Posts mit dem Label Kant werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Kant werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Montag, 9. August 2021

"Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt." Immanuel Kant (angeblich)


Pseudo-Immanuel-Kant-Zitat  (facebook.com).

Dieses seit Beginn der Corona-Pandemie besonders beliebte  Pseudo-Kant-Zitat wurde dem Philosophen Immanuel Kant, der 1804 in Königsberg gestorben ist, erst über 100 Jahre nach seinem Tod erstmals untergeschoben und ist in seinen Schriften in diesem Wortlaut so wenig zu finden wie in Texten Rosa Luxemburgs, der das Zitat auch manchmal fälschlich zugeschrieben wird.

Die Grenzen der Freiheit wurden in der französischen "Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" am 26. August 1789 im Artikel 4 mit dem berühmten Satz 

formuliert.

Immanuel Kant brachte im Jahr 1793 die Grenzen der rechtlichen Freiheit einer Person in einem aufgeklärten Rechtsstaat auf folgende Formel:

Immanuel Kant, 1793:

  •  "Niemand kann mich zwingen auf seine Art (wie er sich das Wohlsein anderer Menschen denkt) glücklich zu sein, sondern ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit Anderer, einem ähnlichen Zwecke nachzustreben, die mit der Freiheit von jedermann nach einem möglichen allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, (d.i. diesem Rechte des Andern) nicht Abbruch tut."

    Immanuel Kant: "Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis", 1793, AA VIII,  S. 290 (Link)

Immanuel Kant, 1797:

  • "Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann."

    Immanuel Kant: "Die Metaphysik der Sitten" 1797, AA VI, S. 230 (Link)

 

 

Entwicklung des Zitats:


Im 19. Jahrhundert entstanden auf Deutsch und Englisch - ohne die Erwähnung Immanuel Kants oder der "Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" - Varianten des Zitats, die dem späteren Pseudo-Kant-Zitat schon sehr ähnlich sind.

1848

  • "Aber wo die Freiheit des Anderen beginnt, hört die Freiheit des Einen nothwendig auf, für Personen und Sachen."
    Archiv-Director Dr. Friedemann, Neueste Weltkunde, 3. Band, H.L. Brönner, Frankfurt am Main: 1848, S. 294 (Link)

Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gilt das Zitat als rechtstheoretischer Grundsatz:

1896

  • "was die Theorie des Rechts hinsichtlich des Rechtes der einzelnen Persönlichkeit als Grundsatz aufstellt, daß nämlich die Grenze der Freiheit einer Person da liegt, wo die Freiheit (oder sagen wir einfach der Wirkungsbereich ) einer anderen beginnt." (books.google)

 1897
  • "If corporations respected the principle that 'Each person's liberty ends where the liberty of another person commences,'  there would be no need for interference in their affairs by the State ". (Link)

Jahrzehnte bevor das Zitat das erste Mal auf Deutsch Immanuel Kant zugeschrieben wurde, wurde es auf Französisch als Kants berühmter Satz ("la phrase fameuse") bezeichnet.

1911

  • "Nous trouvons là une nouvelle expression de la phrase fameuse de Kant: La liberté des uns s'arrête là où commence celle des autres.(Link)

Auf Deutsch wurde dieser Satz öfters auch fälschlich Rosa Luxemburg untergeschoben, vielleicht aus einer Fehlerinnerung an ihr berühmtes Wort von der Freiheit, die immer die Freiheit der Andersdenkenden sein solle.

1973

  • ".. täglich darauf zu achten haben, daß frei nach Rosa Luxemburg die eigene Freiheit dort ihre Grenzen hat, wo die Freiheit des anderen beginnt ." (Link)
Auch Jean-Jacques Rousseau wurde schon fälschlich als Urheber des Satzes bezeichnet.

1989
  • "bearing in mind Rousseau’s remark that, 'my liberty ends where the liberty of my neighbour begins’". (archive.org)
2001
  • "'Die Freiheit des Einzelnen hört da auf, wo die Freiheit des Anderen beginnt' , hat Rosa Luxemburg populär formuliert ." (Link)

2004

  • "Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt, sagte Rosa Luxemburg ." (Link)
2018

  • "Nicht alles, was befremdlich ist, gehört verboten. Kant hat gesagt: Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt. - Auch die Vollverschleierung muss in einer offenen Gesellschaft möglich sein. "
     Katrin Helling-Plahr (FDP), Bundestag, Plenarprotokoll 19/14 vom 22.02.2018, S. 1115 (Link) 
2020 Twitter:



2021

  • "Der oft zitierte Satz 'Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt' wird meist Immanuel Kant zugeschrieben. Aber so simpel hat der Weise aus Königsberg nie formuliert. Und diese Binsenweisheit gibt auch keine Antwort auf die Frage, wo die Freiheit des anderen beginnt." (derstandard.at)

 

 


 

_______________

Quellen:

Immanuel Kant: "Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis", 1793,  in: "Kant’s Gesammelte Schriften",  Akademieausgabe, Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften, Reimer, ab 1922 de Gruyter, Berlin: 1900ff.  Elektronische Edition: Universität Duisburg AA VIII, S. 290 (Link)
Immanuel Kant: "Die Metaphysik der Sitten", 1797, AA VI, S. 230 (Link) 
Archiv-Director Dr. Friedemann, Neueste Weltkunde, 3. Band, H.L. Brönner, Frankfurt am Main: 1848, S. 294 (Link)
Karl Mavrikievich Voĭde: "Die Ursachen der Siege und Niederlagen im Kriege 1870: Versuch einer kritischen Darstellung des deutsch-französischen Krieges bis zur Schlacht bei Sedan", Band 2, Mittler und Sohn, Berlin: 1896, S. 388 (books.google)
Eric Frey: "Sind unsere Freiheiten in Gefahr?" Der Standard, 23. Jänner 2021 (derstandard.at)
gutefrage.net "von wem stammt das zitat: Meine Freiheit endet dort wo die Freiheit des anderen beginnt", 2011 [Mit einigen anderen Zitaten aus Kants Schriften.]
Garson O'Toole: "Your Liberty To Swing Your Fist Ends Just Where My Nose Begins Oliver Wendell Holmes, Jr.? John B. FinchQuellen:? John Stuart Mill? Abraham Lincoln? Zechariah Chafee, Jr.?" 2011 (quoteinvestigator)


Artikel in Arbeit. Viele Funde - wie zum Beispiel ein Victor-Hugo-Zitat (anno) - sind hier noch nicht bearbeitet.
___
Dank:
Ich danke dem Berliner Philosophen Michael Oberst für den Hinweis auf das falsche Kant-Zitat sowie für seine Bestätigung, dass es in diesem Wortlaut in Kants Schriften nicht zu finden ist. Dank auch an semper-see.
 
 
 
Letzte Änderung: 18/11 2021 (Zusätzliches Kant-Zitat)

Freitag, 10. Juli 2020

"Die Regeln des Glücks: Tu etwas, liebe jemanden, hoffe auf etwas." Immanuel Kant (angeblich)


Pseudo-Immanuel-Kant-Zitat.
Diese beliebten Regeln des Glücks stammen von dem amerikanischen Geistlichen George Washington Burnap und werden Immanuel Kant seit ungefähr 40 Jahren auf Englisch und seit kaum 10 Jahren auf Deutsch untergeschoben, wie man durch chronologisches Suchen in den digitalisierten Texten leicht überprüfen kann.

Da Immanuel Kants sämtliche Schriften mehrfach digitalisiert sind und man dieses Glücksregeln weder dort noch in seriösen Kant-Lexika findet, kann man sich sicher sein, dass Immanuel Kant diese Regeln nur unterschoben wurden.


"Rules for happiness: something to do etc.": Pseudo-Immanuel-Kant quote.
In Amerika hat die falsche Zuschreibung an Immanuel Kant anscheinend in einem Eltern-Ratgeberbuch aus dem Jahr 1982 begonnen:

Sherri Nance: "Premature babies: a handbook for parents" 1982, S. 89 (archive.org)
Erstmals in einem seriösen deutschsprachigen Verlag taucht dieses Pseudo-Kant-Zitat im Jahr 2018 auf:

  • "Das Handeln kann positiv gesehen werden, wie die vielzitierten Regeln des Glücks nach Kant, »Tu etwas, liebe jemanden, hoffe auf etwas« zeigen, die Poesiealben, Hochzeitskarten und Geburtsanzeigen gleichermaßen schmücken."

    Barbara Streidl: "Langeweile." Reclam 100 Seiten, Reclam jun. Verlag, Ditzingen: 2018 ebook [ohne Seitenangaben] (Link)

Eine Variante dieser beliebten Glücksregel hat die feministische amerikanische Autorin Rita Mae Brown in ihrem im Jahr 2011 erschienem Roman "Hiss of Death" erwähnt:

Rita Mae Brown: "Hiss of Death: A Mrs. Murphy Mystery", 2011, S. 27 (Link).
  • "Happiness is pretty simple: someone to love, something to do, something to look forward to. That's what Alicia's grandmother used to say ..."

    Rita Mae Brown: "Hiss of Death: A Mrs. Murphy Mystery", Bantam Books, New York: 2011, S. 27
    (Link)


Rita Mae Brown schreibt diese Regel in dem Roman der Großmutter der fiktiven Figur Alicia zu.

Geprägt hat die Glücksformel aber im 19. Jahrhundert der religiöse Autor George Washington Burnap in seinem Ratgeberbuch für Frauen: "The Sphere and Duties of Woman: A Course of Lectures":
  • "The grand essentials to happiness in this life are something to do, something to love, and something to hope for. We all must have something to love."

    George Washington Burnap: "The Sphere and Duties of Woman: A Course of Lectures" John Murphy, Pittsburg: 1848, S. 99 (Link)

Diese Glücksformel aus dem Jahr 1848 wird heute Elvis Presley, Alexander Chalmers, Allan K Chalmers, Rita Mae Brown,  Joseph Addison und Immanuel Kant zugeschrieben.

In den Schriften von Joseph Addison und Immanuel Kant hat diese Glücksformel noch niemand entdecken können.


Versionen des Pseudo-Immanuel-Kant-Zitats:

 

  • "Die Regeln des Glücks: Tu etwas, liebe jemanden, hoffe auf etwas." 
  • "Regeln für das Glück: etwas zu tun, jemanden zu lieben, etwas zu hoffen."
  • "Rules for happiness: something to do, someone to love, something to hope for."
  • "Rules for happiness: something to do; something to love; something to hope for."
  • "Las reglas de la felicidad: Algo que hacer, alguien a quien amar, algo que esperar."
  • "Las reglas de la felicidad: tener algo que hacer, tener alguien a quien amar, tener algo por lo cual esperar."
  • "Regole per essere felici: qualcosa da fare, qualcuno da amare, qualcosa in cui sperare."
  • "Règles pour être heureux: faire quelque chose, aimer quelqu’un, espérer quelque chose."
  

 
Pseudo-Immanuel-Kant-Zitat.

Pseudo-Immanuel-Kant-Zitat.

Pseudo-Immanuel-Kant-Zitat.



  • Artikel in Arbeit.
***

ZITATFORSCHUNG unterstützen.

 ***


  ______________
Quellen:
Google
Twitter 
"Kant’s Gesammelte Schriften", Akademieausgabe, Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften, Reimer, ab 1922 de Gruyter, Berlin: 1900ff.  Elektronische Edition: Universität Duisburg
textlog.de/kant-logik 
Rudolf Eisler: "Kant-Lexikon. Nachschlagewerk zu Kants sämtlichen Schriften, Briefen und handschriftlichen Nachlaß" 1930 (textlog.de) 
George Washington Burnap: "The Sphere and Duties of Woman: A Course of Lectures" John Murphy, Pittsburg: 1848, S. 99 (Link)
Rita Mae Brown a. Sneaky Pie Brown: "Hiss of Death: A Mrs. Murphy Mystery", Bantam Books, New York: 2011, S. 27 (Link)
whosaidthatreally.tumblr.com/ 
Wikiquote

 
Beispiele für falsche Zuschreibungen an Kant:
1982: Sherri Nance, Sharon Timmons:  "Premature babies: a handbook for parents" Arbor House, New York: 1982, S. 89 (archive.org)
2011: twitter
2014: (Link)
2018: Barbara Streidl: "Langeweile." Reclam 100 Seiten, Reclam ju. Verlag, Ditzingen: 2018 ebook [ohne Seitenangaben] (Link) 
aphorismen.de - 172919
gutezitate.com - 149310
goodreads.com - 7287764



 _______-
Dank:
Ich danke Friedhelm Greis für die Weiterleitung der Frage zu diesem Kuckuckszitat und den Hinweis auf George Washington Burnap. Günther Schmigalle hat auf das Falschzitat aufmerksam gemacht und besonders danke ich wieder Ralf Bülow, der das Zitat in dem Roman von Rita Mae Brown entdeckt hat.





______________________________________________

 

ANHANG

 

Immanuel Kant: "Logik"

 

"Philosophie nach dem Schulbegriffe und nach dem Weltbegriffe betrachtet"



"Das Feld der Philosophie in dieser weltbürgerlichen Bedeutung läßt sich auf folgende Fragen bringen:

1) Was kann ich wissen? —
2) Was soll ich tun?
3) Was darf ich hoffen?
4) Was ist der Mensch?

Die erste Frage beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion, und die vierte die Anthropologie. Im Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen.

Der Philosoph muß also bestimmen können
1) die Quellen des menschlichen Wissens,
2) den Umfang des möglichen und nützlichen Gebrauchs alles Wissens, und endlich
3) Die Grenzen der Vernunft. —"

Das letztere ist das Nötigste, aber auch das Schwerste, um das sich aber der Philodox nicht bekümmert."

Immanuel Kant: "Logik", AA IX, S. 25   (Link); (textlog.de/kant-logik) 

-

Screenshot, Juli 2020:



Pseudo-Immanuel-Kant-Zitat.
_

Twitter:

Donnerstag, 9. Juli 2020

"Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Rasse der Weißen." Immanuel Kant (angeblich)

 Dieses Zitat hat der französische Botaniker und Geograph Georges-Louis Leclerc de Buffon geprägt.

Es steht ohne Hinweis auf Buffon im zweiten Band der 1802 erstmals publizierten "Physischen Geographie" Immanuel Kants, die der Herausgeber Theodor Rink aus heute zum Teil verschollenen handschriftlichen Vorlesungsunterlagen, Vorlesungsmitschriften und Notizen Kants aus vier Jahrzehnten (1757-1795) zusammengestellt hat.

  • "Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Theil der amerikanischen Völkerschaften."

    Immanuel Kant: "Physische Geographie."Auf Verlangen des Verfassers, aus seiner Handschrift herausgegebgen und zum Theil bearbeitet von D. Friedrich Theodor Rink. Zweyter Band, Göb'bels und Unzer, Königsberg: 1802, S. 10 (books.google); (Link) 
 Da Immanuel Kant im Fach Geographie auf keine eigenen Forschungsarbeiten zurückgreifen konnte, bestanden seine Vorlesungsunterlagen zum großen Teil aus Exzerpten, Zitaten und Paraphrasierungen von Stellen aus Fachbüchern. Diese Zitate wurden in der von Theodor Rink herausgegebenen "Physischen Geographie" Kants nicht als Zitate gekennzeichnet.

Michael Wolff hat in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung darauf hingewiesen, dass  diese  unausgewiesenen Exzerpte Kants nicht einfach als Kant-Zitate behandelt werden sollten, noch dazu, da wir nicht wissen, wie Kant diese Zitate in seinen Vorlesungen kommentiert hat.

Zum Beispiel stammt Kants Zitat von der "größten Vollkommenheit" der weissen Rasse nachweislich von Georges-Louis Leclerc de Buffon:

Georges-Louis Leclerc de Buffon, 1752

  • "Die Natur hat in ihrer größten Vollkommenheit weiße Menschen gebildet, und die auf das höchste veränderte Natur bildet sie gleichfalls weiß."

    Georges-Louis Leclerc de Buffon: "Allgemeine Historie der Natur nach allen ihren besondern Theilen abgehandelt; nebst einer Beschreibung der Naturalienkammer Sr. Majestät des Königs von Frankreich. Zweyter Teil. Übersetzung und Vorrede: Albrecht von Haller, bey Georg Christian Grund und Adam Heinrich Holle, Hamburg und Leipzig: 1752, S. 300 (Link)
Nach Michael Wolff hat sich Immanuel Kant nach 1775 explizit gegen die "frechen Meinungen" Buffons und anderer gewandt und es sei wahrscheinlich, dass Kant diese Stellen während der Vorlesungen kritisch kommentiert habe.

Bei allen lächerlich dummen Aussagen Immanuel Kants über Afrikaner, Chinesen und amerikanische Ureinwohner, die er aus Reiseberichten und Abhandlungen in seinen anthropologischen und geographischen Vorlesungen wiederholt hat, sei nicht vergessen, dass Immanuel Kant als einer der wenigen philosophischen Autoritäten seiner Zeit explizit gegen die kolonialistischen Praktiken der Europäer aufgetreten ist. In diesem Sinn war Immanuel Kant Anti-Rassist.

 Immanuel Kant: "Die Metaphsyik der Sitten" 1797,


  • "Zuletzt  kann noch  gefragt werden: ob, wenn uns weder die Natur noch der Zufall, sondern  bloß  unser eigener Wille in Nachbarschaft mit einem Volk bringt, welches keine Aussicht zu einer bürgerlichen Verbindung mit ihm verspricht, wir nicht in Absicht diese zu stiften und diese  Menschen  (Wilde) in einen  rechtlichen  Zustand zu versetzen  (wie etwa die amerikanischen Wilden, die Hottentotten, die Neuholländer) befugt sein sollten, allenfalls mit Gewalt oder (welches nicht viel besser ist) durch betrügerischen Kauf Colonien zu errichten und so Eigenthümer ihres Bodens zu werden und ohne Rücksicht auf ihren ersten Besitz Gebrauch von unserer Überlegenheit zu machen; zumal es die Natur selbst (als die das Leere verabscheuet) so zu fordern scheint, und große Landstriche in anderen Welttheilen als gesitteten Einwohnern sonst menschenleer geblieben wären, die jetzt herrlich bevölkert sind, oder gar auf immer bleiben müßten, und so der Zweck der Schöpfung vereitelt werden würde. Allein man sieht durch diesen Schleier der Ungerechtigkeit (Jesuitism), alle Mittel zu guten Zwecken zu billigen, leicht durch; diese Art der Erwerbung des Bodens ist also verwerflich."

Immanuel Kant: "Die Metaphsyik der Sitten." 1797, AA VI, S. 266, 10-27 (korpora.zim.uni-duisburg-essen.de)


Michael Wolff, 9. Juni 2020:


Michael Wolff: "Prüfung eines Zitats. Kant war ein Anti-Rassist" FAZ, 9. Juni 2020 (faz.net)





Artikel in Arbeit.


***

ZITATFORSCHUNG unterstützen.

 ***

_________________
Quellen:
Immanuel Kant: "Physische Geographie."Auf Verlangen des Verfassers aus seiner Handschrift herausgegeben und zum Theil bearbeitet von D. Friedrich Theodor Rink. Zweyter Band, Göb'bels und Unzer, Königsberg: 1802, S. 10 (books.google); (Link)  
Immanuel Kant: "Die Metaphsyik der Sitten." 1797, in: "Kant’s Gesammelte Schriften",  Akademieausgabe, Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften, Reimer, ab 1922 de Gruyter, Berlin: 1900ff.  Elektronische Edition: Universität Duisburg AA VI, S. 266, 10-27 (korpora.zim.uni-duisburg-essen.de)
Georges-Louis Leclerc de Buffon: "Allgemeine Historie der Natur nach allen ihren besondern Theilen abgehandelt; nebst einer Beschreibung der Naturalienkammer Sr. Majestät des Königs von Frankreich. Zweyter Teil. Übersetzung und Vorrede: Albrecht von Haller, bey Georg Christian Grund und Adam Heinrich Holle, Hamburg und Leipzig: 1752, S. 300 (Link)
Reinhard Brandt: "Kant und Europa", in: LOGOS n.s. 6-7, ScriptaWeb, Napoli: 2010, S. 9-36 (Link)
[Die folgenden vier Artikel der Kant-Debatte sind nur Abonnenten zugänglich]
Volker Gerhardt: "Kant ein Rassist? Lest ihn bitte genau", Die WELT, 17. Juni 2020 (welt.de)
Patrick Bahners: "Kant und die Stammtischwahrheiten" FAZ, 20. Juni 2020 (faz.net)
Marcus Willaschek: "Kants Rassismus. Ein Kind seiner Zeit" FAZ, 24. Juni 2020 (faz.net)  
Michael Wolff: "Prüfung eines Zitats. Kant war ein Anti-Rassist" FAZ, 9. Juni 2020 (faz.net)



 ________________
 Dank:
Dank an Michael Wolff, dessen Argumenten ich hier folge.




______________________________________ 

ANHANG 


Kant hat von ungefähr  1757 bis 1795 vier Jahrzehnte lang populäre Vorlesungen zur "Physischen Geographie" gehalten, und damit nicht nur Philosophie-Studenten, sondern auch Handlungsreisende und Kaufleute angesprochen. (Link) 


  • "Wenn man die (noch nicht edierten) Nachschriften der Geographie-Vorlesung aus der Frühzeit bis in die frühen siebziger Jahre verfolgt, kommt man zu einer überraschenden  Feststellung:  Wären die Hefte nicht in deutscher Sprache überliefert, wäre man auf den ersten  Blick kaum in der Lage, auf den Ort oder auch das Land zu schließen, aus dem der  Autor stammt.  Die Theorie der Winde und  der Quellen,  die Beschreibung der Einwohner Japans  und Amerikas, Mitteleuropas und Madagaskars, alles wird, so scheint es, ohne jeden  Eurozentrismus eingeordnet und dargestellt. Die Weltgeographie wird von einem Weltbürger verfasst – das ist eine Neuerung, die Kant hier gegen frühere Autoren einführt, die die physische Geographie unter einem vorwiegend an Europas Geopolitik orientierten Interesse  behandelten."

    Reinhard Brandt: "Kant und Europa", in: LOGOS  n.s. 6-7, ScriptaWeb, Napoli: 2010, S. 9-36, S. 11 (Link)




Donnerstag, 26. März 2020

"Vernunft ist durch das Herz gebrochener Verstand." Immanuel Kant (laut Ulrike Guérot)

Dieses Bonmot unterschiebt die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot dem Philosophen Immanuel Kant seit dem Jahr 2017.

Es ist in den gut digitalisierten Werken Immanuel Kants nicht zu finden, und Kants Vernunftbegriff hat, wie Philosophiestudent:innen lernen, auch ganz und gar nichts mit dem Herzen zu tun.

Dieses Zitat ist also ein Kuckuckszitat, über das auch flüchtige Leser:innen von Kants "Kritik der reinen Vernunft" oder seiner "Kritik der praktischen Vernunft"  nur den Kopf schütteln können.

Pseudo-Immanuel-Kant-Zitat, 23. Mai 2018 twitter.com
  • "Wer kein Fan von Tolkien ist, kann es aber auch mit Kant halten, den zum Ende des Abends Ulrike Guérot zitiert: Vernunft ist durch das Herz gebrochener Verstand. " 2017 (Link)

Ulrike Guérots Pseudo-Immanuel-Kant-Zitat könnte aus dem 1995 publizierten Aphorismus "Vernunft ist Verstand mit Herz" von Ulrich Erckenbrecht entstanden sein.



_______
Quellen:
Immanuel Kant: "Kant’s Gesammelte Schriften",  Akademieausgabe, Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften, Berlin: 1900ff.  Reimer, ab 1922 de Gruyter; Elektronische Edition: Universität Duisburg 

Ulrich Erckenbrecht:  aphorismen.de/zitat/161197  Quelle laut aphorismen.de: Ulrich Erckenbrecht: "Katzenköppe", Muriverlag: 1995

 

Beispiele für falsche Zuschreibungen von Ulrike Guérot: 

 
2017: Lenz Jacobsen: "Alle Macht für Mister Spock" DIE ZEIT, 6. April 2017 (Link)
2018:  23. Mai 2018 Twitter;  
2019: Ulrike Guérot: Opening Keynote, "Sciences, Research and  Excellency in Europe", Marie Skłodowska-Curie Actions Conference 2018,  Donau-Universität Krems, Discussion Paper Series Nr 6 | August 2019  (donau-uni.ac.at)
2020: Ulrike Guérot: "Uns wird das Denken abgenommen", Gespräch mit Brigitte Schwens-Harrant, Die Furche, 5. Februar 2020 (furche.at)


Artikel in Arbeit.
_______
Ich danke Philipp Hummel für den Hinweis und Ralf Bülow für seine Recherchen zum Ursprung des Falschzitats.

 

Letzte Änderungen: 22/6 2022 

______________________

Anhang:

-

Twitter:


2020: