Samstag, 1. Juli 2017

"Niemand hat das Recht zu gehorchen." Hannah Arendt (angeblich)

Entstelltes Hannah-Arendt-Zitat.
Dieses entstellte Zitat stammt aus einem Radio-Gespräch Hannah Arendts mit Joachim Fest aus dem Jahr 1964 und ist ein Falschzitat, weil ein entscheidendes Wort fehlt.

In dem Interview geht es unter anderem um die Dummheit des sonst intelligenten Adolf Eichmann, wenn er behauptet, er habe sein Leben lang die Moralvorschriften Immanuel Kants befolgt, Kants Pflichtbegriff zu seiner  Richtschnur gemacht und aus Pflicht den Befehlen seiner Vorgesetzten gehorcht.

Nun kann sich ein Schreibtischmassenmörder nicht auf den kategorischen Imperativ berufen, ohne sich oder andere anzulügen. Zu glauben, mit so einer Rechtfertigung durchzukommen, ist ein Zeichen von Dummheit. Hannah Arendt erklärt kurz, warum Eichmanns Berufung auf Kant lächerlich ist, warum es mit Hilfe von Kant unmöglich ist, sein Gewissen und seine Verantwortung bei einem Vorgesetzten auszulagern und sagt in diesem Zusammenhang: "Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen bei Kant."

Der Satz ist in diesem Kontext verständlich und richtig, in seiner Verkürzung und Verallgemeinerung aber unsinnig und zu einem Slogan verkommen, den man sowenig ernst nehmen kann wie einen Werbespruch. Selbstverständlich habe ich zum Beispiel das Recht, einem Polizisten zu gehorchen, wenn er mir sagt, ich solle nicht bei Rot über die Kreuzung gehen.

Leider ist das unsinnig entstellte Zitat Hannah Arendts viel bekannter als der Gedanke, der ursprünglich dahinter steckt, und mit diesem Spruch werden auch Denkmäler und Park-Bänke geschmückt. Zum Beispiel wurde 2014 für den Hannah-Arendt-Park in Wien angekündigt, das Falschzitat werde "im Park-Eingangsbereich an der Maria-Tusch-Straße in den Sockel einer Sitzbank eingegossen werden". (Link)

Das Deutsche Historische Museum bewirbt im Jahr 2020 seine Hannah-Arendt-Ausstellung mit diesem Falschzitat auf Deutsch und auf Englisch ("No one has the right to obey". )


5. November 2017:
  • "Nach jahrelangem Tauziehen ist heute am Gebäude des Finanzamtes in der Südtiroler Hauptstadt Bozen eine Installation am Mussolini-Relief enthüllt worden, die das faschistische Relikt in seinen geschichtlichen Kontext rücken soll. Am Abend leuchtete das Zitat von Hannah Arendt, 'Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen', dann erstmals auch."
    ORF.at, 5. November 2017
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Joachim Fest, Radio-Gespräch, 1964: 

  • "Sie haben vorhin den Namen Kant erwähnt, und Eichmann selbst hat sich ja nun in dem Prozess gelegentlich auf Kant berufen. Er habe gesagt, er sei sein Leben lang den Moralvorschriften Kants gefolgt und habe vor allem den Kantischen Pflichtbegriff zu seiner Richtschnur gemacht." 

 

Hannah Arendt, 16.20:

 

Hannah Arendt, 1964:

  •  "Ja. Natürlich eine Unverschämtheit, nicht? Von Herrn Eichmann. Kants ganze Moral läuft doch darauf hinaus, dass jeder Mensch bei jeder Handlung sich selbst überlegen muss, ob die Maxime seines Handelns zum allgemeinen Gesetz werden kann. … Es ist ja gerade sozusagen das extrem Umgekehrte des Gehorsams! Jeder ist Gesetzgeber. Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen bei Kant
  • Eichmann war ganz intelligent, aber diese Dummheit hatte er. Das war die Dummheit, die so empörend war. Und das habe ich eigentlich gemeint mit der Banalität. Da ist keine Tiefe – das ist nicht dämonisch! Das ist einfach der Unwille, sich je vorzustellen, was eigentlich mit dem anderen ist ...
  • Das heißt, dieses Unvermögen, wie Kant sagt, um ihn jetzt also doch wirklich in den Mund zu nehmen: "an der Stelle jedes andern denken" – ja, das Unvermögen ... Diese Art von Dummheit, dass es ist, als ob man gegen eine Wand spricht. Man kriegt nie eine Reaktion, weil nämlich auf einen selber gar nicht eingegangen wird. Das ist deutsch. Das zweite, was mir spezifisch deutsch scheint, ist diese geradezu verrückte Idealisierung des Gehorsams."
    Hannah Arendt im Gespräch mit Joachim Fest, 1964.

    Zitiert nach: "Eine Rundfunksendung aus dem Jahr 1964."  Herausgegeben von Ursula Ludz und Thomas Wild. (Link) (Allerdings habe ich hier die Version: "Kein Mensch hat bei Kant das Recht zu gehorchen" nach dem Original korrigiert.)

Immanuel Kant, 1793: 

 

  • "Der Satz 'man muß Gott mehr gehorchen, als den Menschen' bedeutet nur, daß, wenn die letzten etwas gebieten, was an sich böse (dem Sittengesetz unmittelbar zuwider) ist, ihnen nicht gehorcht werden darf und soll."

    Immanuel Kant: "Die Religion innerhalb der Grenzen  der bloßen Vernunft." 1793, AA VI, S. 99 (Link)
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Quellen:
Google Statistik: "Ungefähr 16 600 Ergebnisse" (Das Falschzitat ist also millionenfach verbreitet.)
Hannah Arendt, Joachim Fest: "Eichmann war von empörender Dummheit. Gespräche und Briefe." Piper Verlag, München: 2011 (Der fragliche Satz mit dem nachgestellten "bei Kant" wurde  redigiert zu: "Kein Mensch hat bei Kant das Recht zu gehorchen." Ich halte diese Umstellung für vertretbar.)
Hannah Arendt im Gespräch mit Joachim Fest, 1964.  "Eine Rundfunksendung aus dem Jahr 1964."  Herausgegeben von Ursula Ludz und Thomas Wild. (Link)
"Der rätselhafte Satz." Ein Gespräch mit Andreas Oberprantacher über das falsche Hannah-Arendt-Zitat auf einem Mussolini-Relief. "Die Neue Südtiroler Tageszeitung Online", 5. Februar 2017  (Link)
Stadtteilmanagement Seestadt aspern: "Niemand hat das Recht zu gehorchen." 2014 (Link)
Immanuel Kant: "Die Religion innerhalb der Grenzen  der bloßen Vernunft." 1793, Akademieausgabe von Immanuel Kants Gesammelten Werken (AA), Elektronische Edition, Band VI, S. 99 (Link)

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Ich danke Lisi Moosmann und Michael Mayer für ihre Hinweise.

Letzte Änderung: 22/6 2020.