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Sonntag, 18. November 2018

"Gott ist tot, Marx ist tot, und ich selber fühle mich nicht sehr gut." Eugène Ionesco (angeblich)

In Frankreich wird neuerdings dieser Witz oft dem amerikanischen Filmregisseur Woody Allen zugeschrieben und in Deutschland und Amerika dem französisch-rumänischen Autor Eugène Ionesco. 



Manchmal wird behauptet, dieser Witz, der in einigen Varianten jahrzehntelang auf vielen Haus- und Klowänden der westlichen Welt verbreitet wurde, sei im Mai 1968 in Paris entstanden. 

Meinen Recherchen nach hat den Spruch aber wahrscheinlich der französische Autor Michel Le Bris Mitte der 1970er Jahre geprägt. Meines Wissens gibt es keinen Beleg für die Vermutung, der Spruch stamme in diesem Wortlaut aus dem Jahr 1968 oder von Woody Allen oder Eugène Ionesco.

Eugène Ionesco zitiert den Witz 1977 in einem Artikel in der Zeitung "Le Figaro", meint aber, der Spruch wäre ein Slogan im Pariser Mai 1968 gewesen (Link). Man sollte nicht Eugène Ionesco einen Witz zuschreiben, den er selbst anderen zuschreibt und für den er die Autorschaft nicht beansprucht.

Zwei Jahre vor  Eugène Ionescos Artikel taucht der Witz in den digitalisierten Texten erstmals auf: Michel Le Bris, der damals als maoistischer Philosoph galt, plane ein Buch mit dem Titel "Gott ist tot, Marx ist tot, und ich selber fühle mich nicht sehr gut", steht 1975 und 1977 in französischen und englischen Zeitschriften.

Die Metapher "Marx ist tot" ("Marx est mort") war der Titel eines Pamphlets aus dem Jahr 1970, mit dem der  französischen Philosoph Jean-Marie Benoist seinen Abschied von marxistischen Theorien erklärte. 

Vor 1970 war die Diagnose "Marx est mort" - wenn man Google-Suchen glauben kann - in Frankreich völlig unbekannt.  Ein Witz mit der Metapher "Marx est mort" kann also erst nach 1970 entstanden sein. (Zukünftige Recherchen kommen vielleicht zu einem anderen Ergebnis.) 

Gut belegt ist hingegen die Behauptung, dass auf einer Mauer der Sorbonne 1968 die Parole "Nietzsche ist tot" zu lesen war:

 Paris, Sorbonne, 1968:


  • "GOTT IST TOT
        Unterschrieben Nietzsche"
Am nächsten Tag stand darunter:
  • "NIETZSCHE IST TOT!
          Unterschrieben Gott"

    Quelle, zum Beispiel: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Ausgabe 4, C. Winters Universitätsbuchhandlung, Heidelberg: 1969, S. 9  (Link)
Wie die irrtümliche Zuschreibung des "Marx ist tot"-Spruchs an Woody Allen entstanden ist, kann ich noch nicht sagen. Jemand müsste den Nachweis erbringen, dass Allen diesen Witz vor 1975 geprägt hat, damit er als dessen Urheber bezeichnet werden könnte.

Artikel in Arbeit.
______
Quellen:
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Ausgabe 4, C. Winters Universitätsbuchhandlung, Heidelberg: 1969, S. 9  (Link)

Zuschreibungen an Michel Le Bris:
1975 (Link) /books.google
1977: "le point", Nr. 250, 4. Juli 1977, S. 37  books.google

Eugène Ionesco:  (Link)

Irrtümlich Eugène Ionesco zugeschrieben: Google
Hans-Horst Skupy: "Das große Handbuch der Zitate" (Erstausgabe: 1993) Sonderausgabe Bassermann Verlag, München: 2013, 2. Auflage 2017, S. 527


Irrtümlich Woody Allen zugeschrieben: Google
1992: books.google
1997: books.google
2006: books.google

 Dieu est mort, Marx est mort, et moi-même je ne me sens pas très bien.




1990
Ionesco

Montag, 12. März 2018

"Nur weil du paranoid bist, heißt das noch lang nicht, dass sie nicht trotzdem hinter dir her sind.“ Woody Allen (angeblich)

Screenshot.
Dieser Witz stammt aus den1960er Jahren von einer unbekannten Autorin oder einem anonymen Autor und wurde damals durch Graffiti und Sticker verbreitet, wie Graffiti-Sammler 1971 dokumentierten.

Erst päter wurde er Joseph Heller, Woody Allen, Delmore Schwartz, Henry Kissinger, John Hart, Terry Pratchett, Kurt Cobain und anderen zugeschrieben. Henry Kissinger scheint ihn so ähnlich  1973 wirklich gesagt zu haben und auch Kurt Cobain hat ihn in seinem Song Territorial Pissings (Nirwana, 1991)  eingebaut, aber nicht geprägt.  

Die Behauptungen, die Wendung komme in einem Film Woody Allens oder in Catch 22 vor, konnten bisher nicht verifiziert werden, sind also aller Wahrscheinlichkeit nach falsch, da schon seit Jahren vergeblich danach gesucht wurde. 

Der Quote Investigator hat den Ursprung des Witzes dokumentiert und sich den Film Catch 22 genau angeschaut (Link).

1960er Jahre
1973
  • "just because i’m paranoid, delmore schwartz used to say, doesn’t mean i don’t have enemies."
    (Link).
     
  •  Henry Kissinger
    (Link).

1981

  • "'I'm proud to be human. Make no mistake! As for the other,' he said, turning, 'just because you're paranoid doesn't mean They aren't out to get you."
    Terry Pratchett, Strate (EA 1981),  
    (LINK)
 1991
  • "Gotta find a way
    To find a way
    When I'm there
    Gotta find a way
    A better way
    I had better wait

    Just because you're paranoid
    Don't mean they're not after you"
    Chet Powers und Kurt Cobain:  Territorial Pissings (Nirwana, 1991)
1993, Woody Allen?
  • Anscheinend erstmals Woody Allen zugeschrieben; ohne Quellenangabe.  (Link)
2108
  • "Die Tatsache, dass ich ein Paranoiker bin, bedeutet nicht, dass sie nicht trotzdem hinter mir her sind. (Woody Allen)"

Der Witz wurde also von Henry Kissinger,  Delmore Schwartz, Terry Pratchett und Kurt Cobain verwendet, er stammt aber aus einer unbekannten Quelle aus den 1960er Jahren. Joseph Heller und Woody Allen scheint er irrtümlich zugeschrieben zu werden.
______ 
Quellen:

Quote Investigator:  "Even Paranoiacs Have Real Enemies  Henry Kissinger? Delmore Schwartz? Sigmund Freud? Virginia McManus? Mark Harris? Buck Henry? Joseph Heller? Anonymous?" 2016  (Link):

Artikel in Arbeit

 (Link)

(Link)

Samstag, 27. Mai 2017

"Der Vorteil der Klugheit liegt darin, dass man sich dumm stellen kann. Das Gegenteil ist schon schwieriger." Kurt Tucholsky (angeblich)

Pseudo-Kurt-Tucholsky-Zitat.

Dieser beliebte Aphorismus wird seit etwa 50 Jahren in vielen Sprachen fäschlich Kurt Tucholsky zugeschrieben, und ist inzwischen auf Spanisch noch mehr verbreitet als auf Deutsch oder auf Englisch.

Pseudo-Kurt-Tucholsky-Zitat.

Bei einer chronologischen Durchsuchung deutschsprachiger Zeitungen taucht das Zitat erstmals am 11. Oktober 1971 als "Spruch des Tages" in der Oldenburger Ausgabe der Nordwest Zeitung auf:

 
Nordwest Zeitung, 11. Oktober 1971, S. 4.

Das von einer unbekannten Person geprägte Kuckuckszitat steht seit dem Jahr 1974 auch in  diversen Zitatesammlungen, zum Beispiel in Harenbergs "Lexikon der Sprichwörter und Zitate" sowie im Band "Zitate und Aussprüche" des DUDEN Verlags.

Dass dieser Aphorismus in den Briefen und Schriften des 1935 verstorbenen Satirikers Kurt Tucholsky nicht zu finden ist, hat Friedhelm Greis auf seinem amüsanten und informativen Sudelblog aufgedeckt.


Varianten des Pseudo-Kurt-Tucholsky-Zitats:


  • "Der Vorteil der Klugheit besteht darin, dass man sich dumm stellen kann. Das Gegenteil ist schon schwieriger."
  • "Der Vorteil der Klugheit liegt darin, dass man sich dumm stellen kann. Das Gegenteil ist schon schwieriger." 
  • "La ventaja de ser inteligente es que así resulta más fácil pasar por tonto. Lo contrario es mucho más difícil." 
  • "The advantage of being intelligent is that you can pretend to be stupid. The opposite is rather difficult."
  • "The advantage of wisdom is that you can play dumb. The opposite is more difficult."


Pseudo-Kurt-Tucholsky-Zitat.

 
Pseudo-Woody-Allen-Zitat:
 
 
In Frankreich und in Italien wird dieser vor 50 Jahren in Deutschland entstandene Aphorismus im 21. Jahrhundert dem amerikanischen Regisseur Woody Allen untergeschoben.
 
Auf Französisch ist dieses angebliche Woody-Allen-Zitat seit dem Jahr 2007 auf Twitter zu finden, auf Italienisch seit 2008 und die englische Version erst seit dem Jahr 2009.
  • "The advantage of being smart is that you can always act like an idiot, but the opposite is completely impossible."  (twitter)
  •  "The advantage of being intelligent, is that we can always play stupid, however being the opposite is completely impossible"


  • "L'avantage d'être intelligent, c'est qu'on peut toujours faire l'imbécile, alors que l'inverse est totalement impossible." (twitter)
Pseudo-Woody-Allen-Zitat.
 
  • "Il vantaggio di essere intelligente è che si può sempre fare l'imbecille, mentre il contrario è del tutto impossibile." (twitter.)
Pseudo-Woody-Allen-Zitat.
 
Aber in Woody Allens Texten kommt dieses Zitat meines Wissens so wenig vor wie in den Texten Kurt Tucholskys. 
 

 
__________ 
 
 

Quellen:
Google Books; Suche ohne "Tucholsky": Google Books
Google-Statistik, Spanisch: "Ungefähr 3 050 Ergebnisse"
Google-Statistik, Deutsch: "Ungefähr 2 480 Ergebnisse"
Friedhelm Greis: Sudelblog, Angebliche Tucholsky-Zitate

Beispiele für falsche Zuschreibungen:
Nordwest Zeitung, Ausgabe Oldenburger Nachrichten, Nr. 236, 11. Oktober 1971, S. 4 
Nordwest Zeitung, Nr. 105, 7. Mai 1974 [ohne Seitenangabe] "Spruch des Tages"
Markus M. Ronner: "Die Treffende Pointe: humoristisch-satirische Geistesblitze des 20. Jahrhunderts nach Stichwörtern alphabetisch geordnet." Ott Verlag, Thun: 1974, S. 52 (archive.org)
Dudenredaktion: Duden - Zitate und Ausspüche, Band 12, Duden Verlag, Mannheim: 1993, S. 650
"Harenberg Lexikon der Sprichwörter u. Zitate: mit 50000 Einträgen das umfassendste Werk in deutscher Sprache." (1997) 3. Auflage 2002, Harenberg Verlag, Dortmund: 2002, S. 653
"Die Weltbühne", Hrsg. von  Hermann Budzislawski, Band 36, Ausgaben 1-26, Verlag der Weltbühne, Ost-Berlin: 1981, S. 352 (Link)
Humberto Herrera Carles: "1500 Frases, pensamientos para la vida." Verlag: unbekannt, Kindle Edition: 2011 (Link)
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Dank:
Ich danke Friedhelm Greis für seine Liste angeblicher Tucholsky-Zitate auf seinem  informativen Sudelblog zu Kurt Tucholsky.

Letzte Änderung: 29/11 2021; 9/1 2023 (Zusatz Ronner, dank Friedhelm Greis; Woody Allen.)