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Mittwoch, 18. Mai 2022

"Du magst dich nicht für den Krieg interessieren, aber der Krieg interessiert sich für dich." Leo Trotzki (angeblich)

 

Pseudo-Leo-Trotzki-Zitat.
Dieses Zitat wird dem russischen Revolutionär und Schriftsteller Leo Trotzki fälschlich zugeschrieben, und ist in seinen digitalisierten Texten weder auf Deutsch noch auf Englisch zu finden.

Wie der amerikanische Zitatforscher Garson O' Toole herausgefunden hat, wurde dieser Aphorismus wahrscheinlich von der amerikanischen Autorin und politischen Aktivistin Fannie Hurst bei einer "Freedom Day"-Kundgebung in Cleveland im Jahr 1941 geprägt.

 Fannie Hurst, 1941:

Im Zusammenhang mit Leo Trotzki ist der Satz in den digitalisierten Texten im Jahr 1977 das erste Mal aufgetaucht, allerdings nicht als Zitat, sondern als Variation eines angeblichen Trotzki-Zitats über Dialektik:

  • "War is most often a form of tyranny. It is best described by paraphrasing Trotsky's aphorism about the dialectic: 'You may not be interested in war, but war is interested in you.'"

    Michael Walzer: "Just and unjust wars: a moral argument with historical illustrations".   (archive.org)

In den folgenden Jahrzehnten wurde dieser Satz Leo Trotzki selbst zugeschrieben und nicht dem amerikanischen Sozialphilosophen Michael Walzer, der - jetzt wird es kompliziert - nicht ein exaktes Zitat Trotzkis variierte, sondern einen Aphorismus, der Trotzki nachweislich erst seit dem Jahr 1970 zugeschrieben wurde:

  • "You may not be interested in the dialectic, but the dialectic is interested in you. / TROTSKY" (Link)

Dieses angebliche Trotzki-Zitat stand als Motto im letzten Kapitel der Studie "The Politics of Authenticity: Radical Individualism and the Emergence of Modern Society" des amerikanischen Politikwissenschaftlers Marshall Bermann (Link).

Marshall Bermann wurde zu diesem Trotzki-Zitat wahrscheinlich durch einen Satz angeregt, der in Trotzkis Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Philosophen James Burnham gefallen ist.

Als der in Oxford ausgebildete Philosoph James Burnham, der ein paar Jahre lang den Trotzkisten nahe stand, am Ende der 1930er Jahre abfällig über Hegels Dialektik sprach, verteidigte Leo Trotzki die marxistische Dialektik in mehreren Artikeln, die in dem Band "Verteidigung des Marxismus" gesammelt publiziert wurden. 

Leo Trotzki bezeichnte Charles Darwin als "unbewussten Dialektiker" (Link) und unterschied die dialektische Methode des Marxismus von der Dialektik der Gesellschaft und der Natur. 

Die traditionelle Wissenschaft zeige nur ein Standbild der Realität, während der Dialektiker den ganzen Film biete.

  • "Burnham does not recognize the dialectic, but the dialectic recognizes Burnham, that is, extends its sway over him."
    Leo Trotzki, 15. Dezember 1939  (archive.org)

t

Leo Trotzki:

  • "Jedes Individuum ist mehr oder weniger, meistens unbewußt, ein Dialektiker." (Link)
  • "Es gibt auf der Welt sehr viele unbewußte oder halb-bewußte Dialektiker." (Link)
  • "All das zeigt beiläufig, daß unsere Denkmethoden, sowohl die formale Logik als auch die Dialektik, keine willkürlichen Konstruktionen unseres Verstandes sind, sondern eher Ausdruck der tatsächlichen Wechselbeziehungen in der Natur selbst. In diesem Sinne ist die Welt durch und durch von 'unbewußter' Dialektik durchdrungen." (Link)
  • "Burnham erkennt die Dialektik nicht an, aber die Dialektik erkennt Burnham an, das bedeutet, dehnt ihre Herrschaft über ihn aus.(Link)
  • "Burnham erkennt die Dialektik nicht an, aber die Dialektik läßt ihn nicht aus ihrem Netz entweichen." (Link)

Die Dialektik hat nach dem Zweite Weltkrieg den trotzkistischen Antistalinisten John Burnham zu einem stockkonservativen Kalten Krieger gemacht.


Pseudo-Leo-Trotzki-Zitate:

  • "Du magst dich nicht für den Krieg interessieren, aber der Krieg interessiert sich für dich."
  • "Du interessierst Dich vielleicht nicht für den Krieg, aber der Krieg interessiert sich für Dich."
  • "Vielleicht interessiert ihr euch nicht für den Krieg. Aber der Krieg interessiert sich für euch"
  • "Stell Dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin. Dann kommt der Krieg zu Dir."
  • "Vielleicht interessierst du dich nicht für den Krieg, aber der Krieg interessiert sich für dich."
  • "Es kann sein, dass du dich nicht für den Krieg interessierst. Aber der Krieg interessiert sich für dich."
  • "Ihr mögt euch nicht für den Krieg interessieren, aber der Krieg interessiert sich für euch."
  • "You may not be interested in war, but war is interested in you."


Auf Deutsch ist das falsche Trotzki-Zitat seit dem Jahr 1994 nachweisbar, als ein Buch der Futuristen Alvin Toffler und Heidi Toffler aus dem Amerikanischen ins Deutsche übersetzt wurde:

Alvin Toffler, Heidi Toffler: "Überleben im 21. Jahrhundert. Aus dem Amerikanischen übertragen von Helmut Dierlamm, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart: 1994, S. 7 (Link)




Artikel in Arbeit.

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Quellen:

Garson O' Toole: "You May Not Be Interested in War, But War Is Interested in You: Leon Trotsky? Fannie Hurst? James Burnham? O. H. Steiner? Marshall Berman? Michael Walzer? Donald Barthelme? Apocryphal?" 2021 (quoteinvestigator.com/)
wikiquote.org  [Die Spekulation über eine Übersetzung aus dem Griechischen halte ich für unbegründet.]
Leo Trotzki: Offener Brief an Genossen Burnham, 7. Januar 1940 (marxists.org); Open Letter to comrade Burnham, in: Leon Trotsky: "In Defense of Marxism", (New York: 1942), Pathfinder Press, New York: 1972, S. 72-94 (archive.org)
Leo Trotzki: "Eine kleinbürgerliche Opposition in der Socialist Workers Party" 15. Dezember 1939, Verteidigung des Marxismus (marxists.org), in: Leon Trotsky: "In Defense of Marxism", (New York 1942), Pathfinder Press, New York: 1972, S. 48 (archive.org)
Leo Trotzki, Brief an Albert Goldmann, 5. Juni 1940 in: Leon Trotsky: "In Defense of Marxism", (New York 1942), Pathfinder Press, New York: 1972, S. 180 (archive.org) (marxists.org)
Leo Trotzki: "Über dialektischen Materialismus." Auszüge aus Trotzkis Notizbüchern von 1933-35. Deutsche Übersetzung aus dem Englischen von Wolfram Klein.  (marxists.org)  Erstveröffentlichung: "Trotsky’s Notebooks 1933-1935." Herausggegeben von Philip Pomper,  Columbia University Press: 1986 [Zitiert nach marxists.org]
Alvin Toffler, Heidi Toffler: "Überleben im 21. Jahrhundert. Aus dem Amerikanischen übertragen von Helmut Dierlamm, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart: 1994, S. 7 (Link)
Michael Walzer: "Gibt es den gerechten Krieg" Aus dem Amerikanischen übersetzt von Christiane Ferdinand, Klett-Cotta, Stuttgart: 1982 [S. ?]
Michael Walzer: "Just and unjust wars: a moral argument with historical illustrations".  Basic Books, New York: 1977, S. 29  (archive.org)
Marshall Berman: "The politics of authenticity; radical individualism and the emergence of modern society" Atheneum, New York: (1970) 1972, S. 311 (Link)


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Dank:
Ich danke Garson O'Toole sehr für die sorgfältige Dokumentation seiner Funde (quoteinvestigator.com) und Eduard Habsburg für die Frage nach dem Falschzitat.