Diese Legende haben in leicht verschiedenen Versionen auch Autorinnen und Autoren wie Otto Flake (1947), Hannah Arendt (1948), Ludwig Marcuse (1951) und Theodor W. Adorno (1956) als Tatsache ohne Quellennachweis weiterverbreitet (Link).
Theodor W. Adorno, 1956
- "Nicht erst von den Nationalsozialisten ist Heine diffamiert worden. Ja diese haben ihn beinahe zu Ehren gebracht, als sie unter die Loreley jenes berühmt gewordene 'Dichter unbekannt' setzten, das die insgeheim schillerneden Verse, die an Figurinen der Pariserischen Rheinnixen einer verschollenen Offenbachoper mahnen, als Volkslied unerwartet sanktionierte."
Theodor W. Adorno: "Die Wunde Heine", Rundfunkvortrag, Februar 1956, S. 146
Inzwischen wurden über hundert Schulbücher aus der Zeit von 1933 bis 1945 mehrfach gründlich durchsucht, aber die angebliche Zuschreibung der "Loreley" an einen unbekannten Dichter wurde von der Heinrich-Heine-Forschung weder in Schulbüchern noch in Anthologien gefunden.
Bei vertonten Gedichten erwähnte man nur den Komponisten und unterschlug den Namen Heines, sonst wurde sein gesamtes Werk ausnahmslos unterdrückt und aus den Schulbüchern und Anthologien*) gestrichen.
Ich folge hier dem Urteil der Germanistin Anja Oesterhelt, die die Forschungen von Bernd Kortländer (1998) und Harmut Steinecke (2008) zu diesem Fall in ihrer Studie 'Verfasser unbekannt'? Der Mythos der Anonymität und Heinrich Heines Loreley" im Jahr 2011 zusammgefasst, bestätigt und ergänzt hat.
1936, "Schluß mit Heine!"
- "Eine deutsche Buchhandlung, die heute Heines Bücher zum Verkauf anbietet, verdient nicht, eine deutsche Buchhandlung zu sein. Nicht minder der Volksgenosse, der Gedichte von Heinrich Heine noch immer weiter liest oder gar schön findet."
Otto Klein, Wolfgang Lutz: "Schluß mit Heine!", 1936, zitiert nach Anja Oesterhelt, S. 339.
Die Erinnerung an Heinrich Heine sollte ausgelöscht werden. Ab 1940 wurde der Verkauf seiner Bücher gemeinsam mit allen andern Büchern jüdischer Autorinnen und Autoren verboten.
Das Gerücht, Heines "Loreley" würde als Gedicht eines unbekannten Verfassers in Nazi-Deutschland weiter publiziert werden, findet man in Exil-Zeitschriften seit dem Jahr 1935, zum ersten Mal in Walter A. Berendsohns in Kopenhagen veröffentlichtem Artikel: "Der lebendige Heine im germanischen Norden".
Bella Fromm, 1934/1943:
- June 19, 1934:
"Richard, my dear old newspaper friend and colleague, came for a little chat this afternoon. [...] He also told me that Die Lorelei, with its beautiful poem by Heinrich Heine, was still being sung in the schools. However, the schoolbook reads: 'Writer of the text unknown.' An attempt to legislate immortality out of existence."
Bella Fromm: "Blood an Banquets. A Berlin Social Diary." (1942), 1990, S. 168 (archive.org)
Die Journalistin Bella Fromm hat 1934**) in in ihr Tagebuch eingetragen, ihr Kollege "Richard" habe ihr von der Zwangsanonymisierung Heinrich Heines erzählt. Dieser unbekannte "Richard" ist bisher die einzige Quelle für die Legende, sonst wurde sie immer nur wie eine Tatsache, die keines Nachweises mehr bedürfe, weitererzählt. Bella Fromm publizierte ihr später vielgelesenes Berliner Tagebuch auf Englisch im Jahr 1943.
Auch wenn in Zukunft einmal ein Abdruck des Gedichts mit dem Vermerk "Verfasser unbekannt" an einer entlegenen Stelle entdeckt werden sollte, könnte man diesen vereinzelten Abdruck nicht als repräsentativ für die nationalsozialistische Kulturpolitik interpretieren, da die Nationalsozialisten nicht nur Heinrich Heines Namen, sondern auch sein gesamtes Werk auslöschen wollten (Oesterhelt, S. 340).
Trotz der literaturwissenschaftlichen Widerlegung lebt die Legende weiter:
- "Das Gedicht ["Ich weiß nicht, was soll es bedeuten"] ist so berühmt, so sehr Teil des deutschen Kollektivbewusstseins, dass sogar die Nazis es nicht aus Schulbüchern, Anthologien und Kalendern zu entfernen wagten. Stattdessen entfernten sie einfach den Namen Heine aus den Büchern und schrieben 'Autor unbekannt' darüber. Das ist natürlich haarsträubend, aber auf eine gewisse Art auch lustig."
Daniel Kehlmann, in: Jonathan Franzen: Das Kraus-Projekt, Rowohlt: 2014, S. 70:
Artikel in Arbeit.
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Anmerkungen:
*) bis auf wenige Ausnahmen.
**) Vielleicht ist dieser Tagebuch-Eintrag erst 1942 in New York für das Manuskript des Bestsellers entstanden.
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Quellen:
Google books
Anja Oesterhelt:" 'Verfasser unbekannt'? Der Mythos der Anonymität und Heinrich Heines Loreley", in: "Anonymität und Autorschaft: zur Literatur- und Rechtsgeschichte der Namenslosigkeit." Herausgeber: Stephan Pabs, De Gruyter, Berlin / Boston: 2011, S. 325-358 (Link)
Bella Fromm: "Blood an Banquets. A Berlin Social Diary." (1943) Foreword by Judith Rossner. A Birch Lane Press Book, New York: 1990, S. 168 (archive.org)
Nea Matzen: "Bella Fromm - Viele Leben in einem: Societylady, Journalistin, Bestsellerautorin im Exil" m u. z 3/2009, S. 38- 53 pdf
Theodor W. Adorno: "Die Wunde Heine" (1956), Noten zur Literatur I, Bibliothek Suhrkamp, Frankfurt am Main: 1975, S. 146
Ludwig Marcuse: "Heinrich Heine - Melancholiker, Streiter in Marx, Epikureer". 2. Auflage 1951, 3. Auflage 1969, Lizenzausgabe Diogenes Taschenbuch: 1977, S. 357
Hartmut Steinecke: "Heinrich Heine im Dritten Reich." Ferdinand Schöningh, Paderborn: 2008
Bernd Kortländer: "Le poète inconnu de la «Loreley» : le médiateur supprimé". Romantisme. (Revue): 1998, S. 29-40 (Link)
Walter A. Berendsohn: "Der lebendige Heine im germanischen Norden", Kopenhagen:1935, zitiert nach Bernd Kortländer, S. 29 (Link).
Daniel Kehlmann, in: Jonathan Franzen: Das Kraus-Projekt. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2014, S. 70:
(Link)
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Dank:
Ich danke Joseph Wälzholz für seine Frage zum Forschungsstand bei diesem Fall und für seine Recherchen sowie Bernd-Christoph Kämper für seinen Hinweis auf die problematische Entstehungsgeschichte von Bella Fromms Berliner Tagebuch.