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Samstag, 17. September 2022

"Mein Bleistift ist klüger als ich." Albert Einstein (angeblich)

Der Philosoph Karl Popper hat 10 Jahre nach Albert Einsteins Tod das angebliche Albert-Einstein-Zitat "My pencil is more intelligent than I" im Jahr 1966 erstmals publiziert und alle späteren Varianten dieses Einstein-Zitats beziehen sich direkt oder indirekt auf diese erstmalige Erwähnung, wie der amerikanische Zitatforscher Garson O' Toole dokumentiert hat (quoteinvestigator).

Sir Karl Popper hat in späteren Publikationen diese Einstein-Worte noch mehrmals zitiert. In den deutschen  Übersetzungen wurden sie mit "Mein Bleistift ist schlauer als ich" oder "Mein Bleistift ist klüger als ich" wiedergegeben.


Karl Popper:

  • "Einstein sagte einmal: 'Mein Bleistift ist schlauer als ich'.  Was er meinte, läßt sich vielleicht so ausdrücken: mit einem Bleistift können wir mehr als doppelt so leistungsfähig sein als ohne ihn."
    Karl R. Popper, John C. Eccles: "Das Ich und sein Gehirn" 1982, Übersetzer: Willy Hochkeppel (Link)

Albert Einstein könnte diesen Satz auf Deutsch oder auf Englisch so oder so ähnlich einmal gesagt haben, aber wir wissen nicht wann und wo, da Karl Popper keine Quelle für dieses Zitat angegeben hat.

Angebliche Albert-Einstein-Zitate (quoteinvestigator):

1966: My pencil is more intelligent than I. [laut Popper]
1969: My pencil is cleverer than I am. 
[laut Popper]
1982: Mein Bleistift ist schlauer als ich. 
[laut Popper]
1985: My pencil is sharper than I am.
2011: My pencil and I are more clever than I.
2012: Mein Bleistift ist klüger als ich.
 [laut Popper]


Dass das Schreibzeug klüger sein kann als sein Autor ist aber eine Wendung, die Albert Einstein nicht geprägt haben kann, weil sie so ähnlich schon vier Jahrzehnte vor Einsteins Geburt in einem Brief  Heinrich Heines an seinen Verleger vorgekommen ist und vor Albert Einstein auch dem Mathematiker Leonhard Euler von dem Physiker Ernst Mach zugeschrieben wurde.

1839/1917

Heinrich Heine:

  •  "genug, die Feder ist klüger als ich, und will nicht weiter schreiben. Leben Sie wohl."
    Heinrich Heine an Julius Campe, Paris, 30. September 1839,  1917 (Link)

Heinrich Heine verwandte die Metapher von der klügeren Feder selbstironisch, der österreichische Physiker Ernst Mach benannte aber damit das befremdliche Gefühl von rationalistischen Mathematikern, die bei der Lösung eines mathematischen Problems in ein Flow kommen:

1882

Ernst Mach:


  • "Wer Mathematik treibt, den kann zuweilen das unbehagliche Gefühl überkommen, als ob seine Wissenschaft, ja sein Schreibstift, ihn selbst an Klugheit überträfe, ein Eindruck, dessen selbst der große EULER nach seinem Geständnisse sich nicht immer erwehren konnte. Eine gewisse Berechtigung hat dieses Gefühl, wenn wir bedenken, mit wie vielen fremden oft vor Jahrhunderten gefaßten Gedanken wir in geläufigster Weise operieren.

    Es ist wirklich teilweise eine fremde Intelligenz, die uns in der Wissenschaft gegenübersteht. Mit der Erkenntnis dieses Sachverhalts erlischt aber wieder das Mystische und Magische des Eindruckes, zumal wir jeden der fremden Gedanken, sobald wir nur wollen, nachzudenken vermögen."
    Ernst Mach: "Die ökonomische Natur der physikalischen Forschung.", Wien am 25. Mai 1882 (Link) 

Man kann die Metapher von der klügeren Feder auch boshaft verwenden, wie der Wiener Feuilletonist Raoul Auernheimer 1906 in einer Kritik eines missliebigen Autors bewies:

1906

Raoul Auernheimer:

  • "Allmählich erst mag er [der französische Autor Georges Courteline] eingesehen haben, daß auch in diesem Falle, wie in manchem andern, die Feder klüger war als der Schreiber und dann selbstbewußt fortgesetzt habe, was er instinktiv erraten hatte."
    Raoul Auernheimer: "Im Lachkabinett des Herrn Courteline", Neue Freie Presse,18. Februar 1906, S. 2 (anno)

Seit dem Jahr 1924  wird dem unfassbar produktiven Basler Mathematiker Leonhard Euler das Zitat in dem Wortlaut sein "Bleistift" sei "klüger als er" zugeschrieben:


1924

Walther Lietzmann:

  • "Euler soll einmal gesagt haben, es scheine ihm oft, als sei sein Bleistift klüger als er."
    Walther Lietzmann: Methodik des mathematischen Unterrichts. Quelle und Meyer Verlag, Leipzig: 1924, S. 195 (Link)

1936

Max Adler: 

  • "so hat Ernst  M a c h  einmal davon gesprochen, daß den Mathematiker bei Entwicklung seiner Gleichungen manchmal das unheimliche Gefühl beschleiche, als ob sein Bleistift klüger wäre als er selbst."
    Max Adler: "Das Rätsel der Gesellschaft. Zur erkenntnis-kritischen Grundlegung der Sozialwissenschaft." (Link)

1936

Auch den Theologen und Kirchenhistoriker Alfred von Harnack, bei dem Dietrich Bonhoeffer studiert hat, überkam in besonders produktiven Schreibphasen das Gefühl, seine Feder sei klüger als er selbst, wie seine Tochter Agnes von Zahn-Harnack in der Biographie über ihren Vater schrieb:

Adolf von Harnack:

  •  "Dreizehn Monate sind für eine solche Niederschrift eine kurze Zeit; Harnack aber hat oft geschildert, wie er sich in solchen Perioden gesteigerter Produktion von geistigen Kräften beflügelt fühlte, über die er sich selbst kaum Rechenschaft geben konnte, und er pflegte wohl bei der Durchsicht des Geschriebenen zu sagen: 'Meine Feder ist klüger als ich.' Die Wortprägungen, die Bilder strömten ihm dann zu, und der Aufbau des Werkes erhob sich in klaren Umrissen und künstlerisch schönen Abmessungen unter seiner Hand. Ein so schnelles Arbeiten war nur möglich, weil er sein Werk schon jahrelang im Geist mit sich getragen und das Material unermüdlich gesammelt, gesichtet und gruppiert hatte."
    Agnes von Zahn-Harnack: "Adolf von Harnack" 1936   (archive.org)


Und auch Albert Einsteins Freund und Kollege Kurt Gödel, mit dem er bekanntlich gerne in Princeton spazieren ging, hat in seinen erst kürzlich publizierten Notizbüchern etwas zum Phänomen des intelligenten Bleistifts notiert:


2021 /  (1934-1955) 

Kurt Gödel

  • "Bemerkung (Grundlagen): Ein Kriterium dafür, dass man etwas in der Mathematik richtig macht, ist, dass alles 'von selbst' geht (die Intelligenz des Bleistifts zeigt sich)."
    Kurt Gödel: Philosophische Notizbücher / Maximen III, 2021 (Link)


Albert Einstein könnte bei einem Spaziergang mit Kurt Gödel auch einmal diese unter Mathematikern und Physikern seiner Generation sprichwörtliche Redensart von dem intelligenten Bleistift zitiert haben, aber er hat sie nicht geprägt.

Die ursprüngliche Quelle für das Leonhard Euler zugeschriebenen Bleistift-Zitat, auf die sich Ernst Mach 1882 bezogen hat, ist mir noch unbekannt. Der genaue Wortlaut des Leonhard-Euler-Zitats ist also ungewiss.


Artikel in Arbeit.
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Quellen:
Garson O' Toole: "My Pencil and I Are More Clever Than I Am", 2022 (quoteinvestigator.com)
Karl R. Popper, John C. Eccles: "Das Ich und sein Gehirn" Von den Verfassern durchgesehene Übersetzung aus dem Englischen von Angela Hartung (Eccles-Teile) und Willy Hochkeppel (Popper-Teile). Piper Verlag, München: 1982, S. 256 (Link)
Brief von Heinrich Heine an Julius Campe, Paris, 30. September 1839, in: Heinrich Heines Briefwechsel. Herausgegeben von Friedrich Hirth. Zweiter Band, Georg Müller, München und Berlin: 1917, S. 298 (Link)
Ernst Mach: "Die ökonomische Natur der physikalischen Forschung.", Vortrag, gehalten in der feierlichen Sitzung der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zu Wien
am 25. Mai 1882 (Link),  Almanach der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften für das Jahr 1882, 32. Jahrgang, k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Wien: 1882, S. 294-319; S. 304 (Link)
Raoul Auernheimer: "Im Lachkabinett des Herrn Courteline", Neue Freie Presse, Nr. 14903, Morgenblatt, 18. Februar 1906, S. 1-3; S. 2 (anno)
Walther Lietzmann: Methodik des mathematischen Unterrichts. Quelle und Meyer Verlag, Leipzig: 1924, S. 195 (Link)
Agnes von Zahn-Harnack: "Adolf von Harnack", Hans Bott Verlag, Berlin-Tempelhof: 1936, S. 134,   (archive.org)
Max Adler: "Das Rätsel der Gesellschaft. Zur erkenntnis-kritischen Grundlegung der Sozialwissenschaft." (Erstdruck: Saturn Verlag, Wien: 1936), Reihe Austromarxismus, Band IV, Wiener Verlag für Sozialforschung, Bremen: 2016, S. 86 (Link)
Kurt Gödel: Philosophische Notizbücher / Philosophical Notebooks / Maximen III / Maxims III. Herausgegeben von  Eva-Maria Engelen. De Gruyter, Berlin / Boston: 2021, S. 153 (Link). Anmerkung von Eva-Maria Engelen: "Leonhard Euler behauptete, seine ganze Mathematik konzentriere sich im Bleistift, mit dem er seine Berechnungen anstellt."


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Dank:
Ich danke wieder besonders Bernd-Christoph Kämper, aber auch Nicole Karfyllis und Marius Fränzel für ihre Hinweise und Recherchen. Großer Dank auch an Garson O' Toole für seine vorbildliche Arbeit und seine Frage.

Letzte Änderungen: 28/9 2022.