Pseudo-Ovid-Zitat. |
Das Sprichwort "Jedes Ding hat zwei Seiten" wird in einem Zitatebuch für Manager und in Online-Zitatelexika seit ein paar Jahren irrtümlich Ovid zugeschrieben.
In den angesehensten Sprichwörter- und Zitate-Lexika der Welt habe ich keine Zuschreibung an Ovid gefunden.
Der Grund für die falsche Zuschreibung könnte eine Schulbuch-Überschrift über einer kleinen Auswahl von Versen aus Ovids Liedern der Trauer ("Tristia") sein, die Ovid in der Verbannung am Schwarzen Meer um 10 n. Chr. verfasst hat:
Ovid: Ausgewählte Gedichte. Für den Schulgebrauch, 1889 (books.google). |
Doch der Titel über den Versen "Igne quid utilius?..." (Was nützt mehr als das Feuer?) aus Ovids Tristia stammt vom Herausgeber des Schulbuchs, und nicht von Ovid.
Ovid: "Tristia", übersetzt von Wilhelm Willige:
Ovid: "Lieder der Trauer", übersetzt von Wilhelm Willige (books.google). |
_
Nach
dem Philosophiehistoriker Diogenes Laertius geht die These, jedes Ding
habe zwei entgegengesetzte Seiten, auf den berühmten agnostischen
Sophisten Protagoras zurück, der Athen verlassen musste, weil er an der Erkennbarkeit der Götter zweifelte.
Diogenes Laertius: "Leben & Meinungen berühmter Philosophen", IX, 51:
- "Er [Protagoras] stellte zuerst die Behauptung auf, daß es zwei entgegengesetzte Aussagen über jegliche Sache gebe". (übersetzt von Otto Apelt) (Link)
"Protagoras was the first to say that there are two sides to every question, opposed to each other". (übersetzt von Pamela Mensch) (Link)
__________
Quellen:
Ovid: "Ausgewählte Gedichte." Für den Schulgebrauch herausgegeben von Heinrich Stephan Sedlmayer, Verlag von F. Tempsky, Wien und Prag: 1889, S. XII (books.google)
Ovid: "Briefe aus der Verbannung / Tristia." Epistulae ex Ponto: Lateinisch - Deutsch. Übertragen von Wilhelm Willige. Eingeleitet und erläutert von Niklas Holzberg, Sammlung Tusculum, Artemis u. Winkler, Mannheim: [1963], S. 83 (books.google)
Diogenes Laertius: "Leben und Meinungen berühmter Philosophen." Buch I–X. Übers.: Otto Apelt. Philosophische Bibliothek. Bd. 53/54, Felix Meiner Verlag, Leipzig: 1921, II. Buch, IX, 8. Kapitel, Protagoras, 51, S. 158 (Link)
Beispiel für frühe falsche Zuschreibung:
Monika Mörtenhummer, Harald Mörtenhummer: "Zitate
im Management: Das Beste von Top-Performern und Genies aus 2000 Jahren
Weltwirtschaft." 2. Auflage, Linde, Wien: 2009, S. 148 Ebook (Link)