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Samstag, 13. Juni 2020

"Vergebung ist der einzige Weg, um den irreversiblen Fluss der Geschichte umzukehren." Hannah Arendt (angeblich)

Pseudo-Hannah-Arendt-Zitat; Facebook 12/6 2020.

Dieses angebliche Hannah-Arendt-Zitat gibt es auf Deutsch erst seit ein paar Jahren.

Einen irreversiblen, das heisst: einen nicht umkehrbaren Fluss umzukehren, ergibt auch als Metapher keinen Sinn. Wer einen Fluss umkehren will, möchte ihn zur Quelle zurückfließen lassen.

Von der rationalen Politik- und Moral-Analytikerin Hannah Arendt sind keine schiefen Metaphern überliefert und auch dieses Zitat ist in ihren Schriften nicht zu finden.


Entstanden ist das populäre Kuckuckszitat in Amerika. Der anglikanische Theologe und Priester J. Barrie Shepherd schrieb in einem 1995 erschienen Buch, er habe Hannah Arendt sagen gehört: "Forgiveness is the only way to reverse the irreversible flow of history."


1995
  • "I once heard Hannah Arendt, a Jew who had to flee for life from the Nazis, say, 'Forgiveness is the only way to reverse the irreversible flow of history'."

    J. Barrie Shepherd: "Aspects of Love: An Exploration of 1 Corinthians 13", Wipf and Stock, Eugene /Oregon: (Erstausgabe: 1995, Upper Room Books) 2010: S. 76 (Link)
Pseudo-Hannah-Arendt-Zitat.

Zitate ohne genaue Quellenangaben sowie Zitate vom Hörensagen können philologisch nicht ernst genommen werden, und schiefe Metaphern sollten einer vernünftigen Person schon gar nicht unterschoben werden.

Hannah Arendt hat den Wert von Vergebung und Verzeihung für ein gesellschaftliches Miteinander in ihrem 1958 publizierten Werk "The Human Condition" ("Vita activa oder Vom tätigen Leben") in dem Kapitel  "Die Unwiderruflichkeit des Getanen und die Macht zu verzeihen" hervorgehoben.

Sie hat auf den Unterschied zwischen dem christlichen Vergebungs-Gebot aus Liebe und dem Verzeihen aus Respekt hingewiesen und erwähnte auch die unverzeihlichen Verbrechen, die nicht vergeben werden können.

Man kann sich auf Hannah Arendt berufen, wenn man jemandem eine Dummheit oder ein Vergehen verzeiht, aber nicht mit diesem Zitat.

Der Terminus "irreversibler Fluss der Geschichte" kommt meinen Recherchen nach in Arendts Schriften und Interviews nicht vor, und ich wette um ein Exemplar ihres Buchs "Vita activa oder Vom tätigen Leben",  dass er auch nie gefunden werden wird.

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Quellen:
Google
Hannah Arendt: "The Human Condition", (Erstausgabe: 1958) Second Edition, University of Chicago Press, Chicago: 2013
Hannah Arendt:  "Die Unwiderruflichkeit des Getanen und die Macht zu verzeihen", in : Hannah Arendt: "Vita activa oder Vom tätigen Leben", (erste deutsche Übersetzung: 1958, Kohlhammer Verlag, Stuttgart) Taschenbuchausgabe Piper Verlag, 3. Auflage, München: 1983, S.  300-311
J. Barrie Shepherd: "Aspects of Love: An Exploration of 1 Corinthians 13", Wipf and Stock, Eugene /Oregon: (Erstausgabe: 1995, Upper Room Books) 2010: S. 76 (Link)

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Dank:
Ich danke Tobias Blanken sehr für seine Recherchen und seine Einschätzung des Kuckuckzitats.


Freitag, 29. November 2019

"Politik ist angewandte Liebe zur Welt." Hannah Arendt (angeblich)

Dieses Lieblingszitat des deutschen Bundespräsidenten Johannes Rau und des SPD-Vizekanzlers Franz Müntefering ist in Hannah Arendts Schriften in diesem Wortlaut nicht zu finden.  
Ulrich Rosenbaum: "Rudolf Scharping" Ullstein Verlag: 1993, Online: ulrichrosenbaum.de
 Julius Langbehn: Rembrandt als Erzieher. Hirschfeld, Leipzig; 1890, S. 251 (Link)
Friedrich Wilhelm Foerster: "Jugendseele, Jugendbewegung, Jugendziel". Rotapfel-Verlag, Erlenbach-Zürich: 1923, S. 147  (Link)
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Dank:
Ich danke Tobias Blanken für den Hinweis auf dieses Kuckuckzitat und Ralf Bülow für Korrekturen und den Hinweis auf den Ursprung des Zitats bei Klaus Naumann. Der Redaktion der Zeitschrift "Hannaharendt.net" danke ich für die Dokumentation der Verwendung dieses Zitats von Juni 1993 bis ins Jahr 2005.

Samstag, 1. Juli 2017

"Niemand hat das Recht zu gehorchen." Hannah Arendt (angeblich)

Entstelltes Hannah-Arendt-Zitat.
Dieses entstellte Zitat stammt aus einem Radio-Gespräch Hannah Arendts mit Joachim Fest aus dem Jahr 1964 und ist ein Falschzitat, weil ein entscheidendes Wort fehlt.

In dem Interview geht es unter anderem um die Dummheit des sonst intelligenten Adolf Eichmann, wenn er behauptet, er habe sein Leben lang die Moralvorschriften Immanuel Kants befolgt, Kants Pflichtbegriff zu seiner  Richtschnur gemacht und aus Pflicht den Befehlen seiner Vorgesetzten gehorcht.

Nun kann sich ein Schreibtischmassenmörder nicht auf den kategorischen Imperativ berufen, ohne sich oder andere anzulügen. Zu glauben, mit so einer Rechtfertigung durchzukommen, ist ein Zeichen von Dummheit. Hannah Arendt erklärt kurz, warum Eichmanns Berufung auf Kant lächerlich ist, warum es mit Hilfe von Kant unmöglich ist, sein Gewissen und seine Verantwortung bei einem Vorgesetzten auszulagern und sagt in diesem Zusammenhang: "Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen bei Kant."

Der Satz ist in diesem Kontext verständlich und richtig, in seiner Verkürzung und Verallgemeinerung aber unsinnig und zu einem Slogan verkommen, den man sowenig ernst nehmen kann wie einen Werbespruch. Selbstverständlich habe ich zum Beispiel das Recht, einem Polizisten zu gehorchen, wenn er mir sagt, ich solle nicht bei Rot über die Kreuzung gehen.

Leider ist das unsinnig entstellte Zitat Hannah Arendts viel bekannter als der Gedanke, der ursprünglich dahinter steckt, und mit diesem Spruch werden auch Denkmäler und Park-Bänke geschmückt. Zum Beispiel wurde 2014 für den Hannah-Arendt-Park in Wien angekündigt, das Falschzitat werde "im Park-Eingangsbereich an der Maria-Tusch-Straße in den Sockel einer Sitzbank eingegossen werden". (Link)

Das Deutsche Historische Museum bewirbt im Jahr 2020 seine Hannah-Arendt-Ausstellung mit diesem Falschzitat auf Deutsch und auf Englisch ("No one has the right to obey". )


5. November 2017:
  • "Nach jahrelangem Tauziehen ist heute am Gebäude des Finanzamtes in der Südtiroler Hauptstadt Bozen eine Installation am Mussolini-Relief enthüllt worden, die das faschistische Relikt in seinen geschichtlichen Kontext rücken soll. Am Abend leuchtete das Zitat von Hannah Arendt, 'Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen', dann erstmals auch."
    ORF.at, 5. November 2017
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Joachim Fest, Radio-Gespräch, 1964: 

  • "Sie haben vorhin den Namen Kant erwähnt, und Eichmann selbst hat sich ja nun in dem Prozess gelegentlich auf Kant berufen. Er habe gesagt, er sei sein Leben lang den Moralvorschriften Kants gefolgt und habe vor allem den Kantischen Pflichtbegriff zu seiner Richtschnur gemacht." 

 

Hannah Arendt, 16.20:

 

Hannah Arendt, 1964:

  •  "Ja. Natürlich eine Unverschämtheit, nicht? Von Herrn Eichmann. Kants ganze Moral läuft doch darauf hinaus, dass jeder Mensch bei jeder Handlung sich selbst überlegen muss, ob die Maxime seines Handelns zum allgemeinen Gesetz werden kann. … Es ist ja gerade sozusagen das extrem Umgekehrte des Gehorsams! Jeder ist Gesetzgeber. Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen bei Kant
  • Eichmann war ganz intelligent, aber diese Dummheit hatte er. Das war die Dummheit, die so empörend war. Und das habe ich eigentlich gemeint mit der Banalität. Da ist keine Tiefe – das ist nicht dämonisch! Das ist einfach der Unwille, sich je vorzustellen, was eigentlich mit dem anderen ist ...
  • Das heißt, dieses Unvermögen, wie Kant sagt, um ihn jetzt also doch wirklich in den Mund zu nehmen: "an der Stelle jedes andern denken" – ja, das Unvermögen ... Diese Art von Dummheit, dass es ist, als ob man gegen eine Wand spricht. Man kriegt nie eine Reaktion, weil nämlich auf einen selber gar nicht eingegangen wird. Das ist deutsch. Das zweite, was mir spezifisch deutsch scheint, ist diese geradezu verrückte Idealisierung des Gehorsams."
    Hannah Arendt im Gespräch mit Joachim Fest, 1964.

    Zitiert nach: "Eine Rundfunksendung aus dem Jahr 1964."  Herausgegeben von Ursula Ludz und Thomas Wild. (Link) (Allerdings habe ich hier die Version: "Kein Mensch hat bei Kant das Recht zu gehorchen" nach dem Original korrigiert.)

Immanuel Kant, 1793: 

 

  • "Der Satz 'man muß Gott mehr gehorchen, als den Menschen' bedeutet nur, daß, wenn die letzten etwas gebieten, was an sich böse (dem Sittengesetz unmittelbar zuwider) ist, ihnen nicht gehorcht werden darf und soll."

    Immanuel Kant: "Die Religion innerhalb der Grenzen  der bloßen Vernunft." 1793, AA VI, S. 99 (Link)
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Quellen:
Google Statistik: "Ungefähr 16 600 Ergebnisse" (Das Falschzitat ist also millionenfach verbreitet.)
Hannah Arendt, Joachim Fest: "Eichmann war von empörender Dummheit. Gespräche und Briefe." Piper Verlag, München: 2011 (Der fragliche Satz mit dem nachgestellten "bei Kant" wurde  redigiert zu: "Kein Mensch hat bei Kant das Recht zu gehorchen." Ich halte diese Umstellung für vertretbar.)
Hannah Arendt im Gespräch mit Joachim Fest, 1964.  "Eine Rundfunksendung aus dem Jahr 1964."  Herausgegeben von Ursula Ludz und Thomas Wild. (Link)
"Der rätselhafte Satz." Ein Gespräch mit Andreas Oberprantacher über das falsche Hannah-Arendt-Zitat auf einem Mussolini-Relief. "Die Neue Südtiroler Tageszeitung Online", 5. Februar 2017  (Link)
Stadtteilmanagement Seestadt aspern: "Niemand hat das Recht zu gehorchen." 2014 (Link)
Immanuel Kant: "Die Religion innerhalb der Grenzen  der bloßen Vernunft." 1793, Akademieausgabe von Immanuel Kants Gesammelten Werken (AA), Elektronische Edition, Band VI, S. 99 (Link)

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Ich danke Lisi Moosmann und Michael Mayer für ihre Hinweise.

Letzte Änderung: 22/6 2020.


Samstag, 20. Mai 2017

"Wo, wenn nicht in der Politik, dürfen wir Wunder erwarten?" Hannah Arendt (angeblich)

Pseudo-Hannah-Arendt quote.
Ministerpräsident Wienfried Kretschmann meinte, Hannah Arendt habe immer gesagt, "Wo, wenn nicht in der Politik, dürfen wir Wunder erwarten?" (Link), und der ehemalige österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel hat dieses Zitat als Motto für sein Buch, "Das Jahrhundert wird heller", erwählt. Das ist ein stark verkürztes, entstelltes Zitat, das den wichtigen Teil des Satzes von Hannah Arendt über die Freiheit als notwendige Bedingung für politische Wunder unterschlägt.
Hannah Arendt, "Was ist Politik?", S. 35
  • „Wenn der Sinn von Politik Freiheit ist, so heißt dies, dass wir in diesem Raum – und in keinem anderen –  in der Tat das Recht haben, Wunder zu erwarten. Nicht weil wir wundergläubig wären, sondern weil die Menschen, solange sie handeln können, das Unwahrscheinliche und Unerrechenbare zu leisten imstande sind und dauernd leisten, ob sie es wissen oder nicht.“
    Hannah Arendt, "Was ist Politik?", S. 35
  • „Das  Wunder  der  Freiheit  liegt  in  diesem  Anfangen-Können  beschlossen,  das  seinerseits   wiederum  in  dem  Faktum  beschlossen  liegt,  dass  jeder  Mensch,  sofern  er  durch  Geburt  in  die  Welt   gekommen ist, die vor ihm da war und nach ihm weitergeht, selber ein neuer Anfang ist.“
    Hannah Arendt, "Was ist Politik?", S. 24

  • Bild-Zeitung, 1. September 2011:
    "Hannah-Arendt-Expertin Antonia Grunenberg (63) ist beeindruckt, dass ein Ministerpräsident so kenntnisreich über die Philosophin spricht. Die Professorin zu BILD: „Sie ist sein intellektueller Jungbrunnen. Mit ihr versucht er, das übliche Verwaltungs-Deutsch eines Politikers zu durchbrechen.“  Der MP versuche, mit einfacher Sprache Arendt allen verständlich zu machen.  Denn, was viele nicht wissen: Das Zitat mit den Wundern in der Politik (s.o.) stammt so gar nicht von Arendt ..."
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Quellen:
Markus Decker: "Was ich dir immer schon mal sagen wollte: Ost-West-Gespräche." Ch. Links Verlag, Berlin: 2015,  Gespräch mit Kretschmann
Silke Walter: "BILD erklärt die Autorin Hannah Arendt. Die Muse des MP Kretschmann." Bild-Zeitung Regional, Stuttgart: 1. September 2011 (Link)
Wolfgang Schüssel: "Das Jahrhundert wird heller. Begegnungen und Betrachtungen." Amalthea, Wien:  2015
Seyla Benhabib: "Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne." Suhrkamp, stw1797, Frankfurt am Main: 2006
Hannah Arendt: "Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass." Hrsg. von Ursula Lutz. Piper, München / Zürich: 1993
Otfried Höffe: "Politische  Ethik im Gespräch mit Hannah  Arendt." In: "Die Zukunft des Politischen. Ausblicke  auf Hannah Arendt." Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt: 1993
Annette Schavan: „Der Sinn von Politik ist Freiheit.“ Hannah-Arendt-Tage 2006, Hannover: 14. Oktober 2006  (pdf)
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Ich danke Frank Richter Thomas Stern und Ralf Bülow für ihre Hinweise auf Twitter.

Foto: GK