Mittwoch, 27. April 2022

"Der Witz ist die letzte Waffe des Wehrlosen." Sigmund Freud (angeblich)

Pseudo-Sigmund-Freud-Zitat auf Twitter.

Dieses Bonmot ist in den Schriften Sigmund Freuds weder so noch so ähnlich zu finden, wie auch Kenner der Materie wie der deutsche Autor Eike Christian Hirsch[1] und der amerikanische Kulturhistoriker Louis Kaplan[2] festgestellt haben.

Kurze Geschichte der Metapher von der "Waffe der Wehrlosen": 

 Die jüdische deutsche Autorin Fanny Lewald lässt in ihrem 1843 erschienen Roman "Jenny", in dem auch judenfeindliche Aussagen dokumentiert sind, eine Pfarrerin sagen, der schrille  jüdische Witz sei "die letzte Waffe der Sklaven": 

1843

  • "Was mir an Jenny mißfällt, ist das jüdische Element in ihr. Der Witz dieses Volkes ist eigenthümlich und fürchterlich, er hat mich oft erschreckt, gepeinigt, wenn mir mitten in dem Kreise des Meierchen Hauses wohl war, wie es Einem bei so braven, gebildeten Menschen wol werden muß. Ihr Witz hat etwas von dem Stilet eines Banditen, der aus dem Verborgenen hervorstürzt und den Wehrlosen um so sicherer damit trifft. Er ist die letzte Waffe des Sklaven, dem man jede andere Waffe gegen seinen Unterdrücker genommen hat, die feige Rache für erduldete tiefempfundene Schmach."
    Fanny Lewald: "Jenny." Erster Theil, F.A. Brockhaus, Leipzig: 1843, Pfarrerin, S. 179 (Link)
1852
  • "Der Witz ist bekanntlich die Waffe des Unterdrückten, des Sclaven."
    Deutsche Museum. Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben. 2. Jahrgang, Januar bis Juni 1852, S. 146  (Link)
1856
  • "wie ja Humor, Witz und Satyre die beliebteste Waffe des Waffenlosen und Schwachen sind"
    Wiener Zeitung, 20. Juni 1856, S. 1 (Link)
1860
  • "der kaustische Witz, als die Waffe des Schwachen"
    Wiener Zeitung, 26. Januar 1860, S. 365 (Link)
1861
  • "Nun ist zwar der politische Witz die gewöhnliche Waffe der unterliegenden Parteien"
    Morgen-Post, 7. April 1861, S. 1 (Link)

Der zu seiner Zeit populäre Heidelberger Philosoph Kuno Fischer definierte[3] 1871 den Witz als "spielendes Urteil", das den geistreich schnellen französischen sowie den Berliner Witz charakterisiere und ein souveränes Selbstgefühl verrate. 

Bei Leuten allerdings, die im Alltag ausgelacht, verspottet und geringgeachtet werden (Fischer nennt als Beispiele Bucklige und Juden), verwandle sich der Witz durch ihre ständige Gereiztheit im "Kampf ums Dasein" zur Waffe[4] (Link), die nicht kitzeln, sondern durchbohren soll.

Im Jahr 1905 nannte der österreichische Autor J.J. David Ironie, "die letzte Waffe der Wehrlosen"[5] und 1929 bezeichnete Joseph Roth in seinem Roman "Rechts und Links" die Tränen als "die einzige Waffe der Wehrlosen.(Link)"[6]

1905

  • "Ein Mensch, der ohne eigene Schuld aus seiner Bahn geschleudert worden ist durch unerhörten Verrat der Nächsten. Grundzug: eine fast leidenschaftliche Ironie, die letzte Waffe der Wehrlosen, die bespotten, was sie nicht zu bezwingen vermögen."

     J.J. David: "Mitterwurzer" Schuster u. Loeffler, Berlin u. Leipzig: 1905, S. 56 (Link)

1960 nannte Salcia Landmann in ihrem viel gelobten und von dem Wiener Autor Friedrich Torberg kritisierten Bestseller "Der jüdische Witz" den Witz  "die letzte Waffe des Geschlagenen, - dem der heroische Kampf, der direkte Weg versagt ist":[7] 

  • "Die Häufigkeit, Schärfe und Tiefe des jüdischen Witzes haben wir aus der besonderen Wehrlosigkeit der Exiljuden leicht erklären können. Der Witz ist die letzte Waffe des Geschlagenen, - dem der heroische Kampf, der direkte Weg versagt ist."

    Salzia Landmann: "Der jüdische Witz. Soziologie und Sammlung
    ."  1960, S. 92 (Link)

Für die jahrhundertelang unbewaffneten europäischen Juden sei der Witz ihr einziges Kampfmittel gewesen: "Der Witz ist die einzige Waffe des wehrlosen Juden gegen seine innere und äußere Vergewaltigung." (Link)

Und 1972 schrieb die Philosophin Salcia Landmann in ihrem Buch "Neues von Salcia Landmann. Jüdischer Witz" ihre These über den Witz als Waffe der wehrlosen Juden erstmals Sigmund Freud zu:

  • "Der jüdische Witz ist formal und inhaltlich jedem anderen Volkswitz überlegen. Und zwar aus folgenden Gründen: Witz im allgemeinen erklärt Sigmund Freud als die letzte Waffe des völlig Wehrlosen. Voraussetzung hierbei ist allerdings, daß der Betreffende sein Leid nicht als Gottesschickung empfindet, mit der man sich innerlich protestlos abzufinden hat. Daher auch die relativ spärliche Witzliteratur der Juden im Mittelalter, als sie noch alle gläubig waren ."[8]
    "Neues von Salcia Landmann. Jüdischer Witz." Herbig, München: 1972, S. 9
    (Link)

Diese falsche Zuschreibung an Sigmund Freud hat sich in den folgenden Jahrzehnten langsam verbreitet[9] und kommt heute auch in Fachbüchern vor:

  • "Der Witz sei die letzte Waffe der Wehrlosen, meinte Sigmund Freud zu einer Zeit, als die Schoah noch nicht vorhergesehen wurde." (Link)

Sigmund Freud

Sigmund Freud geht in seiner berühmten Studie „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten“ auf die oft übermäßig selbstkritischen jüdischen Witze und die plumpen antisemitischen Judenwitze ein, spricht aber nirgends von der Wehrlosigkeit der Juden und dem Witz als Waffe.

Auch in späteren Schriften Sigmund Freuds findet man zwar Wendungen wie „Kranksein als einzige Waffe in der Lebensbehauptung“, oder die Krankheit einer Ehefrau als “Waffe im Kampfe gegen den überstarken Mann“, aber nirgendwo schreibt Sigmund Freud etwas über den Witz als Waffe der wehrlosen Juden.

  • „Es sind Geschichten, die von Juden geschaffen und gegen jüdische Eigentümlichkeiten gerichtet sind. Die Witze, die von Fremden über Juden gemacht werden, sind zu allermeist brutale Schwänke, in denen der Witz durch die Tatsache erspart wird, daß der Jude den Fremden als komische Figur gilt. 

    Auch die Judenwitze, die von Juden herrühren, geben dies zu, aber sie kennen ihre wirklichen Fehler wie deren Zusammenhang mit ihren Vorzügen, und der Anteil der eigenen Person an dem zu Tadelnden schafft die sonst schwierig herzustellende subjektive Bedingung der Witzarbeit.

    Ich weiß übrigens nicht, ob es sonst noch häufig vorkommt, daß sich ein Volk in solchem Ausmaß über sein eigenes Wesen lustig macht.“[10]

    Sigmund Freud: „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten.“ Deuticke, Wien: 1905, S. 93 (Link)

Sigmund Freud charakterisierte das jüdische Volk nicht als wehrlos, sondern als widerstandsfähig, übermäßig selbstkritisch, vornehm und optimistisch:

  • "Man weiß, von allen Völkern, die im Altertum um das  Becken des Mittelmeers gewohnt haben, ist das jüdische Volk nahezu  das einzige, das heute dem Namen und wohl auch der Substanz nach noch besteht. Mit beispielloser Widerstandsfähigkeit hat es Unglücksfällen und Mißhandlungen getrotzt, besondere Charakterzüge entwickelt und sich nebstbei die herzliche Abneigung aller anderen Völker erworben.

    Woher diese Lebensfähigkeit der Juden kommt und wie ihr Charakter mit ihren Schicksalen zusammenhängt, davon  möchte man gerne mehr verstehen. Man darf von einem Charakterzug der Juden ausgehen, der ihr  Verhältnis zu den anderen beherrscht.

    Es ist kein Zweifel daran, sie haben eine besonders hohe Meinung von sich, halten sich für  vornehmer, höher stehend, den anderen überlegen, von denen sie auch durch viele ihrer Sitten geschieden sind. Dabei beseelt sie eine besondere Zuversicht im Leben, wie sie durch den geheimen Besitz eines kostbaren Gutes verliehen wird, eine Art von Optimismus; Fromme würden es Gottvertrauen nennen."

    Sigmund Freud: "Der Mann Moses und die monotheistische Religion", 1939

 

 



Fanny Lewald: "Jenny." Erster Theil, F.A. Brockhaus, Leipzig: 1843, Pfarrerin, S. 179 (Link)
Deutsche Museum. Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben. 2. Jahrgang, Januar bis Juni 1852, S. 146 
(Link)

Wiener Zeitung, 20. Juni 1856, S. 1 (Link)  
Wiener Zeitung, 26. Januar 1860, S. 365 (Link)
 

Morgen-Post, 7. April 1861, S. 1 (Link)

[1] Eike Christian Hirsch: „Der Witzableiter oder Schule des Lachens.“ C.H. Beck Verlag, München: 2001, S. 264 (books.google)

[2] Louis Kaplan. "Vom jüdischen Witz zum Judenwitz: Eine Kunst wird entwendet." Die Andere Bibliothek, Berlin: 2021, S. 53

[3] Kuno Fischer: „Ueber die Entstehung und die Entwicklungsformen des Witzes.“ Zwei Vorträge. Verlagsbuchhandlung von Friedrich Wassermann, Heidelberg: 1871, S. 32

[4] Kuno Fischer: „Ueber die Entstehung und die Entwicklungsformen des Witzes.“ Zwei Vorträge. Verlagsbuchhandlung von Friedrich Wassermann, Heidelberg: 1871, S. 43f.

[5] J.J. David: "Mitterwurzer" Schuster u. Loeffler, Berlin u. Leipzig: 1905, S. 56

[6]  Joseph Roth: "Rechts und Links" in: Joseph Roth: Werke, Band 4, Romane und Erzählungen 1916-1929, Kiepenhauer und Witsch, 1989, S. 754 (Link)

[7]Salcia Landmann: „Der jüdische Witz. Soziologie und Sammlung.“ Geleitwort von Carlo Schmid. Walter, Olten: 1960, S. 92 (Link)

[8] "Neues von Salcia Landmann. Jüdischer Witz." Herbig, München: 1972, S. 9

[9] W. B. van der Grijn Santen: "Die Weltbühne und das Judentum: Eine Studie über das Verhältnis der Wochenschrift 'Die Weltbühne' zum Judentum, hauptsächlich die Jahre 1918-1926 betreffend." Königshausen und Neumann, Würzburg: 1994, S. 96 (books.google) Anmerkung 60: „Zitiert nach Landmann, Jüdische Witze, Nachlese, S. 16f.“

[10] Sigmund Freud: „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten.“ Deuticke, Wien: 1905, S. 93

Sigmund Freud: "Der Mann Moses und die monotheistische Religion", in: Sigm. Freud: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Sechzehnter Band. Werke aus den Jahren 1932 - 1939. Unter Mitwirkung von Marie Bonaparte, Prinzessin Georg von Griechenland, herausgegeben von Anna Freud, E. Bibring, W. Hoffer, E. Kris und O. Isakower. Imago Publishing, London: 2. Auflage 1961,  S. 212 (freud-online.de/Texte/PDF/freud_werke_alle_bd.pdf)

 

 

Artikel in Arbeit. 

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Dank:

Ich bin Ralf Bülow  für seinen Hinweis auf Eduard von Hartmann und Arno Tator für seinen Hinweis auf Fanny Lewald sehr dankbar.