Pseudo-Joachim-Ringelnatz-Zitat (Facebook, SWR2, 17/11 2021). |
Dieses alte Sprichwort stand schon im 18. Jahrhundert in Schulbüchern und wurde seitdem in vielen Zeitungen und Büchern immer wieder zitiert und erst im 21. Jahrhundert wird es fälschlich Joachim Ringelnatz zugeschrieben.
Die früheste Variante dieses Sprichworts hat Moritz Jacob in einer 1698 erschienenen Sammlung von hundert aus "welschen Lust- und Schauspielen" ausgewählten Sprichwörtern gefunden.
Diese Sprichwörtersammlung steht in einem Gedichteband des Pädagogen, Philologen und Schuldramatikers Christian Gryphius, der heute noch weniger bekannt ist als sein Vater, der Barockdichter und Dramatiker Andreas Gryphius.
Christian Gryphius: "Hundert aus welschen Lust- und Schauspielen genommene Sprüch-Wörter", Nr. 91:
1698
- "Es heisset nunmehr immer/
Die Welt wird täglich schlimmer;
Doch nein: die Welt bleibt immer/
Die Menschen werden schlimmer.
Christiani Gryphii: "Poetische Wälder" 1698, S. 833 (Link) |
Im Jahr 1712 taucht eine Variante des Sprichworts in einem Poetischen Handbuch für Anfänger als Beispiel für Alexandrinische Verse auf, die als "Jambische Verse mit sechs Füssen oder Tritten" bezeichnet werden:
1712
- "Man saget insgemein, die Welt wird täglich schlimmer:
Ich halt es nicht davor, mich deucht die Welt bleibt immer,
Das aber ist gewiß, die Menschen werden schlimmer."
Johann Hübners Neu-vermehrtes Poetisches Hand-Buch,1712, S. 42 (Link). |
- "gemäß dem gemeinen Sprüchlein: man saget noch immer, die Zeiten werden schlimmer. Nein: nein: Die Menschen seynd schlimmer, die Zeiten bleiben immer". 1751 (Link)
1773
[Schulbuch:] "Sammlung von prosaischen und poetischen Mustern in deutscher Sprache" 1773, S. 52 (Link) |
1840
Der Humorist, von M.G. Saphir, 4. Jg, Nr. 232, 19. November 1840, S. 950 (Link) |
Der angebliche Spruch eines gelehrten Poeten wurde auch an der Wand eines Bauernhauses im sächsischen Erzgebirge gesehen:
1854
Ansbacher Morgenblatt, Nr. 26, 25. Juni 1854, Sonntagsbeigabe (Link) |
In dem Standardwerk "Deutsches Sprichwörter-Lexikon" hat Karl Friedrich Wilhelm Wander das Sprichwort ohne Zuschreibung an eine Autorin in folgender Variante aufgenommen:
- "Die Menschen denken immer, die Zeiten würden schlimmer; die Zeiten bleiben immer, die Menschen werden schlimmer."
Wander: "Deutsches Sprichwörter-Lexikon", 1873, S. 604 (Link)
Der genaue Wortlaut des Spruchs, der Joachim Ringelnatz heutzutage untergeschoben wird, war schon mehr als drei Jahrzehnte vor seiner Geburt auf deutschen Hausmauern verbreitet:
1855
- "Die Leute sagen immer
Die Zeiten werden schlimmer;
Die Zeiten bleiben immer.
Die Leute werden schlimmer."
Ernst Meier: "Schwäbische Volkslieder ..." 1855, Kapitel: "Sprüche an Häusern", Nr. 13, S. 266f. (Link)
Kuckuckszitat:
2009
- "QotD von Joachim Ringelnatz:: Die Leute sagen immer: Die Zeiten werden schlimmer. Die Zeiten bleiben immer. Die Leute werden schlimmer."
(Twitter., 8:45 vorm. · 30. Apr. 2009)
Die falsche Zuschreibung an den 1934 verstorbenen Autor, Maler und Kabarettisten Joachim Ringelnatz taucht erstmals im Jahr 2009 in den Sozialen Medien auf und wird bald auch von Zitate-Sammlungen und Zeitungen übernommen.
Ein Beispiel:
2018
- "Wie zeitlos die Texte von Ringelnatz sind und wie sehr sie gerade auch
in unsere Zeiten passen, zeigt ein Aphorismus, mit dem Kaiser und
Wegscheider den Abend beschlossen. 'Die Leute sagen, die Zeiten werden
schlimmer - die Zeiten bleiben immer - die Leute werden schlimmer',
heißt das Resümee des hellsichtigen Ringelnatz."
Süddeutsche Zeitung, 6. August 2018 (Link)
Es ist bei dieser Quellenlage sehr unwahrscheinlich, dass Joachim Ringelnatz jemals das alte Sprichwort zitiert hat, geprägt hat er es sicher nicht.
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Quellen:
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Dank:
Ich danke Moritz Jacob für die Aufdeckung dieses Kuckuckzitats und für seine Recherchen zu dessen Ursprung.
Artikel in Arbeit.