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Mittwoch, 1. November 2023

"Du bist nicht mehr da, wo du warst, aber du bist überall, wo wir sind." Pseudo-Victor-Hugo-Zitat

Der französische Schriftsteller Victor Hugo ist 1885 gestorben, und mehr als 120 Jahre nach seinem Tod wurde ihm erstmals dieser Trauerspruch zugeschrieben.

Entstanden ist der urspünglich anonymer Spruch vor etwa 30 Jahren und er wurde jahrelang auf vielen Traueranzeigen in der Schweiz,  Deutschland und Österreich ohne Zuschreibung an einen Autor verwendet.

Zwei Beispiele:

1995, Anonym:

Mein bislang frühester Fund einer Variante dieses Spruchs steht in den Freiburger Nachrichten am 30. September 1995, S. 6:

e-newspaperarchives.ch/

1998, Anonym:

  • "Du bist nicht mehr da, / wo Du warst, / aber Du bist überall, wo wir sind. / Und immer sind irgendwo Spuren Deines Lebens, / Gedanken, Bilder, Augenblicke / und Gefühle. / Sie werden uns immer an Dich / erinnern und Dich dadurch nie / vergessen lassen."

 

Nordwest Zeitung, Ausgabe Oldenburger Nachrichten vom 1.August 1998, S. 20
  hgenios.de/document/NOWH__536d6eba9c84e8754df4e5090af5c2c781886d54


Im Jahr 1999 wurde eine Variante dieses schönen Spruchs dem Heiligen Augustinus, der vor 1600 Jahren gelebt hat, erstmals untergeschoben. 

1999

Nordwest Zeitung, Ausgabe Der Gemeinnützige, 31. Juli 1999 S.19
 genios.de/document/NOWH__b387eaa586fad79471f2934f7966c64862e20fe5



Auch der römischen Kaiser und stoische Philosoph Marc Aurel wurde vereinzelt als Autor genannt:

2010

  • Der Mensch, den wir lieben, ist nicht mehr da, wo er war, aber überall, wo wir sind und seiner gedenken. - Marc Aurel
Facebook 8. September 2010

https://www.facebook.com/groups/157740217573026/permalink/382347288445650/?mibextid=zDhOQc

Der Spruch wurde auch auf Französisch übersetzt und im Jahr 2011 in einem Schweizer Ratgeberbuch für Begräbnisse Augustinus zugeschrieben:

2011

  • Elle n'est plus là où elle était, mais elle est maintenant partout où je suis. ”

Jeltje Gordon-Lennox: Funérailles: cérémonies sur mesure. Editions Labor et Fides, Genève: 2011, p. 143

Ungefähr zur gleichen Zeit begann die erste Zuschreibung an Victor Hugo, die laut der Zeitungssuchmaschine genios.de in hunderten deutschsprachigen Zeitungsausgaben zu finden ist


Inzwischen wird der fälschlich Victor Hugo zugeschrieben Spruch auch im englischen Sprachraum beliebt:

2018

  • "You are no longer where you were, but you are everywhere that I am." Victor Hugo
  • Victor Hugo

Twitter, 1. September 2018

https://twitter.com/lautreamont13/status/1035956945558167552


Nach der Entwicklungsgeschichte dieses Zitats zu schließen, wird diese Sentenz wohl niemals in einem Text von Marc Aurel, Augustinus oder Victor Hugo gefunden werden. 

Der Linguist Ulrich Seelbach ist in seiner wertvollen Sammlung von Trauersprüchen schon vor Jahren zu diesem Ergebnis gekommen und auch in seriösen Zitaten-Lexika kommt dieses angebliche Victor-Hugo-Zitat nicht vor.


_______________

Quellen:

Ulrich Seelbach: Eine Sammlung verifizierter (und falsifizierter) Zitate aus Traueranzeigen

https://www.uni-bielefeld.de/fakultaeten/linguistik-literaturwissenschaft/personen/ulrich-seelbach/materialien/trauersprueche.xml


Artikel in Arbeit.

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Dank:

Ich bin wie immer bei Trauersprüchen Ulrich Seelbach für seine Arbeit zu Dank verpflichtet.


Dienstag, 21. März 2023

"Die Welt ist ein Buch, und diejenigen, die nicht reisen, lesen nur eine Seite.“ Pseudo-Augustinus-Zitat

Pseudo-Augustinus-Zitat.

 Dieses nicht nur bei Reiseunternehmen sehr beliebte Augustinus-Zitat ist in den Schriften dieses produktiven Schriftstellers und Kirchenvaters weder auf Latein, noch auf Deutsch oder Englisch zu finden und wurde im 18. Jahrhundert in Frankreich geprägt.
 
Die Metapher vom "Buch der Natur" als der zweiten Heiligen Schrift Gottes geht zwar auf den im Jahr 354 in Nordafrika im heutigen Algerien geborenen Heiligen Augustinus zurück, und in seinen Schriften kommt auch die Wendung "unser größeres Buch - die Welt" (maior liber noster orbis terrarum est) vor, aber Augustinus gab keine Reiseempfehlungen, um in dem Buch der Welt zu blättern.
 
Im Gegenteil: Kenner der augustinischen Schriften erinnern daran, dass Augustinus vor Reisen gewarnt hat und seine Vorstellung von Gottes zweitem Buch sicher nicht in die Werbebroschüre eines Reisebüros passt.
 

Augustinus, Epistulae, Brief 43:

Wir wollen ja gar nicht mit alten Urkunden, mit Staatsarchiven, mit gerichtlichen oder kirchlichen Aktenstücken uns in Verhandlungen einlassen. Wir haben ein größeres Buch, den Erdkreis (maior liber noster orbis terrarum est); in diesem lese ich als Erfüllung, was ich im Buche Gottes als Verheißung lese: „Der Herr sprach zu mir: Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt. Fordere von mir, und ich will dir die Völker als dein Erbe, die Grenzen der Erde als dein Besitztum geben“. 

Augustinus von Hippo: Epistolae, Brief Nr. 43: An Glorius, Eleusius, die beiden Felix, Grammatikus und alle übrigen, die dies lesen wollen (IX. 25) (Link)
 

 Kurze Entwicklungsgeschichte des Kuckuckszitats:


 Das Bild, dass jemand, der immer nur daheimbleibt, immer nur eine einzige Seite vom Buch der Welt zu sehen bekommt, hat der französische Autor Louis-Charles Fougeret de Monbron auf der ersten Seite seines Reisebuches "Der Kosmopolit oder der Weltbürger" geprägt:
 

Louis-Charles Fougeret de Monbron:

  • "Das Universum ist eine Art Buch, von dem wir nur die erste Seite gelesen haben, wenn wir nur unser eigenes Land gesehen haben."
1750
  • "L’Univers est une espece de livre, dont on n’a lu que la premiere page quand on n’a vu que son Pays."
Louis-Charles Fougeret de Monbron: "Le Cosmopolite, ou Le Citoyen du monde" 1750   (Link)
 
 Der deutsche Aufklärer Gotthold Ephraim Lessing  übersetzte ein Jahr nach der Publikation des Reisebuchs die ersten Sätze dieses misanthropischen Bestsellers in seiner Rezension für die 'Berlinische Privilegirte Zeitung': 
 

Gotthold Ephraim Lessing zu "Le Cosmopolite, ou Le Citoyen du Monde":

 
1751

Die Welt, fängt dieser Weltbürger an, ist nichts anders, als ein Buch,
"wovon man nur die erste Seite gelesen hat, wenn man nichts, als sein  Vaterland, kennet. Ich habe eine ziemlich große Anzahl durchblättert; ich habe sie aber alle gleich schlecht befunden.

Diese Untersuchung ist nicht ohne Nutzen gewesen. Ich haßte mein Vaterland. Die Narrheiten der andern Völker, unter welchen ich gelebt habe, haben mich wieder mit ihm ausgesöhnt.

Wenn ich auch aus meinen Reisen keinen andern Nutzen gezogen hätte, als diesen, so würden mich doch weder Unkosten, noch Beschwerlichkeiten, reuen."

Diese Reisen nun sind es, welche man in diesen Blättern auf die sonderbarste Art beschrieben findet. Anstatt dessen, was er gesehen hat, erzählt uns der Verfasser das, was er gedacht hat; und hat er gleich nichts gesehen, was nicht tausend andre auch gesehen haben, so hat er, zur Vergeltung, tausenderley gedacht, was vielleicht kein einziger Reisender gedacht hat."

G.E. Lessing: "
Le Cosmopolite ou le Citoyen du Monde. Berlinische Privilegirte Zeitung, 6. April 1751 (Link)
 
 
 Fougeret de Monbrons Reise-Metapher hat offenbar viele Leute beeindruckt, zum Beispiel auch den 24jährigen Lord Byron, der sie als Motto auf dem Titelblatt seines Versepos «Childe Harold's Pilgrimage», das ihn über Nacht berühmt gemacht hatte, abdrucken ließ:

1811

Ausschnitt aus dem Buchcover von Lord Byrons
"Childe Harold's Pilgrimage".

Wenn eine neuartige, aufschlussreiche Metapher auf die Welt gekommen ist und vielen Leuten gefällt, wird sie ein Meme - früher sagte man: sie hat Flügel bekommen -, und lebt unabhängig vom Autor in verschiedenen Variationen weiter.

Das ist auch hier passiert.
 
Ein halbes Jahrhundert nachdem die Metapher auf Französisch geprägt worden war, wurde sie in der Aphorismensammlung "The English Enchiridion" (Das englische Handbüchlein) auf Englisch etwas verändert dem Heiligen Augustinus untergeschoben: 

1799 

  • “St. Augustine, when he speaks of the great advantages of travelling, says, that the world is a great book, and none study this book so much as a traveler. They that never stir from their home read only one page of this book.”
    John Feltham:
    "The English Enchiridion" 1799, S. 2  (Link)

Da die Herausgeber von Zitate-Anthologien meistens ohne zu überprüfen von einander abschreiben, pflanzen sich falsche Zitate immer weiter fort.

Im Jahr 1824 findet man die 1799 entstandene falsche Zuschreibung an Augustinus in einer englischen Sprichwortsammlung:

1824

  • "The world is a great book, of which they that never stir from home read only a page. - Augustine"

    "Select Proverbs of All Nations" 1824, p. 216 (Link)

Mitte des 20. Jahrhunderts hat das Kuckuckszitat jenen prägnaten Wortlaut erhalten, mit dem es heute noch verbreitet wird:

 1952

  • "The world is a book and those who do not travel read only one page. St. Augustine (354-430)"
     "F.P.A.'s Book of Quotations" New York: 1952, S. 798  (Link)

Von einem amerikanischen Marketing-Magazin wird das falsche Augustinus-Zitat direkt Reisebüros empfohlen:

1954

  • "Here’s a quote from St. Augustine which some travel-bureau might make use of:
    'The world is a book, and those who do not travel read only one page.'"
    'Sales Management. The Magazine of Marketing', Vol. 72, Nr. 4, New York: 15. Februar 1954, S. 128 (Link) 

1995

  • "The world is a book, and those who do not travel read only a page. Augustine"
    Evan Esar:  "20,000 Quips & Quotes"  (Link)

Im deutschen Sprachraum hat sich dieses Pseudo-Augustinus-Zitat mit Hilfe des Internets erst im 21. Jahrhundert in einem Dutzend Büchern und über 200 Zeitungsartikeln verbreitet.

Varianten des Pseudo-Augustinus-Zitats:

  • Die Welt ist ein Buch, und diejenigen, die nicht reisen, lesen nur eine Seite.
  • Die Welt ist ein Buch. Wer nie reist, sieht nur eine Seite davon.
  • Die Welt ist ein Buch, und wer nicht reist, liest davon nicht eine einzige Seite. 

Screenshot von Memes mit dem Pseudo-Augustinus-Zitat.

 

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Quellen:

Oskari Juurikkala: "The Two Books of God: The Metaphor of the Book of Nature in Augustine." Augustinianum 61/2 (2021), 479-498 (accepted version) (pdf)

Augustinus von Hippo: Epistolae, übersetzt von Alfred Hoffmann,  Bibliothek der Kirchenväter, XXV., Brief Nr. 43: An Glorius, Eleusius, die beiden Felix, Grammatikus und alle übrigen, die dies lesen wollen (IX. 25) (Link)

Aurelius Augustinus: Der Gottesstaat, Buch XV - XXII, Hrsg.: Carl Johann Perl und Paul Simon, [online] S. 829 (Link)

Louis-Charles Fougeret de Monbron: "Le Cosmopolite, ou Le Citoyen du monde" 1750, wikisource (Link)

 G.E. Lessing: "Le Cosmopolite ou le Citoyen du Monde. Berlinische Privilegirte Zeitung, 6. April 1751 in: Gotthold Ephraim Lessings Sämtliche Schriften. Vierter Band. Göschen'sche Verlagshandlung, Stuttgart: 1889, 3. Auflage, S. 307 (Link) [Mit Dank an Arno Tator.]

John Feltham: "The English Enchiridion, a selection of Apothegms, Moral Maxims, & c., R. Cruttwell, Bath: 1799, S. 2  (Link)

Thomas Fielding (John Wade):  "Select Proverbs of All Nations: illustrated with notes and comments.", Longman, Hurst etc., London: 1824, p. 216 (Link)  

Franklin Pierce Adams: "F.P.A.'s Book of Quotations": a new collection of famous sayings, reflecting the wisdom and the wit of times past and present and including the virtuous, humorous, and philosophic commentary on life by men and women of every age, together with riches from the profound wells of the Bible, proverbs, and anonymity,  Funk & Wagnalls, New York: 1952, S. 798  (Link)  

'Sales Management. The Magazine of Marketing', Vol. 72, Nr. 4, New York: 15. Februar 1954, S. 128 (Link)   

Congress, Senate: Regional Export Expansion: The South Atlantic: Miami, Fla., S. 1148 (Link)
Evan Esar:  "20,000 Quips & Quotes"  Barnes & Noble, New York: 1995, p. 822 (Link)

/ask.metafilter.com/152177/Source-of-supposed-Augustine-quote 

fauxtations.wordpress.com/2015/01/04/augustine-the-world-is-a-book/

https://manonthelam.com/7-inspiring-but-completely-fake-famous-travel-quotes-plus-2-that-were-almost-never-famous-at-all/

wikiquote

 

Artikel in Arbeit.

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Dank:

Ich danke Klaus Pohlmann für die Frage zu diesem Kuckuckszitat, sowie Weltraum Nerd, Ralf M. Haaßengier , den wikiquote-Autorinnen und besonders Arno Tator  für ihre Recherchen.