Donnerstag, 16. November 2023

"Manchmal muss man töten, um das Morden zu verhindern." Pseudo-Albert-Camus-Zitat

Der Historiker Michael Wolffsohn sagte am 31. Oktober 2023 bei Markus Lanz im ZDF: 

  • "Manchmal muss man töten, um das Morden zu verhindern. Das ist kein Satz, den ich erfunden habe, sondern der große Menschenfreund, wirklicher Dichter und Denker Albert Camus,  Literatur- und Nobelpreisträger, und der bezog das nicht zuletzt in Bezug auf den Kampf gegen Hitler-Deutschland."
Dieses angebliche Albert-Camus-Zitat wurde schon am nächsten Tag das erste Mal auf Twitter wiederholt:

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Das Zitat könnte aus einer Fehlerinnerung an einen Satz des Arztes Diego in Albert Camus' Theaterstück "L’état de siège" (Der Belagerungszustand) entstanden sein:

Der Arzt Diego, der sich nicht den Despoten in dem Stück "Der Belagerungszustand" unterwerfen will, sagt zu der allegorischen Figur "Die Pest":

  • "Man muss töten, um den Mord zu beseitigen, muss Gewalt üben, um das Unrecht abzuschaffen." (Link)
  • "Il faut tuer pour supprimer le meurtre, violenter pour guérir l’injustice." (Link)
Aber wie aus dem Kontext klar wird, identifiziert sich die Bühnenfigur Diego nicht mit der Aussage dieses Satzes. Im Gegenteil. 

Der Arzt Diego findet diese immer wieder vorgebrachte Rechtfertigung für Kriege lächerlich: "So geht es seit Jahrhunderten", sagt er im nächsten Satz.

Er spricht die alte Maxime "Man muss töten, um .." nur aus, um sich von ihr zu distanzieren.


Albert Camus: "Der Belagerungszustand" (Link)

Es wäre falsch, das Zitat "Manchmal muss man töten, um das Morden zu verhindern" der Bühnenfigur Diego zuzuschreiben, ohne daran zu erinnern, dass Diego dieser Aussage widerspricht.

Schon gar nicht kann man diesen verkürzten Text der Rollenprosa aus einem Theaterstück dem Autor Albert Camus unterjubeln.
 
Auch bei einem korrekten Wortlaut des Zitats müsste der Kontext erwähnt und nicht als Meinung des Autors verbreitet werden.



Artikel in Arbeit.
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Quellen:
ZDF, Markus Lanz vom 31. Oktober 2023: "Darf man töten um das Morden zu beenden?" 
Zu Gast: FDP-Vize Johannes Vogel, Publizist Michael Wolffsohn und Iran-Expertin Gilda Sahebi; 06:20
Ausschnitt der ZDF-Sendung vom 31. Oktober 2023
Albert Camus: L'état de siège - spectacle en trois parties, Gallimard, Paris: 1948, S. 212 (Link)
Albert Camus: Der Belagerungszustand. Übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel, in: Alber Camus: Sämtliche Dramen, Rowohlt Verlag ebook (Link)
Michael Wolffsohn: Tacheles: Im Kampf um die Fakten in Geschichte und Politik. Verlag Herder, Feiburg im Breisgau: 2020 ebook (ohne Seitenzahlen) (Link)


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Dank:

Ich danke Arno Tator (@Arnotationen) für den Hinweis auf Albert Camus' Stück "L’état de siège" (Der Belagerungszustand).



Nachtrag 20/11 2023
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ANHANG

Schon in seinem 2020 erschienenen Buch "Tacheles: Im Kampf um die Fakten in Geschichte und Politik" zitierte Michael Wolffsohn drei Mal in unterschiedlichen Varianten den Satz aus "Der Belagerungszustand" und präsentierte ihn jedesmal ohne den notwendigen Kontext als Meinung des Autors Albert Camus:

  1. "'Man muss töten, um den Mord abzuschaffen. Gewalt tun, um das Unrecht zu beseitigen', lässt der große Schriftsteller und Menschenfreund Albert Camus einen der Akteure im 'Belagerungszustand' (Teil3 ) sagen."
  2. "oder, wie bei Camus: 'Manchmal muß man töten, um den Mord abzuschaffen.'"
  3. "Töten ist eben nicht Morden, oder, mit Albert Camus (in 'Der Belagerungszustand'): 'Man muss [manchmal; M.W.] töten, um den Mord abzuschaffen. Gewalt tun, um das Unrecht zu beseitigen.'"
Michael Wolffsohn: Tacheles: Im Kampf um die Fakten in Geschichte und Politik. Verlag Herder, Feiburg im Breisgau: 2020 ebook (ohne Seitenzahlen) (Link)