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Freitag, 3. Dezember 2021

"Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihren Schlächter selber." Kurt Tucholsky oder Bertolt Brecht (angeblich)


Pseudo-Bertolt-Brecht-Zitat.

In den letzten Jahrzehnten wurde dieser anonyme Spruch aus dem 19. Jahrhundert irrtümlich Bertolt Brecht, Kurt TucholskyWilhelm Busch oder Heinrich Heine zugeschrieben.

 Dieses Sprichwort taucht erstmals 1874 auf einem Schweizer Stimmzettel zur Wahl der Züricher Steuerkommission auf, was damals von vielen deutschen und österreichischen Zeitungen  amüsiert berichtet wurde. 

1874

  • "(Wahlhumor) Auf einem Stimmzettel zur Wahl in die Züricher Steuerkommission war zu lesen:
         'Nur die allergößten Kälber
         Wählen ihre Metzger selber.' "
    (Link)


Neues Fremden-Blatt, Abendausgabe, Wien, 27. Mai 1874, S. 2.

Der Witz des unbekannten Autors wurde in den Jahren darauf weit verbreitet und von Sozialdemokraten schon vor dem 1. Weltkrieg bei Wahlen oft als Slogan verwendet.

 Am häufigsten wird dieses Zitat heutzutage fälschlich Bertolt Brecht zugeschrieben:

 

Pseudo-Bertolt-Brecht-Zitat.


Varianten:

  • "Nur die allerdümmsten Kälber // wählen ihren Schlächter selber."
  • "Nur die allergrößten Kälber wählen ihre Metzger selber."
  • "Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Schlächter selber."
  • "Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber." 

Bertolt Brecht spielt in dem "Kälbermarsch", seiner Parodie des Horst-Wessel-Liedes, in dem 1943 entstandenen Drama "Schwejk im Zweiten Weltkrieg" auf das Sprichwort an, aber er hat es selber weder geprägt noch in einer der ihm irrtümlich zugeschriebenen Versionen verwendet.

 

Bertolt Brecht

  • "Hinter der Trommel her
    Trotten die Kälber
    Das Fell für die Trommel
    Liefern sie selber.
    Der Schlächter ruft:
    Die Augen fest geschlossen
    Das Kalb marschiert.
    In ruhig festem Tritt.
    Die Kälber, deren Blut im Schlachthaus schon geflossen
    Marschiern im Geist in seinen Reihen mit."
    _____



[Ist Ihnen ZITATFORSCHUNG etwas wert?]


_______

Quellen:

Bertolt Brecht: Stücke. Band 10 – Stücke aus dem Exil: Schweyk im Zweiten Weltkrieg; Der kaukasische Kreidekreis; Die Tage der Commune. Suhrkamp, Frankfurt am Main: (1957) 1959, S. 103
 
Neues Fremden-Blatt, Abendausgabe, Wien, 27. Mai 1874, S. 2 (Link)
19 Zitate in der Wiener Arbeiter Zeitung von 1895-1933 (anno)
 Arbeiter Zeitung, Wien, 17. März 1895, S. 8 (anno.)
 Arbeiter Zeitung, Wien, 16. April 1907, S. 2. 

Beispiele für falsche Zuschreibungen:


An Bertolt Brecht:


An  Wilhem Busch:
Michael Wolffsohn: Und wir stecken den Kopf in den Sand, Die Welt, 26. März 2019 (Link)

An Kurt Tucholsky:
Twitter

__________
Dank:
Ich danke Christian Seidl und Wolfgang Gruber für ihre Hinweise auf den Schweizer Stimmzettel.

Letzte Änderungen: 17/6 2020; 3/12 2021.

Montag, 30. März 2020

"Unsichtbar wird der Wahnsinn, wenn er nur genügend große Ausmaße annimmt." Bertolt Brecht (angeblich)

Entstelltes Bertolt-Brecht-Zitat.

  •  " 'Unsichtbar wird der Wahnsinn, wenn er genügend große Ausmaße angenommen hat.' Berthold [!] Brecht" [Im Falschzitat wird auch der Vorname Brechts oft falsch geschrieben.]
  • "Unsichtbar wird der Wahnsinn, wenn er nur genügend große Ausmaße annimmt. Bertold [!] Brecht"
  • "Unsichtbar macht sich die Dummheit, indem sie ungeheuer große Ausmaße annimmt." 
  • "Keynes würde nach dieser Haushaltsdebatte Brecht zitieren. Unsichtbar wird die Dummheit, wenn sie riesengroße Ausmaße angenommen hat."
  • "Die Dummheit macht sich unsichtbar, indem sie gigantische Ausmaße annimmt"
  • "Unsichtbar wird die Dummheit, wenn sie genügend große Ausmaße angenommen hat.“
-

Es wurde irrtümlich vermutet, das Falschzitat sei eine Variation eines anderen Satzes von Bertolt Brecht, den Brecht 1935 für seine Pariser Rede am Internationalen Schriftstellerkongress 'zur Verteidigung der Kultur' und für das Gedicht, "Wenn die Untat kommt, wie der Regen fällt" (Link), geprägt hat. 

Die Weltöffentlichkeit war im Frühling und Sommer 1933 über die Ermordungen von Sozialdmokraten, Gewerkschaftlern und Kommunisten und die Berichte von Folterungen in den ersten Konzentrationslagern in Hitler-Deutschland empört.

1935 machten die Grausamkeiten und Verbrechen der Nationalsozialisten in Deutschland fast keine internationalen Schlagzeilen mehr.

Darauf reagierte Bertolt Brecht mit seiner Pariser Rede und dem Gedicht: "Wenn die Untat kommt, wie der Regen fällt".


  • "Wenn die Verbrechen sich häufen, werden sie unsichtbar. Wenn die Leiden unerträglich werden, hört man die Schreie nicht mehr."
    Bertolt Brecht, 1935 

 

Bertolt Brecht: Rede am Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur,  Paris, 21. Juni 1935: 

 

  •  "Als wir zum ersten Male berichteten, daß unsere Freunde geschlachtet wurden, gab es einen Schrei des Entsetzens und viele Hilfe. Da waren hundert geschlachtet. Aber als tausend geschlachtet waren und des Schlachtens kein Ende war, breitete sich Schweigen aus, und es gab nur mehr wenig Hilfe.

    So ist es. Wenn die Verbrechen sich häufen, werden sie unsichtbar. Wenn die Leiden unerträglich werden, hört man die Schreie nicht mehr. Ein Mensch wird geschlagen, und der zusieht, wird ohnmächtig. Das ist nur natürlich. Wenn die Untat kommt, wie der Regen fällt, dann ruft niemand mehr halt."

    Bertolt Brecht, Kongressrede 1935 (Link)

Bertolt Brecht: "Wenn die Untat kommt, wie der Regen fällt", 1935:

 

  • "...
    Als es zum ersten Mal berichtet wurde, daß unsere Freunde langsam geschlachtet wurden, war da ein Schrei des Entsetzens.

    Da waren hundert geschlachtet. Aber als tausend geschlachtet waren und des Schlachtens kein Ende war, bereitete sich Schweigen aus.

    Wenn die Untat kommt, wie der Regen fällt, dann ruft niemand mehr: halt!

    Wenn die Verbrechen sich häufen, werden sie unsichtbar. Wenn die Leiden unerträglich werden, hört man die Schreie nicht mehr.
    ..."

    Bertolt Brecht: "Wenn die Untat kommt, wie der Regen fällt" (Link)

 __________
Quellen:
Google
Bertolt Brecht: Rede am Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur,  Paris, 21. Juni 1935 in: Die ZEIT 17/1985, "Ich fordere die Rückkehr zur Realität. Fast vergessene Dokumente: Der Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur in Paris 1935", 19. April 1985 (Link)
 Bertolt Brecht: Der Tui-Roman, zitiert nach: "Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?" Das Brecht-Brevier zur Wirtschaftskrise. Herausgegeben von Tom Kindt. Suhrkamp Verlag, Berlin: 2016, ebook (Link)
Bertolt Brecht: "Wenn die Untat kommt, wie der Regen fällt" (um 1935) in: Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main: 1981, S. 552 (Link) 
[Die Zeile, "dann ruft niemand mehr: halt!", wird in diversen Brecht-Ausgaben mit unterschiedlichen Satzzeichen wiedergegeben. Ich kann noch nicht sagen, welche Version korrekt ist.] 
Viktor Farkas:  "Vertuscht: wer die Welt beherrscht; mit Informationen zum 11. September 2001",  Argo Verlag. Marktoberdorf: 2002, S. 259 (Link).
wikiquote - Diskussion 

http://forum.spiritscape.de/viewtopic.php?t=773  



______-
Dank:
Ich danke RGazzari, Philip Spaß und Doron Rabinovici für Ihre Hilfe auf Twitter.



Artikel in Arbeit.







Donnerstag, 26. März 2020

"Der schlimmste Feind des wilden Elefanten ist der gezähmte Elefant." Bertolt Brecht (angeblich)

Das ist ein entstelltes, aber kein sinnentstelltes Zitat aus Bertolt Brechts 1939 verfasstem Vorwort zu seinem Theaterstück "Leben des Galilei".

 Korrekt lautet dieser Satz von Bertolt Brecht:

  • "Kein Reaktionär ist unerbittlicher als der gescheiterte Neuerer, kein Elefant ein grausamerer Feind der wilden Elefanten als der gezähmte Elefant."  (Link)

Bertolt Brecht: 'Leben des Galilei', Vorwort, 1939:


  • " Furchtbar die Enttäuschung, wenn die Menschen erkennen oder zu erkennen glauben, daß sie einer Illusion zum Opfer gefallen sind, daß das Alte stärker ist als das Neue, daß die 'Tatsachen' gegen sie und nicht für sie sind, daß ihre Zeit, die neue, noch nicht gekommen ist.

    Es ist dann nicht nur so schlecht wie vorher, sondern viel schlechter; denn sie haben allerhand geopfert für ihre Pläne, was ihnen jetzt fehlt, sie haben sich vorgewagt und werden jetzt überfallen, das Alte rächt sich an ihnen.

    Der Forscher oder Entdecker, ein unbekannter, aber auch unverfolgter Mann, bevor er seine Entdeckung veröffentlicht hat, ist nun, wo sie widerlegt oder diffamiert ist, ein Schwindler und Scharlatan, ach, allzusehr bekannt, der Unterdrückte und Ausgebeutete nun, nachdem sein Aufstand niedergeschlagen wurde, ein Aufrührer, der besonderer Unterdrückung und Bestrafung unterzogen wird.

    Der Anstrengung folgt die Erschöpfung, der vielleicht übertriebenen Hoffnung die vielleicht übertriebene Hoffnungslosigkeit. Die nicht in Stumpfheit und Teilnahmslosigkeit zurückfallen, fallen in Schlimmeres; die die Aktivität für ihre Ideale nicht eingebüßt haben, verwenden sie nun gegen dieselben!

    Kein Reaktionär ist unerbittlicher als der gescheiterte Neuerer, kein Elefant ein grausamerer Feind der wilden Elefanten als der gezähmte Elefant.

    Und doch mögen diese Enttäuschten immer noch in einer neuen Zeit, Zeit des großen Umsturzes, leben. Sie wissen nur nichts von neuen Zeiten." 
    Bertolt Brecht: 1963, S. 8 books.google.
 Die Metapher eines gezähmten Elefantes verwendet Bertolt Brecht noch einmal im Jahr 1945 in einem Epigramm zu einem Foto von zwei erschöpften Soldaten, der eine in Wehrmachtsuniform, der andere in der Uniform der sowjetischen Roten Armee:

Bertolt Brecht, 1945:

  • "Ein Brüderpaar seht, das in Panzern fuhr
    Zu kämpfen um des einen Bruders Land
    So grausam war seit je im Kampfe nur
    Zum Bruder der gezähmte Elefant."
    (Link)

Bertolt Brecht, in dessem Werk Elefanten öfters auftauchen, ist auf die Metapher von dem gezähmten Elefanten wahrscheinlich durch eine Geschichte von Rudyard Kipling, den Bertolt Brecht verehrte, angeregt worden.

Rudyard Kipling erzählt in der Kurzgeschichte "Toomai of the elephants" von dem alten Elefanten Kala Lag, der 47 Jahre im Dienste der Regierung stand, und der als Mithelfer bei der Zähmung und Abrichtung wilder Elefanten besonders grausam war (Link).


_______
Quellen:

Bertolt Brecht: "'Leben des Galilei', Vorwort", in: Werner Hecht: Materialien zu Brechts "Lebens des Galiliei". Suhrkamp, Frankfurt am Main: 1963, S. 8 books.google. ; Gesammelte Werke Bd.17, Schriften Zum Theater III, Anmerkungen zu Stücken und Aufführungen 1918-1956,  Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main: 1967, S. 1105.
Welf Kienast: "Kriegsfibelmodell: Autorschaft und 'kollektiver Schöpfungsprozess' in Brechts Kriegsfibel", Dissertation, Palaestra, Bd. 313,  Vandenhoeck u. Ruprecht,  Göttingen: 2001, S. 144f.; 255  (Link)
 Rudyard Kipling:  "Toomai of the elephants"

/books.google
archive.org


Artikel in Arbeit.

Sonntag, 25. August 2019

"Sage mir nicht, was du glaubst, sage mir was sich ändert, weil Du glaubst." Bertolt Brecht (angeblich)

Dieses angebliche Bertolt-Brecht-Zitat ist erst im 21. Jahrhundert entstanden und offensichtlich die etwas verkürzte und entstellte Wiedergabe eines Satzes von Bertolt Brecht aus dessen Sammlug von Parabeln und Weisheiten mit dem Titel: "Geschichten vom Herrn Keuner".

Verfasst zwischen 1926 und 1956; vollständig publiziert erst im Jahr 2000.



Bertolt Brecht, Geschichten vom Herrn Keuner:

  • "Einer fragte Herrn K., ob es einen Gott gäbe. Herr K. sagte: 'Ich rate dir, nachzudenken, ob dein Verhalten je nach der Antwort auf diese Frage sich ändern würde. Würde es sich nicht ändern, dann können wir die Frage fallenlassen. Würde es sich ändern, dann kann ich dir wenigstens noch so weit behilflich sein, daß ich dir sage, du hast dich schon entschieden: Du brauchst einen Gott.' " (Link)
  Die Kunstfigur "Herr Keuner" redet wie ein alter chinesischer Lehrer. Bertolt Brecht hat diesem Alter Ego, das so wenig wie er selbst einen Gott braucht, nicht viele Eigenschaften verliehen. Herr Keuner ist durch und durch vernünftig, etwas kalt und - laut Walter Benjamin - ein bisschen unsympathisch.


_________
Quellen:
Bertolt Brecht: Geschichten von Herrn Keuner. In: Werke, Prosa3, Aufbau Verlag, Berlin Weimar: 1995, S. 18 und 438
Walter Benjamin über Herrn Keuner (Link)


Beispiel für das entstellte Zitat:
(Link)
______
Dank:
Ich danke @Xoph für die Frage.

Mittwoch, 3. Oktober 2018

"Wir sind alle Ausländer — fast überall!" Unbekannt


Dieser von einer unbekannten Person geprägte Slogan ist in den 1980er Jahren in Deutschland als Antwort auf rechte "Ausländer raus!"-Parolen entstanden.
Klaus Staeck, Plakat 1986, Galerie für Moderne Kunst und Plakatkunst.

Der Spruch "Wir sind alle Ausländer ..." wurde vor dem Aufkommen des Internets auf Hauswänden, Plakaten, Stickers, Transparenten und schon 1992 kommerziell auch auf T-Shirts verbreitet. 1988 erschien das erste Buch mit diesem Graffiti-Spruch als Titel.

Um 2007 beklagt man sich, dass dieser Spruch Goethe, Tucholsky und anderen berühmten Schriftstellern unterschoben wird.

Doch im Jahr 2018 sind diese falschen Zuschreibungen fast gänzlich wieder aus der digitalen Öffentlichkeit verschwunden.

Viele Kuckuckszitate halten sich über Jahrzehnte; diese Kuckuckszitate hatten interessanter Weise anscheinend nur eine kurze Lebenszeit.

Nur noch sehr vereinzelt findet man falsche Zuschreibungen an Bertolt Brecht oder Karl Valentin.

Varianten



Friedhelm Greis hat in seinem  Tucholsky-Sudelblog auf einen ähnlichen Gedanken bei Kurt Tucholksy hingewiesen:


Kurt Tucholsky: "Nationales"

  • "Man ist in Europa ein Mal Staatsbürger und zweiundzwanzig Mal Ausländer. Wer weise ist: dreiundzwanzig Mal."
    Peter Panter, "Die Weltbühne", 25. November 1924 (Link)

Ralf Bülow verdanke ich den Hinweis auf Karl Valentins wunderbares Dramolett "Die Fremden", in dem Valentin das Thema "Wir sind alle Ausländer" im Jahr 1940 mit seinem unvergleichlichen Wortwitz umkreist:

Karl Valentin: "Die Fremden"

  • "Valentin: Nein! – Ein Fremder bleibt nicht immer ein Fremder.
    Professor:
    Wieso?
    Valentin:
    Fremd ist der Fremde nur in der Fremde."
    Karl Valentin, 1940 (Link)
    
________
Quellen:
1988: Manfred Budzinski (Hg.) "Alle Menschen sind Ausländer. Fast überall." Ein Aktionshandbuch Mit Beiträgen von Peter Bick, Manfred Budzinski etc., Lamuv-Verlag, Göttingen: 1988
Kurt Tucholksy (Peter Panter): "Nationales", Die Weltbühne, XX. Jahrgang, 25. November 1924, Nr. 48, S. 804 (Link)
Karl Valentin: "Sämtliche Werke". Band 4, Piper Verlag, München 1994; hier zitiert nach dem Nachdruck in der TAZ, 9. April 2015, S. 5 (Link) 
Friedhelm Greis: "Wir sind alle Zitatgeber", 2007, Sudelblog, (Link);  Angebliche Tucholsky-Zitate
geschichtsforum.de/

Beispiele für falsche Zuschreibungen:
Karl Valentin: "Handbuch der Ausländer- und Zuwanderungspolitik: von Afghanistan bis Zypern" Hrsg. von von Wolfgang Gieler, LIT Verlag, Münster Hamburg London: 2003, S. 17 books.google
Bertolt Brecht: meinbezirk.at/tag/aai-wien

....

_______
Dank:
Ich danke Ralf Bülow sehr für den wichtigen Hinweis auf Karl Valentin.

Freitag, 17. August 2018

"Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin." Bertolt Brecht (angeblich)

Dieser wohl beliebteste Slogan der Friedensbewegung wurde durch einen Artikel der Autorin Charlotte Keyes ab 1966 in Amerika in der Version "Suppose They Gave a War and No One Came"  berühmt, und kam Ende der 1970er Jahren auch in Deutschland auf, wo er bald irrtümlich Bertolt Brecht untergeschoben wurde. 

Der einflussreiche Sprachkritiker und Sprachstillehrer Wolf Schneider zum Beispiel illustrierte mit diesem amerikanischen Zitat irrtümlich die Größe von Bertolt Brechts Sprache, "in der gemeisselten Einfachheit, die er an Luther schulte":

2008, Pseudo-Bertolt-Brecht-Zitat:

  • "Der Dichter Bert Brecht aber hat für die deutsche Sprache und durch sie Grosses geleistet: zum einen in der gemeisselten Einfachheit, die er an Luther schulte ('Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin'), zum anderen in der frechen, zynischen Kraft - von der 'Dreigroschenoper' [...] bis zu seinem 'Zweiten Psalm' ".

    Wolf Schneider: "Bert Brecht, begnadetes Scheusal",  NZZ, 1. Juli 2008 (Link)
Grafik von Johannes Hartmann, Hamburg 1981.

1981 wird diese pazifistische Devise durch die Grafik des Hamburger Designers Johannes Hartmann in ganz Deutschland populär, und obwohl Ralf Bülow 1983 im 'Sprachdienst', Siegfried Unseld 1991 in einem Leserbrief an die FAZ und schließlich Christoph Drösser 2002  in der ZEIT-Kolumne "Stimmt's?" und viele andere darauf hinwiesen, dass der Spruch auf den amerikanischen Lyriker Carl Sandburg zurückgeht und mit Bertolt Brecht nichts zu tun hat, wird der Slogan auch 2018 noch Bertolt Brecht untergeschoben.


In einer längeren Fassung wurden diesem antimilitaristischen Spruch Zeilen aus einem Gedicht Bertolt Brechts angehängt und der gesamte Text Bertolt Brecht irrtümlich zugeschrieben. 


Pseudo-Bertolt-Brecht-Zitat:

  • "Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin. (1)
    Dann kommt der Krieg zu Euch! (2)

    Wer zu Hause bleibt, wenn der Kampf beginnt, und läßt andere kämpfen für seine Sache, der muß sich vorsehen: Denn wer den Kampf nicht geteilt hat, der wird teilen die Niederlage. Nicht einmal Kampf vermeidet, wer den Kampf vermeiden will, denn er wird kämpfen für die Sache des Feindes, wer für seine eigene Sache nicht gekämpft hat." (3)

Weder der erste Satz (1 'Stell dir vor ..') noch der zweite Satz (2 'Dann kommt..') dieses Slogans hat etwas mit Bertolt Brecht zu tun, wobei der zweite Satz völlig der pazifistischen Aussage des ersten widerspricht.


(1): "Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin."

Autor: Carl Sandburg, verändert von J. Newman, popularisiert von Charlotte Keyes (Link).

"Suppose They Gave a War and No One Came", war ein Slogan amerikanischer Hippies und Kriegsdienstverweigerer, von denenen einige lieber Jahre im Gefängnis verbrachten als im  Krieg gegen Vietnam zu kämpfen. 

Charlotte Keyes, die Mutter eines dieser Kriegsdienstverweigerer, hat 1966 den Slogan in einem Artikel über ihren Sohn populär gemacht (pdf)
 
Sie hat den Slogan von dem Ausspruch eines kleinen Mädchens aus einem 300 Seiten langen Gedicht von Carl Sandburg abgeleitet, "Sometime they'll give a war and nobody will come" (Little girl), der ihr durch einen Leserbrief in der Version, "Suppose They Gave a War and No One Came", in Erinnerung gebracht wurde. 

Ich folge hier den Recherchen ihres anderen Sohnes, Ralph Keyes, aus seinem Standardwerk "The Quote Verifier: Who Said What, Where, and When" (Link).

 1936

1961
  •  "Suppose they gave a war and no one came?” James R. Newman zitiert und verändert Sandburgs Satz in einem Leserbrief an die Washington Post.
1966
  • "Suppose they gave a war and no one came?” Charlotte E. Keyes zitiert Newmans verändertes Sandburg-Zitat.
1970
1981
  •  "Stell dir vor, es kommt Krieg, und keiner geht hin." Grafik von Johannes Hartmann
 

(2): Dann kommt der Krieg zu Euch!


Autor: Wahrscheinlich ein unbekannter Schweizer in einer Schweizer Militärzeitung.
Diese Satz hebt die antimilitaristische Aussage des ersten Satzes auf.


(3): "Wer zu Hause bleibt, wenn der Kampf beginnt ...."

Autor: Bertolt Brecht

  • "Wer zu Hause bleibt; wenn der Kampf beginnt
    ...
    Wer zu Hause bleibt, wenn der Kampf beginnt
    Und läßt andere kämpfen für seine Sache
    Der muß sich vorsehen: denn
    Wer den Kampf nicht geteilt hat
    Der wird teilen die Niederlage.
    Nicht einmal den Kampf ver
    meidet
    Wer den Kampf vermeiden will: denn
    Es wird kämpfen für die Sache des Feinds
    Wer für seine eigene Sache nicht gekämpft hat."

    Bertolt Brecht: "Koloman Wallisch Kantate" (Link)
--

  1968

 The Monkees: "Zor and Zam"

 by Bill Chadwick and John Chadwick.

."The king of Zor, he called for war
And the king of Zam, he answered.
... 
...
Two little kings playing a game.
They gave a war and nobody came."



_
 


______
Quellen:


Charlotte E. Keyes: "Suppose They Gave a War and No One Came", October 1966 (pdf)
Ralph Keyes: "The Quote Verifier: Who Said What, Where, and When." St. Martin's Griffin, New York: 2006, S. 239 (Link)
Carl Sandburg: The Complete Poems of Carl Sandburg. Revised and Expanded Edition. Introduction by Archibald McLeish. Harcourt, San Diego/ New York/ London: 1970, S. 464 (Link)
Siegfried Unseld: Leserbrief, FAZ 12. März 1991 (Link)
Ralf Bülow: "Stell Dir vor, es gibt einen Spruch ...", Der Sprachdienst Jg. 27, 1983, S. 97-100 
Christoph Drösser: "Stimmt's? Von Brecht? Unvorstellbar." Die ZEIT 31. Januar 2002 (Link)
  Johannes Hartmann: "Die rätselhafte Parole: 'Stell Dir vor, es ist Krieg, und Keiner geht hin'", Der SPIEGEL, EINESTAGES, 6. Februar 2016 (Link)
Bertolt Brecht: "Kolomann Wallisch Kantate" (Link) (Link), in: Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Band 14 (Gedichte 4), Berlin, Weimar und Frankfurt: 1993, S. 262–270, S. 267

Beispiele für falsche Zuschreibungen: 

2008: Wolf Schneider: "Bert Brecht, begnadetes Scheusal", Neue Zürcher Zeitung, NZZ, 1. Juli 2008 (Link) 
2011: Wolf Schneider:" Deutsch für junge Profis: Wie man gut und lebendig schreibt" Rowohlt: 2011, rororo rowohlt digitalbuch (Link)

2018: Frank Schmidt-Wyk: "Politikwissenschaftler Herfried Münkler: Mehr Besonnenheit im Umgang mit Russland", Interview, "Lampertheimer Zeitung", 31. März 2018   (Link);
2013: unzensuriert.at   


Artikel in Arbeit.
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Letzte Änderungen: 6/1 2022 (neu: NZZ);  19/5 2022.


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ANHANG

Wolf Schneider: "Deutsch für junge Profis: Wie man gut und lebendig schreibt" 2011 (Link)