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Dienstag, 29. März 2022

"Die Freiheit der Meinung setzt voraus, dass man eine hat." Heinrich Heine (angeblich)

 

Pseudo-Heinrich-Heine-Zitat.
Dieses Bonmot eines unbekannten Autors oder einer unbekannten Autorin ist seit den 1960er-Jahren nachweisbar und wurde drei Jahrzehnte später erstmals Heinrich Heine untergeschoben, wie M. Wollmann herausgefunden hat.

In den Texten Heinrich Heines hat dieses Zitat noch niemand gefunden, obwohl schon einige danach gesucht haben.

Am 20. Februar 1963 zum Beispiel wurde das Bonmot in den Oldenburger Nachrichten noch als anonymer "Spruch des Tages" präsentiert.


Nordwest Zeitung, Ausgabe Oldenburger Nachrichten vom 20. Februar1963 S. 2.
.Inzwischen ist dieses Zitat einer unbekannten Person durch diverse Zitatesammlungen und Zeitungen als Pseudo-Heinrich-Heine-Zitat nicht nur im Internet schon weit verbreitet.


Artikel in Arbeit.

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Quellen:

Nordwest Zeitung, Ausgabe Oldenburger Nachrichten vom 20. Februar1963 S. 2. (genios.de)

Beispiele für falsche Zuschreibungen:

Claudia Fischer, Vinzenz Karl Stranimaier: "Lebensweisheiten von A - Z", ohne Angabe, 1991 [Zitiert nach M. Wollmann]
Ingo Reichardt, Anne Reichardt: "Treffende Worte: 3000 Zitate für Führungskräfte." Linde Verlag, Wien: 2003, S. 48 (Link)
Bert Forschelen: "Kompendium der Zitate für Unternehmer und Führungskräfte: Über 5000 Aphorismen für Reden und Texte im Management." Springer Gabler, Wiesbaden: 2017, S. 428 (Link) 
"Brennpunkt HEINRICH HEINE", Focus Magazin Nr. 2, 2006 (focus.de)

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Dank:
Ich danke M. Wollmann für seinen Hinweis auf dieses Kuckuckszitat sowie Zitante Christa und Ralf Bülow für ihre Recherchen.

Dienstag, 5. Mai 2020

"Ich weiß nicht, was soll das bedeuten, dass ich so traurig bin". Dichter unbekannt (angeblich)

Es wurde oft behauptet, in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur sei Heinrich Heines Gedicht "Loreley" mit dem berühmten Anfang "Ich weiß nicht, was soll das bedeuten" nur mehr als anonymes deutsches Volkslied mit dem Vermerk "Dichter unbekannt" in Schulbüchern publiziert worden.

Diese Legende haben in leicht verschiedenen Versionen auch Autorinnen und Autoren wie Otto Flake (1947), Hannah Arendt (1948), Ludwig Marcuse (1951) und Theodor W. Adorno (1956) als Tatsache ohne Quellennachweis weiterverbreitet (Link).


Theodor W. Adorno, 1956


  • "Nicht erst von den Nationalsozialisten ist Heine diffamiert worden. Ja diese haben ihn beinahe zu Ehren gebracht, als sie unter die Loreley jenes berühmt gewordene 'Dichter unbekannt' setzten, das die insgeheim schillerneden Verse, die an Figurinen der Pariserischen Rheinnixen einer verschollenen Offenbachoper mahnen, als Volkslied unerwartet sanktionierte."

    Theodor W. Adorno: "Die Wunde Heine", Rundfunkvortrag, Februar 1956, S. 146

Inzwischen wurden über hundert Schulbücher aus der Zeit von 1933 bis 1945 mehrfach gründlich durchsucht, aber die angebliche Zuschreibung der "Loreley" an einen unbekannten Dichter wurde von der Heinrich-Heine-Forschung weder in Schulbüchern noch in Anthologien gefunden.

Bei vertonten Gedichten erwähnte man nur den Komponisten und unterschlug den Namen Heines, sonst wurde sein gesamtes Werk ausnahmslos unterdrückt und aus den Schulbüchern und Anthologien*) gestrichen.

Ich folge hier dem Urteil der Germanistin Anja Oesterhelt, die die Forschungen von Bernd Kortländer (1998) und Harmut Steinecke (2008) zu diesem Fall in ihrer Studie 'Verfasser unbekannt'? Der Mythos der Anonymität und Heinrich Heines Loreley" im Jahr 2011 zusammgefasst, bestätigt und ergänzt hat.


1936, "Schluß mit Heine!"

  • "Eine deutsche Buchhandlung, die heute Heines Bücher zum Verkauf anbietet, verdient nicht, eine deutsche Buchhandlung zu sein. Nicht minder der Volksgenosse, der Gedichte von Heinrich Heine noch immer weiter liest oder gar schön findet."

    Otto Klein, Wolfgang Lutz: "Schluß mit Heine!", 1936, zitiert nach Anja Oesterhelt, S. 339.

Die Erinnerung an Heinrich Heine sollte ausgelöscht werden. Ab 1940 wurde der Verkauf seiner Bücher gemeinsam mit allen andern Büchern jüdischer Autorinnen und Autoren verboten.

Das Gerücht, Heines "Loreley" würde als Gedicht eines unbekannten Verfassers in Nazi-Deutschland weiter publiziert werden, findet man in Exil-Zeitschriften seit dem Jahr 1935, zum ersten Mal in Walter A. Berendsohns in Kopenhagen veröffentlichtem Artikel: "Der lebendige Heine im germanischen Norden".


Bella Fromm, 1934/1943:


  • June 19, 1934:
    "Richard, my dear old newspaper friend and colleague, came for a little chat this afternoon. [...] He also told me that Die Lorelei, with its beautiful poem by Heinrich Heine, was still being sung in the schools. However, the schoolbook reads: 'Writer of the text unknown.' An attempt to legislate immortality out of existence."

    Bella Fromm: "Blood an Banquets. A Berlin Social Diary." (1942), 1990, S. 168 (archive.org)

Die Journalistin Bella Fromm hat 1934**) in in ihr Tagebuch eingetragen, ihr Kollege "Richard" habe ihr von der Zwangsanonymisierung Heinrich Heines erzählt. Dieser unbekannte "Richard" ist bisher die einzige Quelle für die Legende, sonst wurde sie immer nur wie eine Tatsache, die keines Nachweises mehr bedürfe, weitererzählt. Bella Fromm publizierte ihr später vielgelesenes Berliner Tagebuch auf Englisch im Jahr 1943.


Auch wenn in Zukunft einmal ein Abdruck des Gedichts mit dem Vermerk "Verfasser unbekannt" an einer entlegenen Stelle entdeckt werden sollte, könnte man diesen vereinzelten Abdruck nicht als repräsentativ für die nationalsozialistische Kulturpolitik interpretieren, da die Nationalsozialisten nicht nur Heinrich Heines Namen, sondern auch sein gesamtes Werk auslöschen wollten (Oesterhelt, S. 340). 


Trotz der literaturwissenschaftlichen Widerlegung lebt die Legende weiter:

  •  "Das Gedicht ["Ich weiß nicht, was soll es bedeuten"] ist so berühmt, so sehr Teil des deutschen Kollektivbewusstseins, dass sogar die Nazis es nicht aus Schulbüchern, Anthologien und Kalendern zu entfernen wagten. Stattdessen entfernten sie einfach den Namen Heine aus den Büchern und schrieben 'Autor unbekannt' darüber. Das ist natürlich haarsträubend, aber auf eine gewisse Art auch lustig."

    Daniel Kehlmann, in: Jonathan Franzen: Das Kraus-Projekt, Rowohlt: 2014, S. 70:



Artikel in Arbeit.


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Anmerkungen:
*) bis auf wenige Ausnahmen.
**) Vielleicht ist dieser Tagebuch-Eintrag erst 1942 in New York für das Manuskript des Bestsellers  entstanden.
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Quellen:
Google
Google books
Anja Oesterhelt:" 'Verfasser unbekannt'? Der Mythos der Anonymität und Heinrich Heines Loreley", in: "Anonymität und Autorschaft: zur Literatur- und Rechtsgeschichte der Namenslosigkeit." Herausgeber: Stephan Pabs, De Gruyter, Berlin / Boston: 2011, S. 325-358  (Link)
Bella Fromm: "Blood an Banquets. A Berlin Social Diary." (1943) Foreword by Judith Rossner. A Birch Lane Press Book, New York: 1990, S. 168 (archive.org)
Nea Matzen: "Bella Fromm - Viele Leben in einem: Societylady, Journalistin, Bestsellerautorin im Exil"  m u. z 3/2009, S. 38- 53 pdf 
 Theodor W. Adorno: "Die Wunde Heine" (1956), Noten zur Literatur I, Bibliothek Suhrkamp, Frankfurt am Main: 1975,  S. 146
Ludwig Marcuse: "Heinrich Heine - Melancholiker, Streiter in Marx, Epikureer". 2. Auflage 1951, 3. Auflage 1969, Lizenzausgabe Diogenes Taschenbuch: 1977, S. 357
Hartmut Steinecke: "Heinrich Heine im Dritten Reich." Ferdinand Schöningh, Paderborn: 2008
Bernd Kortländer: "Le poète inconnu de la «Loreley» : le médiateur supprimé". Romantisme. (Revue): 1998, S. 29-40 (Link)
Walter A. Berendsohn: "Der lebendige Heine im germanischen Norden",  Kopenhagen:1935, zitiert nach Bernd Kortländer, S. 29 (Link).
Daniel Kehlmann, in: Jonathan Franzen: Das Kraus-Projekt. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2014, S. 70:  

(Link)

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Dank:

Ich danke Joseph Wälzholz für seine Frage zum Forschungsstand bei diesem Fall und für seine Recherchen sowie Bernd-Christoph Kämper für seinen Hinweis auf die problematische Entstehungsgeschichte von Bella Fromms Berliner Tagebuch.

Donnerstag, 13. Dezember 2018

„Inder, Türken, Hottentotten sind sympathisch alle drei, wenn sie leben, lieben, lachen, fern von hier in der Türkei ..." Heinrich Heine (angeblich)

Diese hämischen, erbärmlich holprigen Verse haben mit dem brillanten deutschen Dichter Heinrich Heine, der engstirnige deutsche Patrioten gerne verspottete, gar nichts zu tun.

Erstmals aufgetaucht sind diese dümmlichen Zeilen 135 Jahre nach Heines Tod in einem Leserbrief an den Kölner Stadt-Anzeiger am 29. November 1991. Schon damals wandten sich Leute an das  Heine-Institut mit der Frage, ob diese Verse wirklich von Heinrich Heine stammten.

Hätte der Urheber dieser Verse sie unter seinem eigenen Namen publiziert, wären sie kaum sehr weit aus einem Kellerlokal fanatischer Nationalisten herausgekommen.

Unter dem erlogenen Dichternamen "Heinrich Heine" kamen die Zeilen aber über das ausländerhassende Milieu hinaus, da sie im 21. Jahrhundert auch durch Zeitungen wie der Kronen Zeitung und von Leuten wie Erika Steinbach und H.C. Strache auf Twitter und Facebook verbreitet wurden.

Seit 1991 weisen anerkannte Kennerinnen und Kenner der Werke Heinrich Heines (zum Beispiel im Heine-Jahrbuch von 1993 oder im Nordkurier 2018) auf Anfragen darauf hin, dass die Zuschreibung dieser Verse an Heinrich Heine erlogen und falsch ist.

Trotzdem wird mit diesem angeblichen Heine-Gedicht weiter Stimmung gegen Ausländer gemacht, auch wenn es noch niemand in einem Text Heinrich Heines, der als Ausländer  in Paris gestorben ist, gefunden hat.

Pseudo-Heinrich-Heine-Zitat:


  • "Inder, Türken, Hottentotten sind sympathisch alle drei,
    wenn sie leben, lieben, lachen, fern von hier in der Türkei.

    Doch wenn sie in hellen Scharen, wie der Maden in dem Speck
    in Europa nisten wollen, ist die Sympathie bald weg."
Pseudo-Heinrich-Heine-Zitat.


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Quellen:
Heinrich-Heine-Portal, Suchmaschine uni-trier.de
Heine-Jahrbuch 1993: books.google (bibliographische Angaben folgen)
nordkurier.de/kultur-und-freizeit/heinrich-heine-schrieb-nie-ueber-inder-tuerken-hottentotten-3131118201.html
Kronen Zeitung: zeitzuender.wordpress.com/2012/08/13/hetzerei-mit-falschem-heine-gedicht-uber-turken-und-inder-und-hottentotten-schwarze/

Beispiele für falsche Zuschreibungen:
1991: Kölner Stadt-Anzeiger, zitiert nach Heine-Jahrbuch 1993
2009: pi-news.net/2009/07
2012: Kronen Zeitung  (Link) (inzwischen gelöscht)
2013:  michael-mannheimer.net
2016: deutschelobbyinfo.com/
2017: Erika Steinbach Twitter (inzwischen gelöscht)
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Dank:
Ich danke Tobias Blanken für den Hinweis auf dieses Kuckuckszitat sowie Winfried Werner Linde und Julian Röpcke für ihre Recherchen dazu.

Artikel in Arbeit.

Sonntag, 25. November 2018

"Auf den Nationalismus berufen sich alle, die menschliches Elend verursachen und ausnützen." Heinrich Heine (angeblich)

Dieser Satz stammt aus Heinrich Manns 1932 erschienenem Essay, "Das  Bekenntnis zum  Übernationalen", und wird heute in den sozialen Medien manchmal irrtümlich Heinrich Heine zugeschrieben:
Zitat von Heinrich Mann, irrtümlich Heinrich Heine zugeschrieben.


Heinrich Mann,  "Das Bekenntnis zum Übernationalen":


"Auf den Nationalismus berufen sich alle, die menschliches Elend verursachen und ausnützen. Er ist die ideelle Rechtfertigung, wenn Menschen in ihre nationalen Grenzen  gepfercht  hungern,  nicht  arbeiten und verwildern.

Er entschuldigt die planlose Unordnung einer Wirtschaft, wie er im Krieg das vollendete Chaos sogar noch verherrlicht. Er steht über dem Hochkapitalismus, dem Militarismus, sie befinden sich  in  moralischer Abhängigkeit von ihm, wären ohne ihn nicht in die Welt getreten, und er war zuerst da.

Ein Gefühl und eine Geistesart waren früher da als die wirklichen Tatsachen, die nationale Idee und Leidenschaft früher als das bewaffnete Volk und das Volk, das dem Industriekapital unterworfen wurde. Wenn dies doch ganz erfaßt würde, das Vorrecht einer Idee!

Heinrich Mann: "Das Bekenntnis zum Übernationalen", 1932 (pdf S. 373)


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Quellen:
Heinrich Mann: Essays und Publizistik. Band 5, 1930 bis Februar 1933. Herausgegeben von Volker Riedel, Aisthesis Verlag: Bielefeld: 2009, S. 373; S. 695 (pdf)

Heinrich Mann:
"Das  Bekenntnis zum Übernationalen", in: Die Neue Rundschau, Berlin, Jg. 43 der Freien Bühne, Band 2, Heft 12, Dezember 1932, S. 721-746.
"Uebernationales  Bekenntnis", in:  Prager  Tagblatt ,  Prag,  Jg.  57,  Nr.  283,  1. Dezember 1932, S. 1 [Teildruck: 371,3-24; 372,10-18; 372,30-373,16;  376,25-39; 381,6-23; 382,28-383,16].
"Das Bekenntnis zum Übernationalen",  Berlin, Wien, Leipzig :  Zsolnay  1933, 47 Seiten. 
"Das Bekenntnis zum Übernationalen",  in:  Heinrich Mann, "Der Haß. Deutsche Zeitgeschichte",  Querido-Verlag, Amsterdam: 1933, S. 9-59.
(Diese Bibliographie der Erstdrucke habe ich Volker Riedel (S. 695) zu verdanken (Link)).

Mittwoch, 21. November 2018

"Ich schwöre ...., der zehnte Teil von dem, was jene Leute in Deutschland erduldet haben, hätte in Frankreich sechsunddreißig Revolutionen hervorgebracht ..." Heinrich Heine

Der AfD-Abgeordnete Alexander Gauland hat am 21. November 2018 im deutschen Parlament einen Satz (etwas verkürzt) aus Heinrich Heines Vorrede zum ersten Band des "Salon" aus dem Jahr 1833 zitiert (Link).

In dieser Vorrede beschreibt Heinrich Heine sein Zusammentreffen mit einer Gruppe schwäbischer Auswanderer in Frankreich, denen in Algier Land zur Kolonisierung versprochen wurde. (Gauland nennt sie irrtümlich deutsche Auswanderer nach Übersee.)

Heinrich Heine, der so oft Deutsche kritisierte, findet diese deutschen Auswanderer sympathisch, aber besonders lobt er in dieser Vorrede die Humanität und Freundlichkeit der Franzosen, die diesen armen Wirtschaftsflüchtlingen täglich halfen:

  • "Die Franzosen sind nicht bloß das geistreichste, sondern auch das barmherzigste Volk. Sogar die Ärmsten suchten diesen unglücklichen Fremden irgendeine Liebe zu erzeigen, gingen ihnen tätig zu Hand beim Aufpacken und Abladen, liehen ihnen ihre kupfernen Kessel zum Kochen, halfen ihnen Holz spalten, Wasser tragen und waschen."

    Heinrich Heine,  17. Oktober 1833
Seiner Ideologie gemäß zitiert Gauland nicht Heinrich Heines Bewunderung für das Mitgefühl der Französinnen und Franzosen mit Wirtschaftsflüchtlingen (heute von AfDlern als "Bahnhofsklatscher" verspottet), sondern folgenden Satz von Heinrich Heine über den Unterschied zwischen Deutschen und Franzosen:

  • Ich schwöre es bei allen Göttern des Himmels und der Erde, der zehnte Teil von dem, was jene Leute in Deutschland erduldet haben, hätte in Frankreich sechsunddreißig Revolutionen hervorgebracht, und sechsunddreißig Königen die Krone mitsamt dem Kopf gekostet.

    Heinrich Heine,  17. Oktober 1833 (Die kursivierten Wörter hat Gauland im Zitat weggelassen.)
 Artikel in Arbeit.
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Quellen:
Heinrich Heine: Vorrede zum ersten Bande des »Salon«, Paris, den 17. Oktober 1833, in: Heinrich Heine:  Lutetia? Berichte über Politik, Kunst und Volksleben. Werke in fünf Bänden. 4. Band, Aufbau Verlag, Berlin:1974 (Link);  (Link) 

Heinrich Heine: Vorrede zum ersten Bande des »Salon«, Paris, den 17. Oktober 1833


"...  So erging's auch mir, und, ohne zu wissen wie, befand ich mich plötzlich auf der Landstraße von Havre, und vor mir her zogen hoch und langsam mehrere große Bauernwagen, bepackt mit allerlei ärmlichen Kisten und Kasten, altfränkischem Hausgeräte, Weibern und Kindern. Nebenher gingen die Männer, und nicht gering war meine Überraschung, als ich sie sprechen hörte – sie sprachen Deutsch, in schwäbischer Mundart. Leicht begriff ich, daß diese Leute Auswanderer waren, und als ich sie näher betrachtete, durchzuckte mich ein jähes Gefühl, wie ich es noch nie in meinem Leben empfunden; alles Blut stieg mir plötzlich in die Herzkammern und klopfte gegen die Rippen, als müsse es heraus aus der Brust, als müsse es so schnell als möglich heraus, und der Atem stockte mir in der Kehle. Ja, es war das Vaterland selbst, das mir begegnete, auf jenen Wagen saß das blaue Deutschland, mit seinen ernstblauen Augen, seinen traulichen, allzu bedächtigen Gesichtern, in den Mundwinkeln noch jene kümmerliche Beschränktheit, über die ich mich einst so sehr gelangweilt und geärgert, die mich aber jetzt gar wehmütig rührte – denn hatte ich einst, in der blühenden Lust der Jugend, gar oft die heimatlichen Verkehrtheiten und Philistereien verdrießlich durchgehechelt, hatte ich einst mit dem glücklichen, bürgermeisterlich gehäbigen, schneckenhaft trägen Vaterlande manchmal einen kleinen Haushader zu bestehen, wie er in großen Familien wohl vorfallen kann: so war doch all dergleichen Erinnerung in meiner Seele erloschen, als ich das Vaterland in Elend erblickte, in der Fremde, im Elend; selbst seine Gebrechen wurden mir plötzlich teuer und wert, selbst mit seinen Krähwinkeleien war ich ausgesöhnt, und ich drückte ihm die Hand, ich drückte die Hand jener deutschen Auswanderer, als gäbe ich dem Vaterland selber den Handschlag eines erneuten Bündnisses der Liebe, und wir sprachen Deutsch. Die Menschen waren ebenfalls sehr froh, auf einer fremden Landstraße diese Laute zu vernehmen; die besorglichen Schatten schwanden von ihren Gesichtern, und sie lächelten beinahe. Auch die Frauen, worunter manche recht hübsch, riefen mir ihr gemütliches »Griesch di Gott!« vom Wagen herab, und die jungen Bübli grüßten errötend höflich, und die ganz kleinen Kinder jauchzten mich an mit ihren zahnlosen lieben Mündchen. Und warum habt ihr denn Deutschland verlassen? fragte ich diese armen Leute. »Das Land ist gut und wären gern dageblieben«, antworteten sie, »aber wir konnten's nicht länger aushalten« –

Nein, ich gehöre nicht zu den Demagogen, die nur die Leidenschaft aufregen wollen, und ich will nicht alles wiedererzählen, was ich auf jener Landstraße bei Havre unter freiem Himmel gehört habe über den Unfug der hochnobeln und allerhöchst nobeln Sippschaften in der Heimat – auch lag die größere Klage nicht im Wort selbst, sondern im Ton, womit es schlicht und grad gesprochen, oder vielmehr geseufzt wurde. Auch jene armen Leute waren keine Demagogen; die Schlußrede ihrer Klage war immer: »Was sollten wir tun? Sollten wir eine Revolution anfangen?«

Ich schwöre es bei allen Göttern des Himmels und der Erde, der zehnte Teil von dem, was jene Leute in Deutschland erduldet haben, hätte in Frankreich sechsunddreißig Revolutionen hervorgebracht, und sechsunddreißig Königen die Krone mitsamt dem Kopf gekostet.

»Und wir hätten es doch noch ausgehalten und wären nicht fortgegangen«, bemerkte ein achtzigjähriger, also doppelt vernünftiger Schwabe, »aber wir taten es wegen der Kinder. Die sind noch nicht so stark wie wir an Deutschland gewöhnt, und können vielleicht in der Fremde glücklich werden; freilich, in Afrika werden sie auch manches ausstehen müssen.«

Diese Leute gingen nämlich nach Algier, wo man ihnen unter günstigen Bedingungen eine Strecke Landes zur Kolonisierung versprochen hatte. »Das Land soll gut sein«, sagten sie, »aber wie wir hören, gibt es dort viel' giftige Schlangen, die sehr gefährlich, und man hat dort viel auszustehen von den Affen, die die Früchte vom Felde naschen und gar die Kinder stehlen und mit sich in die Wälder schleppen. Das ist grausam. Aber zu Hause ist der Amtmann auch giftig, wenn man die Steuer nicht bezahlt, und das Feld wird einem von Wildschaden und Jagd noch weit mehr ruiniert und unsere Kinder wurden unter die Soldaten gesteckt – Was sollten wir tun? Sollten wir eine Revolution anfangen?«

Zur Ehre der Menschlichkeit muß ich hier des Mitgefühls erwähnen, daß, nach der Aussage jener Auswanderer, ihnen auf ihren Leidensstationen durch ganz Frankreich zuteil wurde. Die Franzosen sind nicht bloß das geistreichste, sondern auch das barmherzigste Volk. Sogar die Ärmsten suchten diesen unglücklichen Fremden irgendeine Liebe zu erzeigen, gingen ihnen tätig zu Hand beim Aufpacken und Abladen, liehen ihnen ihre kupfernen Kessel zum Kochen, halfen ihnen Holz spalten, Wasser tragen und waschen. Habe mit eigenen Augen gesehen, wie ein französisch Bettelweib einem armen kleinen Schwäbchen ein Stück von ihrem Brot gab, wofür ich mich auch herzlich bei ihr bedankte. Dabei ist noch zu bemerken, daß die Franzosen nur das materielle Elend dieser Leute kennen; jene können eigentlich gar nicht begreifen, warum diese Deutschen ihr Vaterland verlassen. Denn wenn den Franzosen die landesherrlichen Plackereien so ganz unerträglich werden, oder auch nur etwas allzu stark beschwerlich fallen, dann kommt ihnen doch nie in den Sinn, die Flucht zu ergreifen, sondern sie geben vielmehr ihren Drängern den Laufpaß, sie werfen sie zum Lande hinaus und bleiben hübsch selber im Lande, mit einem Wort: sie fangen eine Revolution an."

Heinrich Heine: Vorrede zum ersten Bande des »Salon«, Paris, den 17. Oktober 1833 (Projekt Gutenberg)



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Ich danke Goran für die Frage nach diesem Zitat.

Mittwoch, 10. Oktober 2018

"Von allen Welten, die der Mensch erschaffen hat, ist die der Bücher die Gewaltigste." Heinrich Heine (angeblich)

Pseudo-Heinrich-Heine-Zitat.
Dieser nicht nur in der Bücherbranche vielzitierte Satz klingt gar nicht nach einem Autor mit so unvergleichlichem Witz wie Heinrich Heine einer war. Und das Zitat wird ihm auch erst im 21. Jahrhundert untergeschoben. Davor ist es in den digitalisierten Texten nicht zu finden.

Dieses angebliche Heinrich-Heine-Zitat ist die Paraphrase eines Satzes aus Hermann Hesses Essay "Magie des Buches":

 Hermann Hesse, 1930

  • "Von den vielen Welten, die der Mensch nicht von der Natur geschenkt bekam, sondern aus dem eigenen Geist erschaffen hat, ist die Welt der Bücher die größte. Jedes Kind, wenn es die ersten Buchstaben auf seine Schultafel malt und die ersten Leseversuche macht, tut damit den ersten Schritt in eine künstliche und höchst komplizierte Welt, deren Gesetze und Spielregeln ganz zu erkennen und vollkommen zu üben kein Menschenleben ausreicht."

    Hermann Hesse: "Magie des Buches", Berliner Tageblatt, 14. November 1930 (Link)

Den Hinweis auf den Urspung des angeblichen Heinrich-Heine-Zitats bei Hermann Hesse verdanke ich der Webseite literatpro.de

Vielleicht führten die identischen Initialien "HH" beider Autoren zu der Verwechslung.  Das Zitat könnte erstmals in dem Forum der Webseite buechertreff.de im August 2004 falsch zugeschrieben worden sein.

Es ist völlig unwahrscheinlich, dass dieser Satz jemals an einer versteckten Stelle in einer Schrift Heinrich Heines gefunden werden wird, da die gesammelten Schriften Heines mehrfach digitalisiert sind.

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Quellen:
.Hermann Hesse: "Magie des Buches" (Erstdruck: Berliner Tageblatt, 14. November 1930), Sämtliche Werke, Band 14, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main: 2003, S. 403  (Link)
literatpro.de : "Von Welten, die der Mensch erschaffen hat ", 2016

Falsch zugeschrieben:
2004:  buechertreff.de/forum (Frühe falsche Zuschreibung an Heinrich Heine:

Zeitungen: GoogleNews

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Dank:


Ich danke auch Ralf Bülow für seine Recherchen. 
 
Letzte Änderung: 30/5 2022

Samstag, 21. Juli 2018

"Ein Kluger bemerkt alles, ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." Heinrich Heine (angeblich)

Pseudo-Heinrich-Heine-Zitat.

 

Dieser beliebte Pseudo-Heinrich-Heine-Aphorismus stammt von einem unbekannten Autor der humoristischen Zeitschrift "Fliegende Blätter" (mit der Sigle "G.W."), und wurde Heinrich Heine über 100 Jahre nach seinem Tod - vielleicht in Eduard Puntschs "Zitatenhandbuch" - erstmals unterschoben.


In Heinrich Heines sämtlichen Schriften ist der Spruch nicht zu finden und wird höchstwahrscheinlich nie gefunden werden, auch wenn sogar die Dudenredaktion in ihrem Zitaten-Lexikon das Gegenteil behauptet (Link).


Entwicklung des Kuckuckszitats:


1843
  • "Der Kluge bemerkt jedes Steinchen auf seinem Wege, der Klügling sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht."
    Christoph Kuffner  google
 1897

Erstdruck des später irrtümlich Heinrich Heine zugeschrieb. Zitats.
Fliegende Blätter,  Nr. 2721, 1897, S. 111 (Link)





  • "Ein Kluger bemerkt Alles, ein Dummer macht über Alles eine Bemerkung. G. W. "
    Fliegende Blätter,  Nro. 2721, 107. Bd., Verlag von Braun u. Schneider, München: (1897) S. 111 (Link) (G.W.: unbekannt)



1979
  • "Wenn Sie einen Zwischenruf machen, so drängt sich hier unwillkürlich der Spruch auf: Ein Kluger bemerkt alles, ein weniger Kluger macht über alles seine Bemerkung."

1982
  • "Ein Kluger bemerkt alles, ein Dummer macht über alles eine Bemerkung. Heinrich Heine"
    "Zentralblatt fuer Chirurgie, Band 107, Ausgabe 2, 1982,  S. 1105 books.google


 2018

Bildspruch Spruchbild www.spireo.de  Pseudo-Heinrich-Heine-Zitat.





 
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Quellen:
Google
Heinrich-Heine-Portal, Suchmaschine uni-trier.de 
Heinrich Heine: Sämtliche Werke. Neue Ausgabe in 12 Bänden, Hoffmann und Campe, Hamburg: 1887f.
Fliegende Blätter,  Nro. 2721, 107. Bd., Verlag von Braun u. Schneider, München: (1897) S. 111  (Link); zitiert zum Beispiel in: "Neuigkeits Welt Blatt", 21. September 1897, S. (8) anno

Beispiele für falsche Zuschreibungen an Heinrich Heine:

1982: "Zentralblatt fuer Chirurgie", Band 107, Ausgabe 2, 1982,  S. 1105 books.google
1993, 2002: Dudenredaktion: "Zitate und Aussprüche. Herkunft und aktueller Gebrauch", DUDEN Band 12, Mannheim etc: 1993, S. 577; 2002, S. 692  (Link) [Zugeschrieben: "Heinrich Heine, Gedanken". Ich habe in mehreren digitalisierten Ausgaben von Heinrich Heines "Gedanken" vergeblich nach dem Zitat gesucht.]
Eberhard Puntsch: "Zitatenhandbuch" [Ich muss noch in der ersten Auflage 1965 nachblättern.]
gutzitiert.de 
 

(Artikel in Arbeit; letzte Änderungen: 13/12 2018: 3/9 2020)

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Dank:

Ich danke aphorismen.de für den Hinweis auf das (nichtdigitalisierte) "Zitatenhandbuch" von Eberhard Puntsch.


 

Mittwoch, 4. April 2018

"Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihren Schlächter selber." Bertolt Brecht (angeblich)

Pseudo-Bertolt-Brecht-Zitat.
 Dieses Sprichwort taucht erstmals 1874 auf einem Schweizer Stimmzettel zur Wahl der Züricher Steuerkommission auf, was damals von vielen deutschen und österreichischen Zeitungen  amüsiert berichtet wurde. 

Der Witz des unbekannten Autors wurde in den Jahren darauf weit verbreitet und von Sozialdemokraten schon vor dem 1. Weltkrieg bei Wahlen oft als Slogan verwendet.


Neues Fremden-Blatt, Abendausgabe, Wien, 27. Mai 1874, S. 2.
In den letzten Jahrzehnten wird der Spruch irrtümlich oft Bertolt Brecht und manchmal auch Wilhelm Busch oder Heinrich Heine zugeschrieben.
Pseudo-Bertolt-Brecht-Zitat.


Varianten:

  • "Nur die allerdümmsten Kälber // wählen ihren Schlächter selber."
  • "Nur die allergrößten Kälber wählen ihre Metzger selber."
  • "Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Schlächter selber."
  • "Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber." 

Bertolt Brecht spielt in dem "Kälbermarsch", seiner Parodie des Horst-Wessel-Liedes, in dem 1943 entstandenen Drama "Schwejk im Zweiten Weltkrieg" auf das Sprichwort an, aber er hat es selber weder geprägt noch in einer der ihm irrtümlich zugeschriebenen Versionen verwendet.

 

Bertolt Brecht

  • "Hinter der Trommel her
    Trotten die Kälber
    Das Fell für die Trommel
    Liefern sie selber.
    Der Schlächter ruft:
    Die Augen fest geschlossen
    Das Kalb marschiert.
    In ruhig festem Tritt.
    Die Kälber, deren Blut im Schlachthaus schon geflossen
    Marschiern im Geist in seinen Reihen mit."
    _____







[Ist Ihnen ZITATFORSCHUNG etwas wert? (Link)]


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Quellen:
Google 
Bertolt Brecht: Stücke. Band 10 – Stücke aus dem Exil: Schweyk im Zweiten Weltkrieg; Der kaukasische Kreidekreis; Die Tage der Commune. Suhrkamp, Frankfurt am Main: (1957) 1959, S. 103
Neues Fremden-Blatt, Abendausgabe, Wien, 27. Mai 1874, S. 2 (Link)
Zitat in der Arbeiter Zeitung, Wien 1895-1933 (anno)

Beispiele für falsche Zuschreibungen:

An Bertolt Brecht:
 Google
Wiener Zeitung
facebook.com/CiceroMagazin

An  Wilhem Busch:
Michael Wolffsohn: Und wir stecken den Kopf in den Sand, Die Welt, 26. März 2019 (Link)


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Dank:
Ich danke Christian Seidl und Wolfgang Gruber für ihre Hinweise auf den Schweizer Stimmzettel.

Letzte Änderung: 17/6 2020

Donnerstag, 1. März 2018

"Ich hab' einen Gefangenen gemacht, und er lässt mich nicht mehr los." Johann Nestroy (angeblich)

Kikeriki, 10. August 1876, S, 3 (Anno)

Dieser Witz war im 19. Jahrhundert nachweislich seit 1827 in geringfügig verschiedenen Anekdoten weit verbreitet und wurde sowohl von Heinrich Heine als auch von Johann Nestroy erzählt.

Ralf Bülow hat herausgefunden, dass schon Georg Christoph Lichtenberg die schottische Anekdote von dem Soldaten, der damit angibt, einen Gefangenen gemacht zu haben, aber selbst angekettet ist, 1775 in sein Sudelbuch notiert hatte:


1775, Lichtenberg


Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft E, 92 (Link)


Nestroy legt diesen witzigen Selbstwiderspruch der Figur des "Sansquartier" in der Posse "Sechs Mädchen in Uniform" in den Mund. Die Uraufführung des Stücks "Sechs Mädchen in Uniform" von Louis Angely, in der Johann Nestroy die Hauptrolle spielte, fand am 5. Dezember 1827 in seiner Bearbeitung in Graz statt.

Die Anekdote mit den Gefangenen erschien einen Monat davor, am 9. November 1827, in dem Cotta'schen "Literatur-Blatt", kann also nicht von Johann Nestroy für dieses Stück geprägt worden sein, wenngleich sie in seiner Version Flügel bekam.

Es gibt Varianten mit ein, zwei, drei und sechs Gefangenen, aber in den mir bekannten Versionen von Johann Nestroys Bearbeitung sind es immer zwei Gefangene, die den Soldaten nicht los lassen.

Ob Johann Nestroy seine Bearbeitung des Stücks "Sechs Mädchen in Uniform" in dieser Form schon 1827 oder erst später verfasst hat, weiß ich nicht. Woher die Nestroy zugeschriebene Version mit nur einem Gefangenen stammt, kann ich auch noch nicht sagen.
Johann Nestroy als Sansquartier, Urbach 1984, S. 15

1827, anonyme Anekdote 

  • "In der That, die Scottische Rede erinnert an die Gasconade eines Korporals, der seinem Hauptmann von Weitem zurief: Kapitän, ich habe sechs Gefangene gemacht. – Führe sie her, antwortet der Offizier. – Sie wollen nicht gehen. – So komme allein. – Kapitän, sie lassen mich nicht fort."
    Literatur-Blatt Nr. 90, 9. November 1827,
    (Cotta, Stuttgart: 1827), S. 357  (Link)

Johann Nestroy, 4 Versionen

  • "SANSQUARTIER (der entwaffnet wurde und von 2 Türken festgehalten wird).
    Commandant! Ich habe 2 Gefangene gemacht!

    BRIQUET. Wo sind sie?

    SANSQUARTIER. Da sein's! Aber sie lassen mich nit aus!"
    Johann Nestroy:
    "Zwölf Mädchen in Uniform", in:  Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Nachträge, Stücke - Band 39, Ausgabe 2. Herausgegeben von Friedrich Walla, W. E. Yates und  Jürgen Hein, Deuticke, Wien: 2007,  S. 37 (Link)
  • "Sansquartier: Herr Kommandant! Ich habe zwei Gefangene gemacht!
    Briquet: Bringt sie her!

    Sansquartier: Sie lassen mich nicht aus."
    Unbekannter Nestroy: Zwölf Mädchen in Uniform, Wien: 1953, S. 44 
    (Link)

Alexander Scharf, Wiener Sonn- und Montags-Zeitung, 26. Dezember 1868, S.4
  • "SANSQUARTIER:  Herr Schuverneur! Ich habe zwei Gefangene gemacht.
     GOUVERNEUR:     So bring' Er sie her.

     SANSQUARTIER:   Ja, sie lassen mich nicht los."
    Nach Alexander Scharf, Wiener Sonn- und Montags-Zeitung, 26. Dezember 1868, S. 4  (Link)
  • "Wem fällt da nicht Nestroy ein mit seinem berühmten Worte: 'Ich habe einen Gefangenen gemacht, aber er laßt mi nöt los!'"
    Landshuter Zeitung, Nr. 271,  25. November 1877, S. 1621  (Link)

 Binzer

  • 1833: Als die Alliirten "Paris erobert hatten, ging es ihnen fast wie jenem Soldaten, der den Kameraden zurief: „ich habe einen Gefangenen gemacht!" als aber dagegen der Ruf: «bringe ihn her!" erscholl, antworten mußte: „er läßt mich nicht los."
    A.T. Beer (August Daniel Freiherr von Binzer):  "Kallendorf", Morgenblatt für gebildete Leser, Nr. 52, 1. März 1833,  - Band 27 - S. 207 (Link)

Heinrich Heine

  • 1839: "Er mahnt uns ganz an den Rekruten, der, von einem Wachtposten aus, seinem Hauptmann entgegenschrie: «Ich habe einen Gefangenen gemacht.» — «So bringt ihn zu mir her,» antwortete der Hauptmann. « Ich kann nicht,» erwiederte der arme Rekrut, «denn mein Gefangener lässt mich nicht mehr los.»"
    Heinrich Heine (Link)
  • 1841: "Ein Republikaner hasst daher das Geld mit großem Recht, und wird er dieses Feindes habhaft, ach! so ist der Sieg noch schlimmer als eine Niederlage; der Republikaner, der sich des Geldes bemächtigte, hat aufgehört, ein Republikaner zu sein! Er gleicht dann jenem österreichischen Soldaten, welcher ausrief: „Herr Korporal, ich habe einen Gefangenen gemacht!" aber, als der Korporal ihn seinen Gefangenen herbeiführen hieß, die Antwort gab: „Ich kann nicht, denn er läßt mich nicht los."
    Heinrich Heine: "Lutetia" (EA: 1841), Französische Zustände, 30. Mai 1840 (Link)

Karl Kraus

    • "Und mein unerschrockener Bekämpfer (den ich eines Rückfalls, wie ihn der Tricot-Artikel bedeuten würde, nicht für fähig halte) mag, meinen Einfluß dankbar erkennend, mit Nestroy ausrufen: »Ich habe einen Gefangenen gemacht, und er lässt mich nicht mehr los!«"
      Karl Kraus, Die Fackel, 1902  Nr. 121, 2
    • "Vom Künstler und dem Gedanken gelte das Nestroy’sche Wort: Ich hab’ einen Gefangenen gemacht und er läßt mich nicht mehr los." 
      Karl Kraus, Die Fackel, 1910,  Nr. 300, 23 
    • "Herr Friedjung hat, um mit Nestroy zu sprechen, einen Gefangenen gemacht, und der läßt ihn nicht mehr los."
      Karl Kraus, Die Fackel, 1912, Nr. 345, 43
    • "Hier ist er eine mit »nämlich«, »übrigens«, »notabene« koordinierte, beigesellte oder gleichgesetzte, Ausführung; dort ist er subordiniert, aber das Verhältnis ist so fest, daß der Hauptsatz in ihm einen Gefangenen gemacht hat, der ihn nicht mehr losläßt."
      Karl Kraus, Die Fackel, 1921, Nr.572, 17
    • "Es wird zwischen dem koordinierten Relativsatz unterschieden und dem subordinierten, bei dem aber das Verhältnis so fest sei, »daß der Hauptsatz in ihm einen Gefangenen gemacht hat, der ihn nicht mehr losläßt«."
      Karl Kraus, Die Fackel, 1927, Nr. 751, 47
    Welche Quelle Karl Kraus für seine Version des Nestroy-Zitats verwandte, kann ich noch nicht sagen.
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    Quellen:
    Johann Nestroy: "Zwölf Mädchen in Uniform", in: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Nachträge, Stücke, Band 39, Ausgabe 2. Herausgegeben von Friedrich Walla, W. E. Yates und  Jürgen Hein, Deuticke, Wien: 2007,  S. 37 (Link)
    "Unbekannter Nestroy": Zwölf Mädchen in Uniform; Ein gebildeter Hausknecht; Friedrich, Prinz von Korsika. Aus den Handschriften herausgegeben von Gustav Pichler, W. Frick, Wien: 1953, S. 44  (Link)
     J.N. Nestroy, Stich- u. Schlagworte. Zusammengestellt von Reinhard Urbach, Verlag Christian Brandstätter, Wien: 1984, S. 15
    Alexander Scharf, Wiener Sonn- und Montags-Zeitung, 26. Dezember 1868, S. 4 (Link)  
    Internationales Nestroy Zentrum Schwechat: Informationen zu "Sieben Mädchen in Uniform", auch:  "Zwölf Mädchen in Uniform",  Posse in einem Akt von Louis Angely in der Bearbeitung von Johann Nestroy: (Nestroy.at)
    Anonym, Literatur-Blatt Nr. 90, 9. November 1827, (Cotta, Stuttgart: 1827), S. 357  (Link)
    A.T. Beer (August Daniel Freiherr von Binzer): "Kallendorf", Morgenblatt für gebildete Leser, Nr. 52, 1. März 1833,  - Band 27 - S. 207 (Link)
    Louis Angely, Sieben Mädchen in Uniform, 1825
    Meidlinger Witz (Link) 
    Kikeriki, 10. August 1876, S, 3  (Anno)
    Heinrich Heine: "Lutetia" (EA: 1841), Französische Zustände, 30. Mai 1840, Sämtliche Werke: Sechster Band, Nachdruck 2017, S. 173 (Link)
    Landshuter Zeitung, Nr. 271,  25. November 1877, S. 1621 (Link) 
    Karl Kraus, Die Fackel, 1910,  Nr. 300, 23
    Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher, Heft E, 92 (Link) (Die Erstveröffentlichung dieser Lichtenberg-Notiz habe ich noch nicht herausgefunden.)
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    Dank:

    Ich bin Wolfgang Gruber für seine Hinweise und Recherchen sehr dankbar und danke auch Ralf Bülow für seinen Hinweis auf Lichtenbergs Sudelbücher sehr.

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    Artikel in Arbeit
    Arbeiter Zeitung 1891   (Link), 1894 (Link)

    Schlechte Kritik 1861 einer Nestroy-Aufführung (Link), 
    alte Meidlinger Witz (Link), alte Anekdote (Link), 
    Parlament (Link)
    drei Gefangene (Link)
    Victor Adler (Link)

    14 Mädchen (Link)

    Dienstag, 13. November 2007

    Die Sangbarkeit der Verse sei der größte Fehler

    Im Literaturblog der 'ZEIT' wendet sich David Hugendick gegen gut gemeinte Vertonungen von Gedichten Selma Meerbaum-Eisingers und beruft sich dabei am Ende des Artikels auf ein Argument von Karl Kraus:

    Karl Kraus schrieb einmal von Heines Gedichten stellvertretend für jedwede Form der Lyrik: Die Sangbarkeit der Verse sei der größte Fehler. Vielleicht liegt es gar nicht an der Sangbarkeit, sondern an den Leuten, die die Verse singen. Die Gedichte Selma Meerbaum-Eisingers lohnen sich wirklich. Doch nicht in dieser Form.

    Doch Karl Kraus argumentiert um eine entscheidende Nuance differenzierter. Er redet nicht 'vom größten Fehler' eines Gedichtes, wie er diesen simplen Superlativ überhaupt meidet, sondern von der Sangbarkeit als einen 'Verdachtsgrund gegen seine Bedeutung'. Auch ging es nicht um öde Sänger, schreckliche Sängerinnen und schwache Komponisten.

    Karl Kraus
    Um Heine
    Die Sangbarkeit eines Gedichtes war stets ein Verdachtsgrund gegen seine Bedeutung als lyrisches Kunstwerk. Verschmäht es die Heine-Verehrung nicht, sich auf die Beliebtheit der Lorelei-Musik zu stützen? Dann ist am Ende Goethes: »Füllest wieder Busch und Tal« oder »Über allen Gipfeln …« schlechtere Lyrik als: »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten«.

    ("Die Fackel", Nr. 199, 1906, S. 2)