Die Hauptperson der Anekdote ist ein Gymnasiallehrer des Erfinders Ferdinand Braun, der im Jahr 1909 den Nobelpreis für Physik erhalten hat, sieben Jahre nach dem Literaturnobelpreis von Theodor Mommsen.
Dieser Fuldaer Lehrer des Physikers habe in den 1860er Jahren den Schüler Braun bestärkt, später einmal Mathematik zu studieren und dieser Lehrer Dr. Wilhelm Gies habe sich darüber geärgert, dass der große Historiker Theodor Mommsen so abfällig über Naturwissenschaften gesprochen und sie als, "Barbarika, auf die man einen Jagdhund abrichten kann", verspottet habe (Link).
Alle, die bis heute Theodor Mommsen dieses Zitat zuschreiben, beziehen sich direkt oder indirekt auf diese im Jahr 1965 ohne seriösen Quellennachweis verbreitete Anekdote aus der Biographie Ferdinand Brauns von Friedrich Kurylo (Link).
Ich folge hier dem Urteil von Andreas Kleinert, der seine Recherchen zu diesem Zitat mit dem Titel, "So kommt die historische Forschung auf den Hund", in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 15. April 2020 publiziert hat.
Durch welche Texte diese Anekdote 100 Jahre lang von den 1860er Jahren bis in die 1960er Jahre überliefert wurde bis sie in dieser digitalisierten Biographie auftauchte, weiß man nicht. Angeblich stand sie irgendwann einmal in einer seit 1920 publizierten und noch nicht digitalisierten Geschichtsbeilage der Fuldaer Zeitung.
Nähere Angaben hielt Ferdinand Brauns Biograph Kurylo nicht für notwendig und in der englischen Fassung seiner Ferdinand-Braun-Biographie wurde zwar der Lehrer Wilhelm Gies mehrfach erwähnt, aber diese Anekdote ganz weggelassen.
Offen bleiben mehrere Fragen: Woher hat Wilhelm Gies den angeblichen Ausspruch Theodor Mommsens bezogen? Mit wem hat der 1918 verstorbene Ferdinand Braun über seinen Lehrer gesprochen und diese Anekdote erzählt?
Sollte der Ausspruch nicht von Theodor Mommsen stammen: Wer hat dann das Zitat geprägt?
Als Urheber des Zitats kommen auch Altphilologen infrage. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nannten klassisch gebildete Gymnasialdirektoren die vermehrt angebotenen naturwissenschaftlichen und mathematischen Unterrichtsfächer "barbarische Eindringlinge" (Link), und Mathematiklehrer beklagten sich über die Geringschätzung ihrer Fachgebiete durch die Mehrzahl der anderen Gymnasialpädagogen (Link).
1850
- "Man hat vielfach die Befürchtung ausgesprochen, daß mit der Missachtung und der Verbannung der alten Sprachen und der Einführung der Naturwissenschaften (Realien) in die höheren Schulen die Barbarei ausbrechen werde."
Friedrich Traugott Kützing: "Die Naturwissenschaften in den Schulen als Beförderer des christlichen Humanismus" 1850, S. 33 (Link)
1873
- Ein sächischer Rektor hat einen
"Mathematik treibenden Zögling mit den Worten 'was treiben Sie da für Barbarica?!' angedonnert, ein anderer die Mathematik für 'dummes Zeug' erklärt [...]. Dass ein dritter sie laut ein 'Nebenfach' nannte, hat Referent selbst gehört."
'Zeitschrift für mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht', Vierter Jahrgang, 1873, S. 428f. (Link)
Die meisten Kuckuckszitate werden heute von Nichtakademikerinnen und Nichtakademikern in den sozialen Medien verbreitet.
Dieses angebliche Mommsen-Zitat wird hauptsächlich von Universitätsprofessoren verbreitet, also von Leuten, die ihren Studentinnen und Studenten beibringen sollten, wie man korrekt zitiert und Sekundärzitate kennzeichnet.
- "Denn das ist der eigentliche Skandal bei der Geschichte des angeblichen
Mommsen-Zitats: Die meisten der [...] Autoren, die das Pseudozitat
verbreitet haben, sind oder waren Professoren an deutschen
Universitäten."
Andreas Kleinert: "So kommt die historische Forschung auf den Hund". FAZ, 15. April 2020
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Quellen:
Andreas Kleinert: "So kommt die historische Forschung auf den Hund". Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. April 2020, Nr. 88, S. N3 (fazarchiv.faz.net)
Andreas Kleinert: "Ohne den Hinweis, dass es sich um ein Sekundärzitat handelt, finden wir Mommsens Jagdhund bei Ernst Peter Fischer ("Glanz und Elend der zwei Kulturen", 1991) und bei Katja Schwiglewski ("Erzählte Technik", 1995). In "Kultur & Technik", der Zeitschrift des Deutschen Museums, ist das Zitat noch 2014 (Heft 1) ohne Quellenangabe reproduziert worden. "
Theodor Ickler, Kommentar zum FAZ-Artikel, 15/4 2020 (Link)
1965: Friedrich Kurylo: "Ferdinand Braun. Leben und Wirken des Erfinders der Braunschen Röhre", Heinz Moos Verlag, München: 1965, S. 18 (Link)
1981: Friedrich Kurylo: "Ferdinand Braun, A Life of the Nobel Prizewinner and Inventor of the Cathode-Ray Oscilloscope", übersetzt von Charles Susskind, revised edition of Kurylo: "Ferdinand Braun", München; 1955, MIT Press, Cambr. / London: 1981, S. 7 (keine Erwähnung Mommsens)
1985: Hans Queisser: Kristallene Krisen. Mikroelektronik - Wege der Forschung, Kampf der Märkte. Piper, München: 1985, S. 13 (Link)
1873: Rezension von H. (J.C.V. Hoffmann?) eines Buchs über die Geschichte des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts von Dr. C. Heym, in: 'Zeitschrift für mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht', Vierter Jahrgang, Verlag B.G. Teubner, Leipzig: 1873, S. 428f. (Link)
1850: Friedrich Traugott Kützing: "Die Naturwissenschaften in den Schulen als Beförderer des christlichen Humanismus" Verlag Adolph Büchting, Nordhausen: 1850, S. 33 (Link)
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Dank:
Ich danke Ralf Bülow sehr für seinen Hinweis auf die mathematischen "Barbarica" im 19. Jahrhundert und Andreas Kleinert für seinen sorgfältig recherchierten Artikel zu diesem Kuckuckszitat.