Samstag, 22. September 2018

"Nicht die Taten bewegen die Menschen, sondern die Worte über die Taten." Aristoteles (angeblich)

Dieser Aphorismus wird Caesar, Thukydides, Aristoteles, Heraklit und dem CDU-Politiker Heiner Geißler zugeschrieben, stammt aber in einer freien Übersetzung aus dem "Handbüchlein der stoischen Moral" (Encheiridion) des griechischen Philosophen Epiktet, das uns durch seinen Schüler Arrian überliefert wurde, da der Stoiker Epiktet selbst - so wie Sokrates - keine eigenen Schriften hinterlassen hat.

Mit der irrtümlichen Zuschreibung des Aphorismus an Aristoteles scheint der CDU-Politiker Heiner Geißler in der Rezension eines Buches des SPD-Politikers Peter Glotz im April 1984 im Magazin DER SPIEGEL begonnen zu haben:

  •  "Glotz hält das für die Strategie der 'Konservativen', die die Diskurse 'Staatsverschuldung', 'Anti-Staat' und  'Aufschwung' erfolgreich durchgesetzt hätten. Daran ist viel Wahres. Aristoteles: Nicht die Taten bewegen die Menschen, sondern die Worte über die Taten; und die eigentliche Macht der Opposition ist die Macht der Ideen und des Wortes."

    CDU-Generalsekretär Heiner Geißler über „Die Arbeit der Zuspitzung“ von SPD-Bundesgeschäftsführer Peter Glotz, DER SPIEGEL 18/1984, 30. April 1984 (Link)
Epiktets Aphorismus wendet sich ursprünglich an den Einzelnen, der an einem unvermeidbaren Unglück weder Anderen noch sich selbst die Schuld geben soll. Seit den 1980er Jahren wird der leicht variierte Satz unter Mißachtung des urspünglichen Zusammenhangs auf die politische Sphäre übertragen, und oft Aristoteles unterschoben.

Die Macht der Worte wird nicht individuell, zur Erreichung eines glücklichen Lebens interpretiert, sondern politisch, um die Öffentliche Meinung zu dominieren.


Epiktet, Encheiridion


  • V. Nicht die Dinge selbst, sondern die Meinungen von den Dingen beunruhigen die Menschen. So ist z.B. der Tod nichts Schreckliches, sonst wäre er auch dem Sokrates so erschienen; sondern die Meinung von dem Tod, daß er etwas Schreckliches sei, das ist das Schreckliche. Wenn wir nun auf Hindernisse stoßen, oder beunruhigt, oder bekümmert sind, so wollen wir niemals einen andern anklagen, sondern uns selbst, das heißt: unsere eigenen Meinungen. – Sache des Unwissenden ist es, andere wegen seines Mißgeschicks anzuklagen; Sache des Anfängers in der Weisheit, sich selbst anzuklagen; Sache des Weisen, weder einen andern, noch sich selbst anzuklagen.
    Epiktet: "Handbüchlein der stoischen Moral", 1, 5, übersetzt von Carl Conz  (Link)


Arthur Schopenhauer


  • "Nicht was die Dinge objektiv und wirklich sind, sondern was sie für uns, in unserer Auffassung, sind, macht uns glücklich oder unglücklich: Dies eben besagt Epiktets ταρασσει τους ανθρωπους ου τα πραγματα, αλλα τα περι των πραγματων δογματα (commovent homines non res, sed de rebus opiniones). |Nicht die Dinge, sondern die Meinungen über die Dinge erregen die Menschen.|" 
    Arthur Schopenhauer: "Parerga und Paralipomena: kleine philosophische Schriften," Bände 1-2, Verlag von A. W. Hahn, Berlin: 1851, S. 310 (Link);   (Projekt Gutenberg)

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Der Satz Epiktets, "tarassei tous anthrōpous ou ta pragmata, alla ta peri tōn pragmatōn dogmata", hat Schriftsteller und Philosophen seit zwei Jahrtausenden fasziniert. Michel de Montaigne hat sich das griechische Zitat auf einen Deckenbalken seines Studierzimmers einbrennen lassen und es steht als Motto auf der ersten Seite von Laurence Sternes Roman "The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman" und von Johann Wolfgang von Goethes Studie "Metamorphose der Pflanzen". 

Decke mit Zitaten in Michel de Montaignes Turmbibliothek.

Epiktets Gedanken über das richtige Leben haben Michel de Montaigne, Laurence Sterne, Goethe, Herder, Schopenhauer, Nietzsche und viele andere beeinflusst. 

http://www.tristramshandyweb.it/

Entwicklung des Zitats


1984
  • Epiktet meinte bereits, nicht die Taten erschütterten die Menschen, sondern die Worte über die Taten (329). Google

1984
  • Aristoteles: Nicht die Taten bewegen die Menschen, sondern die Worte über die Taten; und die eigentliche Macht der Opposition ist die Macht der Ideen und des Wortes. (Link)

1989
  • Geißler, formulierte einmal folgende Erkenntnis: "Allemal gilt, daß wer Begriffe und Gedanken bestimmt, auch Macht über die Menschen hat. Denn nicht die Taten sind es, die die Menschen bewegen, sondern die Worte über die Taten.
Heiner Geißler hat dieses Zitat 1984 Aristoteles unterschoben.


1991
  • Cäsar hat einmal geschrieben: Allemal gilt, daß, wer Begriffe und Gedanken bestimmt, auch Macht über Menschen hat. Denn nicht die Taten sind es, die die Menschen bewegen, sondern die Worte über die Taten . (Link)


2003
  • »Nicht die Taten sind es, welche die Menschen erschüttern, sondern die Worte über die Taten«, schrieb der griechische Feldherr und Historiker Thukydides schon vor über zweieinhalbtausend Jahren über den peleponnesischen Krieg. (Link)

2004
  • Indeed, it was an ancient Greek philosopher, Heraclitus, who observed that it is not the deeds that make people tremble, but the words about the deeds. (Link)

2005
  • Those who control concepts and thoughts also always have pouwer over people, because it is not deeds, but words about deeds that have the pouwer to move." Politicians, for example, regard that saying of Aristotle's as being of eristential ....

2018
  • It quoted Aristotle, 'It is not the deeds that move the people, but the words about the deeds' ..

Arthur Schopenhauer erinnert an eine ähnliche Stelle in  Ciceros "Gesprächen in Tusculum":
  • "Sie lehren ferner, daß alle Leidenschaften auf Grund eines Urteils und eines Meinens zustandekommen." (Link)

Nach der Quellenlage und meiner Kenntnis der Sekundärliteratur ist es sehr unwahrscheinlich, dass in den Schriften von Aristoteles, Caesar, Heraklit oder Thukydides ein ähnlicher Satz gefunden werden wird.  

 
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Artikel in Arbeit.
Quellen:
CDU-Generalsekretär Heiner Geißler über „Die Arbeit der Zuspitzung“ von SPD-Bundesgeschäftsführer Peter Glotz, DER SPIEGEL 18/1984, 30. April 1984 (Link)

Arthur Schopenhauer: "Parerga und Paralipomena: kleine philosophische Schriften," Bände 1-2, Verlag von A. W. Hahn, Berlin: 1851, S. 310 (Link);   (Projekt Gutenberg)
Marcus Tullius Cicero: "Gespräche in Tusculum / Tusculanae disputationes", Lateinisch - Deutsch, neu hrsg. von Olof Gigon, Artemis und Winkler, 7. Aufl., Düsseldorf, Zürich: 1998, Liber Quartus, S. 256 f.  (Link)
Epiktet: "Handbüchlein der stoischen Moral", 1, 5, übersetzt von Carl Conz  (Link) ; S. 56, Griechisch/Latein (Link)

» Montaigne (Ess. I. 14, S. 29)

Montaigne über Epiktet (Link)
Schopenhauer (Link)
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Dank
 Ich danke Florian Gallwitz sehr für seine Hinweise auf Epiktet und Goethe und Peter Plener für seinen Hinweis auf Tristram Shandys' Motto, sowie auch für seine Recherchen.