Dienstag, 10. Oktober 2017

"Die Kunst ist der Statthalter der Utopie." Walter Bejnamin (angeblich)

Pseudo Max-Frisch quote.
Dieser Aphorismus wird in Zitatsammlungen sowohl Walter Benjamin als auch Max Frisch zugeschrieben, aber keiner von beiden hat ihn geprägt. Max Frisch unterschiebt den schönen Satz Walter Benjamin und Wikiquote unterschiebt den Satz irrtümlich Max Frisch. In Wahrheit stammt der Spruch aber fast in diesem Wortlaut von Theodor W. Adorno.

Varianten des Falschzitats:
  • "Die Kunst ist die Statthalterin der Utopie."  Walter Benjamin
  • "Art is the governor of utopia." Walter Benjamin
  • "Die Kunst ist Statthalter der Utopie." Walter Benjamin 
  • "Die Kunst ist der Statthalter der Utopie." Max Frisch
  • "Kunst ist der Statthalter der Utopie."
  • "Die Kunst ist der Stadthalter der Utopie."
  Max Frisch hat in der Meinung, er zitiere Walter Benjamin, einen Gedanken formuliert, den er Theodor W. Adorno verdankte.

Max Frisch:
  • "Ich liebe einen Satz von Walter Benjamin, dem deutsch-jüdischen Philosophen, der in Frankreich sich beim Einmarsch der Nazis umgebracht hat ein Satz zum Wesen der Kunst überhaupt: DIE KUNST IST DER STATTHALTER DER UTOPIE. Ist das nicht ein guter Satz? Nebenbei die größte Antwort auf Ihre vorherige Frage, was die Rolle des Künstlers sei."
    Max Frisch im Gespräch mit Anatolij Frenkin, 1984 (?) (Link)
Adorno verwendet das Bild vom Künstler als Statthalter seit 1953, als er einen Vortrag über Paul Valéry den Titel "Der Artist als Statthalter" gab.  Später spricht Adorno vom Geist "als Statthalter der Utopie", vom Finsteren neuer Kunst als Statthalter der Utopie, von Kunstwerken, die "Statthalter der nicht länger vom Tausch verunstaltete Dinge" sind und von Kunst, die "nicht nur der Statthalter einer besseren Praxis" sei.



Theodor W. Adorno:
  • "Der Artist als Statthalter."
    Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur I, S. 175 (Erstdruck 1953), GS 11, S. 114
  • "Die Nichtidentität des Geistes mit seinen Trägern ist dessen Bedingung und dessen Makel in eins. Sie bekundet, daß er nur inmitten des Bestehenden, von dem er sich loslöst, das vertritt, was anders wäre, und daß er es schändet, indem er es bloß vertritt. Im arbeitsteiligen Betrieb ist er der Statthalter der Utopie und verhökert sie, macht sie dem Existierenden gleich. Allzu existenziell ist der Geist, nicht zu wenig."
    Theodor W. Adorno: Balzac-Lektüre, Noten zur Literatur II, GS 11, S. 157
  • "Das Schwarz und Grau neuer Kunst, ihre Askese gegen die Farbe ist negativ deren Apotheose. Wenn in Selma Lagerlöfs außerordentlichen biographischen Kapiteln Mårbacka dem gelähmten Kind ein ausgestopfter Paradiesvogel, das nie Gesehene die Heilung bringt, so ist die Wirkung solcher erscheinenden Utopie unverwelkt, nichts ihresgleichen aber wäre mehr möglich, ihr Statthalter ist das Finstere. Weil aber der Kunst ihre Utopie, das noch nicht Seiende, schwarz verhängt ist, bleibt sie durch all ihre Vermittlung hindurch Erinnerung, die an das Mögliche gegen das Wirkliche, das jenes ver- drängte, etwas wie die imaginäre Wiedergutmachung der Katastrophe Weltgeschichte, Freiheit, die im Bann der Necessität nicht geworden, und von der un- gewiß ist, ob sie wird."
    Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, GS 7, S. 204
  • "Kunstwerke sind die Statthalter der nicht länger vom Tausch verunstalteten Dinge, des nicht durch den Profit und das falsche Bedürfnis der entwürdigten Menschheit Zugerichteten."
    Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, GS 7, S. 338
  • "Kunst ist nicht nur der Statthalter einer besseren Praxis als der bis heute herrschenden, son- dern ebenso Kritik von Praxis als der Herrschaft brutaler Selbsterhaltung inmitten des Bestehenden und um seinetwillen.
    "
    Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, GS 7, S. 26
  • "Ganz und gar von Menschen gemacht, steht es seinem Anschein nach nicht Gemachtem, der Natur, gegenüber. Als pure Antithesen aber sind beide aufeinander verwiesen; Natur auf die Erfahrung einer vermittelten, vergegenständlichten Welt, das Kunstwerk auf Natur, den vermittelten Statthalter von Unmittelbarkeit."
    Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, GS 7, S. 98

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Quellen:
 »Wie Sie mir auf den Leib rücken!«: Interviews und Gespräche von Max Frisch. Hrsg. von Thomas Strässle. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main: 2017 (Link)
Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Aus dem Nachlass herausgegeben (1970); unvollendet. Gesammelte Schriften in 20 Bänden, Band 7, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main: 2003, S. 26, 98, 338, 204 (Link)
Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur, Gesammelte Schriften in 20 Bänden, Band 11, Suhrkamp
Verlag, Frankfurt am Main: 1984, S. 114, 157, (238 f.)
Wikiquote: Max Frisch zitiert den vermeintlichen Benjamin-Aphorismus mehrmals, auch im "Schwarzen Qadrat" von 1981 (Link), (Link). Wikiquote und andere geben für die Zuschreibung des Zitats an Max Frisch als Quelle einen Artikel in der  ZEIT 20/1986 vom 12. November 1986 an, aber dort steht nur, Frisch halte  am "Ideal einer emanzipatorischen Kunst fest: 'Die Kunst ist der Stadthalter (!) der Utopie'". Wer dieses Ideal geprägt hat, steht in dieser Filmvorschau von Siegfried Schober nicht; deswegen ist dieser Artikel keine geeignete Quelle für das Zitat.
Friedhelm Zubke: "Pädagogik der Hoffnung." Königshausen & Neumann, Würzburg: 1996, ebook (Link)  
E-Mail von Walter Schwarz (Walter Benjamin Archiv, Akademie der Künste, Berlin) vom 10. Oktober 2017.
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Dank:
Ich danke Walter Schwarz und Erdmut Wizisla vom Berliner Walter Benjamin Archiv für die Bestätigung, dass das Zitat weder so noch so ähnlich in den Schriften Walter Benjamins vorkommt.