "Die eigentliche Katastrophe besteht darin, dass es so weitergeht."
  • "Die Katastrophe besteht darin, dass es so weitergeht." 
  • "Daß es so weitergeht, ist die Katastrophe."

 

 Walter Benjamin: 'Zentralpark', 1937 (Link):

 

  • "Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Daß es »so weiter« geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende sondern das jeweils Gegebene. Strindbergs Gedanke: die Hölle ist nichts, was uns bevorstünde - sondern dieses Leben hier.

    Die
    Rettung hält sich an den kleinen Sprung in der kontinuierlichen Katastrophe."
_____
Quelle:
Walter Benjamin: "Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus"; Zentralpark, 1937, in:  Gesammelte Schriften. 1. Band. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Suhrkamp, Frankfurt am Main: 1991, S. 683 (Link)

Dienstag, 10. Oktober 2017

"Die Kunst ist der Statthalter der Utopie." Walter Bejnamin (angeblich)

Pseudo Max-Frisch quote.
Dieser Aphorismus wird in Zitatsammlungen sowohl Walter Benjamin als auch Max Frisch zugeschrieben, aber keiner von beiden hat ihn geprägt. Max Frisch unterschiebt den schönen Satz Walter Benjamin und Wikiquote unterschiebt den Satz irrtümlich Max Frisch. In Wahrheit stammt der Spruch aber fast in diesem Wortlaut von Theodor W. Adorno.

Varianten des Falschzitats:
  • "Die Kunst ist die Statthalterin der Utopie."  Walter Benjamin
  • "Art is the governor of utopia." Walter Benjamin
  • "Die Kunst ist Statthalter der Utopie." Walter Benjamin 
  • "Die Kunst ist der Statthalter der Utopie." Max Frisch
  • "Kunst ist der Statthalter der Utopie."
  • "Die Kunst ist der Stadthalter der Utopie."
  Max Frisch hat in der Meinung, er zitiere Walter Benjamin, einen Gedanken formuliert, den er Theodor W. Adorno verdankte.

Max Frisch:
  • "Ich liebe einen Satz von Walter Benjamin, dem deutsch-jüdischen Philosophen, der in Frankreich sich beim Einmarsch der Nazis umgebracht hat ein Satz zum Wesen der Kunst überhaupt: DIE KUNST IST DER STATTHALTER DER UTOPIE. Ist das nicht ein guter Satz? Nebenbei die größte Antwort auf Ihre vorherige Frage, was die Rolle des Künstlers sei."
    Max Frisch im Gespräch mit Anatolij Frenkin, 1984 (?) (Link)
Adorno verwendet das Bild vom Künstler als Statthalter seit 1953, als er einen Vortrag über Paul Valéry den Titel "Der Artist als Statthalter" gab.  Später spricht Adorno vom Geist "als Statthalter der Utopie", vom Finsteren neuer Kunst als Statthalter der Utopie, von Kunstwerken, die "Statthalter der nicht länger vom Tausch verunstaltete Dinge" sind und von Kunst, die "nicht nur der Statthalter einer besseren Praxis" sei.



Theodor W. Adorno:
  • "Der Artist als Statthalter."
    Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur I, S. 175 (Erstdruck 1953), GS 11, S. 114
  • "Die Nichtidentität des Geistes mit seinen Trägern ist dessen Bedingung und dessen Makel in eins. Sie bekundet, daß er nur inmitten des Bestehenden, von dem er sich loslöst, das vertritt, was anders wäre, und daß er es schändet, indem er es bloß vertritt. Im arbeitsteiligen Betrieb ist er der Statthalter der Utopie und verhökert sie, macht sie dem Existierenden gleich. Allzu existenziell ist der Geist, nicht zu wenig."
    Theodor W. Adorno: Balzac-Lektüre, Noten zur Literatur II, GS 11, S. 157
  • "Das Schwarz und Grau neuer Kunst, ihre Askese gegen die Farbe ist negativ deren Apotheose. Wenn in Selma Lagerlöfs außerordentlichen biographischen Kapiteln Mårbacka dem gelähmten Kind ein ausgestopfter Paradiesvogel, das nie Gesehene die Heilung bringt, so ist die Wirkung solcher erscheinenden Utopie unverwelkt, nichts ihresgleichen aber wäre mehr möglich, ihr Statthalter ist das Finstere. Weil aber der Kunst ihre Utopie, das noch nicht Seiende, schwarz verhängt ist, bleibt sie durch all ihre Vermittlung hindurch Erinnerung, die an das Mögliche gegen das Wirkliche, das jenes ver- drängte, etwas wie die imaginäre Wiedergutmachung der Katastrophe Weltgeschichte, Freiheit, die im Bann der Necessität nicht geworden, und von der un- gewiß ist, ob sie wird."
    Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, GS 7, S. 204
  • "Kunstwerke sind die Statthalter der nicht länger vom Tausch verunstalteten Dinge, des nicht durch den Profit und das falsche Bedürfnis der entwürdigten Menschheit Zugerichteten."
    Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, GS 7, S. 338
  • "Kunst ist nicht nur der Statthalter einer besseren Praxis als der bis heute herrschenden, son- dern ebenso Kritik von Praxis als der Herrschaft brutaler Selbsterhaltung inmitten des Bestehenden und um seinetwillen.
    "
    Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, GS 7, S. 26
  • "Ganz und gar von Menschen gemacht, steht es seinem Anschein nach nicht Gemachtem, der Natur, gegenüber. Als pure Antithesen aber sind beide aufeinander verwiesen; Natur auf die Erfahrung einer vermittelten, vergegenständlichten Welt, das Kunstwerk auf Natur, den vermittelten Statthalter von Unmittelbarkeit."
    Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, GS 7, S. 98

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Quellen:
 »Wie Sie mir auf den Leib rücken!«: Interviews und Gespräche von Max Frisch. Hrsg. von Thomas Strässle. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main: 2017 (Link)
Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Aus dem Nachlass herausgegeben (1970); unvollendet. Gesammelte Schriften in 20 Bänden, Band 7, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main: 2003, S. 26, 98, 338, 204 (Link)
Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur, Gesammelte Schriften in 20 Bänden, Band 11, Suhrkamp
Verlag, Frankfurt am Main: 1984, S. 114, 157, (238 f.)
Wikiquote: Max Frisch zitiert den vermeintlichen Benjamin-Aphorismus mehrmals, auch im "Schwarzen Qadrat" von 1981 (Link), (Link). Wikiquote und andere geben für die Zuschreibung des Zitats an Max Frisch als Quelle einen Artikel in der  ZEIT 20/1986 vom 12. November 1986 an, aber dort steht nur, Frisch halte  am "Ideal einer emanzipatorischen Kunst fest: 'Die Kunst ist der Stadthalter (!) der Utopie'". Wer dieses Ideal geprägt hat, steht in dieser Filmvorschau von Siegfried Schober nicht; deswegen ist dieser Artikel keine geeignete Quelle für das Zitat.
Friedhelm Zubke: "Pädagogik der Hoffnung." Königshausen & Neumann, Würzburg: 1996, ebook (Link)  
E-Mail von Walter Schwarz (Walter Benjamin Archiv, Akademie der Künste, Berlin) vom 10. Oktober 2017.
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Dank:
Ich danke Walter Schwarz und Erdmut Wizisla vom Berliner Walter Benjamin Archiv für die Bestätigung, dass das Zitat weder so noch so ähnlich in den Schriften Walter Benjamins vorkommt.