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Sonntag, 9. Mai 2021

"So ein herrlicher Tag, und ich soll gehen. Aber was liegt an unserem Leben, wenn wir es damit schaffen, Tausende von Menschen aufzurütteln und wachzurütteln." Sophie Scholl (angeblich)

 
Entstelltes Sophie-Scholl-Zitat.

Sophie Scholl sagte an einem Tag vor ihrer Hinrichtung zur kommunistischen Widerstandskämpferin Else Gebel, die mit ihr im Münchner Gestapo-Gefängnis inhaftiert war:

  • "Was liegt an meinem Tod, wenn durch unser Handeln Tausende von Menschen aufgerüttelt und geweckt werden."
Dieser von Else Gebel überlieferte Satz wird im 21. Jahrhundert in Zeitungen und sozialen Medien entstellt zitiert, und aus den Worten "was liegt an meinem Tod" wurde zum Beispiel die Wendung "was liegt an unserem Leben", die doch nicht die gleiche Bedeutung hat.
 
Else Gebel verbrachte die letzten Tage von Sophie Scholl mit ihr in einer Gestapo-Gefängniszelle und hat auf Wunsch des Vaters von Sophie Scholl 1945 ihre Erinnerungen daran niedergeschrieben und dabei die Form eines Briefes an Sophie Scholl gewählt.
 
Diese Erinnerungen von Else Gebel an Sophie Scholl, die nach vier Tagen Haft am 22. Februar 1943 enthauptet wurde, hat ihre Schwester Inge Scholl 1952 in ihrem Buch "Die Weiße Rose" publiziert. 

Else Gebel: "Dem Andenken an Sophie Scholl", 1945 

 
  •  "Vor mir liegt Dein Bild, Sophie, ernst fragend, zusammen mit Deinem Bruder und Christoph  Probst aufgenommen."
    [...]
  • "Draußen ist ein sonniger Februartag. Menschen gehen froh und heiter an diesen Mauern vorüber, nicht ahnend, dass hier wieder drei mutige, wahrhafte Menschen dem Tod überantwortet werden sollen. Wir haben uns auf unsere Betten gelegt, und du stellst mit leiser, ruhiger Stimme Betrachtungen an. 'So ein herrlicher sonniger Tag, und ich muss gehen. - Aber wie viele müssen heutzutage auf den Schlachtfeldern sterben, wie viele junge, hoffnungsvolle Männer ... Was liegt an meinem Tod, wenn durch unser Handeln Tausende von Menschen aufgerüttelt und geweckt werden. Unter der Studentenschaft gibt es bestimmt eine Revolte.' - O Sophie, du weißt noch nicht, wie feig die Herde Mensch ist. - 'Ich könnte doch auch an einer Krankheit sterben, aber hätte das den gleichen Sinn?' - Ich versuche dir wieder einzureden, dass es doch leicht möglich sein könnte, dass du mit einer längeren Freiheitsstrafe durchkommen könntest. Aber davon willst du nichts wissen. 'Wenn mein Bruder zum Tode verurteilt wird, so will und darf ich keine mildere Strafe bekommen. Ich bin genauso schuldig wie er'."
    Else Gebel (1945) in:  Inge Scholl: "Die weiße Rose", 1952 (Link) Hier zitiert nach mythoselser.de.

Seit kaum 10 Jahren wird dieses Zitat entstellt und zusätzlich wird manchmal fälschlich behauptet, dieses Sophie-Scholl-Zitat habe sie selbst in ihr Tagebuch oder in ihrem letzten Brief geschrieben, oder es wären ihre letzten Worte auf dem Weg zum Schafott gewesen.

 

Beispiele für falsche Zitierungen: 

2013
Früheste falsche Zitierung auf Twitter.

Twitter, 2013 (Link)

2017
  • "So ein herrlicher Tag, und ich soll gehen, schreibt Sophie Scholl in ihrem letzten Brief an diesem Tag im Jahre 1943: 'Aber was liegt an unserem Leben, wenn wir ..." ((books.google)

 2019

  • "Auf dem Weg zum Schafott waren ihre letzten Worte: »So ein herrlicher Tag, und ich soll gehen. Aber was liegt an unserem Leben, wenn wir es damit schaffen, Tausende von Menschen aufzurütteln und wachzurütteln.(books.google)

 2021

  • "Am Tag ihrer Hinrichtung schrieb Sophie Scholl: "So ein herrlicher Tag, und ich soll gehen. Aber was liegt an unserem Leben, wenn wir es damit schaffen, Tausende von Menschen aufzurütteln und wachzurütteln". ((unesco.de)

2021

  • "»So ein herrlicher, sonniger Tag, und ich soll gehen. Aber was liegt an unserem Leben, wenn durch unser Handeln Tausende von Menschen aufgerüttelt werden«, schreibt Sophie am 22. Februar 1943 in ihr Tagebuch."
    Antonia Bauer
    : "Wer war Sophie Scholl?"  (spiegel.de)

 

 

 Artikel in Arbeit.

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Quellen:

Else Gebel: "Dem Andenken an Sophie Scholl" (1945)  Erstdruck in: Deutsche Nachrichten, Dänemark, 18. Oktober 1948, S. 4 [Zitiert nach Christian Ernst]
Else Gebel: "Dem Andenken an Sophie Scholl" [Mit Auslassungen] in: Inge Scholl: "Die weiße Rose", Fischer Verlag, Frankfurt/Main:1952; 7. Auflage: 1982, S. 77 (Link)
Christian Ernst: "Die Weiße Rose – eine deutsche Geschichte? Die öffentliche Erinnerung an den Widerstand in beziehungsgeschichtlicher Perspektive." Universitätsverlag Osnabrück, Göttingen: 2018, S. 140-143 (Link)
Auszug aus Ingo Scholls "Die weiße Rose": mythoselser.de/
Mohr: http://www.mythoselser.de/texts/scholl-mohr.htm
Antonia Bauer: "Wer war Sophie Scholl?" Für Kinder erklärt, (spiegel.de) 
 
 
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Dank: Ich danke libris für den Hinweis auf das entstellte Zitat.

 

 

 

 

 

 

 

Samstag, 22. August 2020

"Der größte Schaden entsteht durch die schweigende Mehrheit, die nur überleben will, sich fügt und alles mitmacht." Sophie Scholl (angeblich)

Pseudo-Sophie-Scholl-Zitat.
Dieser Satz wird anscheinend erst seit dem Juli 2020 der Widerstandskämpferin Sophie Scholl fälschlich zugeschrieben und ist besonders bei Rechtsextremen beliebt, die die Politik Angela Merkels hassen.

Pseudo-Sophie-Scholl-Zitat.
In ihren Briefen und in den Fluglättern der "Weißen Rose" kann dieser Satz schon allein deswegen nicht gefunden werden, weil der politische Terminus "schweigende Mehrheit" vor dem Jahr 1945 im deutschen Sprachraum (fast) unbekannt war.

Erst durch Berichte über eine TV-Rede Richard Nixons, in der er am 3. November 1969 die große "silent majority"  Amerikas um Unterstützung bat, wurde diese englische Metapher auch auf Deutsch allgemein bekannt.

Wer den Satz von der schweigenden Mehrheit als Erster Sophie Scholl zugeschrieben hat, ist unbekannt.

Vielleicht entstand das Kuckuckszitat aus einer Fehlerinnerung an einen Text der Stiftung Weißer Rose, worin zum Flugblatt II der Weißen Rose gesagt wird, die Verfasser sprächen hier "der schweigenden Mehrheit in Deutschland eine Mitschuld zu, weil sie dazu beitrug, dass 'diese Regierung überhaupt entstehen konnte' (Link) ".

Inzwischen ist dieses Kuckuckszitat in dieser kurzen Zeit laut Google-Statistik schon fast so weit verbreitet wie  der folgende schöne Appell, der wirklich auf einem Flugblatt der "Weißen Rose" stand:





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ZITATFORSCHUNG unterstützen.

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Artikel in Arbeit.

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Quellen:
Zu "schweigende Mehrheit": Chronologische Suchen in Google books, archive.org, anno und genios.de.

Früheste Belege für den Terminus "schweigende Mehrheit" in deutschen Zeitungen laut genios.de:
1. Nordwest Zeitung, Ausgabe Oldenburger Nachrichten vom  5.11.1969, Leitartikel, S. 2
2. DIE ZEIT, 7. 11. 1969, "Nixons Wettlauf mit der Zeit"
Früher vereinzelter Beleg laut anno:
 Deutsche Volkszeitung, 25. April 1932, Nr. 115, S. 2 (anno)
 [Zwischen 1933 und 1945 habe ich in den digitalisierten Texten keinen einzigen Beleg gefunden; Belege für die nichtmetaphorische Verwendung der Wörter "schweigende Mehrheit" zähle ich nicht.]

Wikipedia:  "silent majority"  
Google "Ungefähr 3 000 Ergebnisse (0,66 Sekunden)"
Google "Ungefähr 4 360 Ergebnisse (0,30 Sekunden)"
[Die Google-Ergebnisstatistiken verändern sich manchmal an einem Tag um bis zu 50% , sind also unverlässlich.]
II. Flugblatt der Weißen Rose
V. Flugblatt der Weißen Rose (Link) 
(Link) 

Erste Erwähnung des Kuckuckszitats auf Twitter: 20. Juli 2020 (Link)
Frühe Erwähnung auf Facebook: 20. Juli 2020 (Link)

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Dank:
Ich danke Musenginst für die Frage zu diesem Falschzitat und Moritz Jacob für Korrekturen und seine Recherchen zum Begriff "schweigende Mehrheit".



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Anhang

 

II. Flugblatt der Weißen Rose, über die Mitschuld der deutschen Bevölkerung, 1942:

 

  •  "Es scheint so und ist es bestimmt, wenn der Deutsche nicht endlich aus dieser Dumpfheit auffährt, wenn er nicht protestiert, wo immer er nur kann gegen diese Verbrecherclique, wenn er mit diesen Hunderttausenden von Opfern nicht mitleidet. Und nicht nur Mitleid muß er empfinden, nein, noch viel mehr: Mitschuld. Denn er gibt durch sein apathisches Verhalten diesen dunklen Menschen erst die Möglichkeit, so zu handeln, er ­leidet diese „Regierung“, die eine so unendliche Schuld auf sich geladen hat, ja, er ist doch selbst schuld daran, daß sie überhaupt entstehen konnte! Ein jeder will sich von einer solchen Mitschuld freisprechen, ein jeder tut es und schläft dann wieder mit ruhigstem, bestem Gewissen. Aber er kann sich nicht freisprechen, ein jeder ist schuldig, schuldig, schuldig!"
    (II. Flugblatt der Weißen Rose)













Dienstag, 25. September 2018

"Nicht: es muss sich etwas ändern, sondern: ich muss etwas tun!" Hans Scholl (angeblich)

Pseudo-Hans-Scholl-Zitat.
Diese Parole, mit der neuerdings AfD-Funktionäre werben, wird irrtümlich Hans Scholl zugeschrieben und stammt entweder von Willi Graf, einem anderen zum Tod verurteilten Mitglied der "Weißen Rose", oder wahrscheinlich von dessen Schwester Anneliese Knoop-Graf, wie Ralf Bülow herausgefunden hat.

Es ist doppelt absurd, wenn Nationalisten sich auf Widerstandskämpfer berufen, die von den mörderischsten Nationalisten des 20. Jahrhunderts enthauptet wurden und das Zitat noch dazu falsch ist.


Weiße Rose Stiftung e.V.


  • "Die Werte der Weissen Rose dürfen nicht missbraucht werden!
    Die Widerstandsgruppe Weisse Rose steht zeitübergreifend für Freiheit, Toleranz und Achtung der Menschenwürde. Wer mit Hass und Hetze gegen Minderheiten und Andersdenkende vorgeht, kann sich nicht auf sie berufen. Er verstößt vielmehr gegen die ethischen Grundprinzipien, für die die Weisse Rose nach wie vor steht. Wir halten es daher für verwerflich, wenn einzelne Personen der Widerstandsgruppe aktuell aus höchst durchsichtigen parteipolitischen Werbezwecken als Gallionsfiguren missbraucht werden. (...)

    Die Weiße Rose Stiftung e.V. sieht es als ihre Aufgabe, über die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur das Bewusstsein für unsere Gegenwart zu schärfen und sich gegen eine Instrumentalisierung hochgeachteter Personen des Widerstands zu wenden. Der aktuelle Missbrauch durch Vertreter der AfD ist auf das Schärfste zu verurteilen."
Gez. Hildegard Kronawitter, Vorsitzende | Weiße Rose Stiftung e.V.
-

Das Zitat taucht in den digitalisierten Texten im Jahr 1987 erstmals auf. Die Publizistin Anneliese Knoop-Graf, die 1943 gemeinsam mit ihrem Bruder verhaftet wurde, schreibt in ihren Erinnerungen an ihren Bruder Willi Graf:

1987
  • "Auf diese grauenvolle Wirklichkeit hatte Willis Gewissen reagiert: Nicht: Es muß etwas geschehen, sondern: Ich muß etwas tun. Im April 1942 wurde Willi nach München beurlaubt und lernte hier in einer Studentenkompanie Hans Scholl und Alexander Schmorell kennen ..."

    Anneliese Knoop-Graf: "Will Grafs Weg in den Widerstand."  S. 433ff.; S. 442 (Link)
Es ist diesem Absatz nicht eindeutig zu entnehmen, ob Anneliese Knoop-Graf den Entschluss ihres  Bruders, Widerstand zu leisten, hier zitiert oder paraphrasiert. Bezeugt sind Willi Grafs wütende Worte: "Es muss doch etwas getan werden, auch wenn es den Kopf kosten sollte (Link)", und: "Ihr werdet sehen — es wird etwas geschehen (Link)".


Anscheinend wurde der Satz von Anneliese Knoop-Graf im Jahr 2005 erstmals in einem Ratgeberbuch für Ärzte irrtümlich Hans Scholl zugeschrieben und kurz später wurde diese Falschzuschreibung durch eine Zitatsammlung verbreitet. 

Dass dieses Zitat in Hans Scholls Schriften und Briefen  nicht enthalten ist, hat kürzlich nach der Weiße Rose Stiftung auch die Historikerin Miriam Gebhardt bestätigt (Link), die 2017 die Studie, "Die Weiße Rose. Wie aus ganz normalen Deutschen Widerstandskämpfer wurden", publizierte.


2015, Dresden; Zitat von Anneliese Knoop-Graf; irrtümlich Hans Scholl unterschoben.

 

 Früheste falsche Zuschreibungen an Hans Scholl:


2005
  • "Der Nazigegner Hans Scholl hat das treffend formuliert: 'Nicht: Es muss etwas geschehen, sondern: Ich muss etwas tun!'" S. 65 (Link)
 2007 
  •  "Nicht: Es muss etwas geschehen, sondern: Ich muss etwas tun. Hans Scholl, dt. Widerstandskämpfer, 1918–1943" S. 52 (Link)

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Quellen:
Anneliese Knoop-Graf: "Will Grafs Weg in den Widerstand." In: Peter Steinbach, ‎Winfried Becker (Hrsg.): "Widerstand: ein Problem zwischen Theorie und Geschichte."  Verlag Wissenschaft und Politik, Köln: 1987, S. 433ff.; S. 442 (Link) 
Stefan Ludmann: "Weiße Rose Stiftung wehrt sich gegen AfD", NDR.de, 24. September 2018 (Link)
Ludwig Hang: "Flugblatt und Gedicht Lebenszeugnisse des Saarbrücker Widerstandskämpfers Willi Graf",  DIE ZEIT 36/1988, 2. September 1988 (Link)
Peter Goergen: "Willi Graf - ein Weg in den Widerstand", Röhrig Universitätsverlag, Band 11 Schriftenreihe der Stiftung Demokratie Saarland, St. Ingbert: 2009, S. 164  (Link)
weisse-rose-stiftung.de/ 

Beispiele für falsche Zuschreibungen an Hans Scholl:
2005: Heinz Welling: "Kommunikation in der Medizin: Leitfaden für die erfolgreiche Praxisführung", ecomed medizin, 2. überarb. Auflage, Landsberg/Lech: 2005, S. 65 (Link) 
2007: Gisela Fichtl: "Zitate für Beruf und Karriere", Haufe, 4. Auflage, Planegg/München: 2007, S. 52 (Link) 
2010 (Link) 
aphorismen.de/zitat/203309 
gutezitate.com/zitat/119008
viabilia.de/hans-scholl/autor




 
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Ich danke Ralf Bülow für den Hinweis auf dieses Zitat und seine Recherchen dazu wieder einmal sehr.


 Artikel in Arbeit.