Mittwoch, 31. Mai 2023

"Nur Barbaren können sich verteidigen". Pseudo-Friedrich-Nietzsche-Zitat.

Hans Magnus Enzensberger: "Aussichten auf den Bürgerkrieg",
Suhrkamp, Frankfurt am Main: 1993, S. [7].

Hans Magnus Enzensberger hat für sein 1993 erschienenes Buch "Aussichten auf den Bürgerkrieg" 
als Motto den wuchtigen Satz "Nur Barbaren können sich verteidigen" gewählt, und diesen Satz "Nietzsche" zugeschrieben.
 
Dieses Zitat ist allerdings weder so noch so ähnlich in den Schriften Friedrich Nietzsches zu finden, worauf schon Sebastian Kaufmann in seiner Studie "Nietzsche und die Neue Rechte: Auch eine Fortführung der Konservativen Revolution" aufmerksam gemacht hat (Link).

Jack Donovan: "Nur Barbaren können sich verteidigen." 2017
"Becoming a Barbarian" (2016)
Dieses Pseudo-Nietzsche-Zitat von Hans Magnus Enzensberger ist inzwischen in der rechtsextremen Szene beliebt geworden, im Antaios Verlag erschien das Buch eines frauenfeindlichen, rassistischen Ex-Satanisten zur Verteidigung der Männlichkeit mit diesem Titel, und Götz Kubitschek, der Verleger des Antaios Verlags, motivierte seine Leserinnen mit diesem Pseudo-Nietzsche-Zitat, sich auf den Bürgerkrieg vorzubereiten:

 

Beispiel für die Verwendung des Pseudo-Nietzsche-Zitats :

 

  • "Wenn wir Deutschen zu zivilisiert für die Notwendigkeiten des Vorbürgerkriegs bleiben, ist die Auseinandersetzung bereits entschieden. ‚Nur Barbaren können sich verteidigen‘, sagt Nietzsche.

    Allgemein gewendet: Wem sein Vaterland lieb ist, muß den Vorbürgerkrieg gewinnen, bevor er unbeherrschbar wird. Und da dieser Krieg neben dem handfesten, den die Polizei und jeder Angegriffene auf der Straße und in seinem Viertel auszufechten hat, vor allem ein geistiger Bürgerkrieg gegen die Lobbyisten der Zersetzung ist, müssen wir die eine, traurige Wahrheit predigen, wo wir zu Wort kommen: Es sind die Deutschen selbst, die gegen ihr Land und gegen ihr Volk arbeiten."
    Götz  Kubitschek: Provokation. Edition Antaios. Schnellroda: 2017, S. 17

 

Als 'Barbaren'  galten in Griechenland alle Menschen, die nicht oder nur schlecht Griechisch sprechen konnten.

Über die Behauptung, nur Barbaren könnten sich verteidigen, hätten Athener und Spartaner zur Zeit von Perikles wohl nur gelacht.

Wahrscheinlich ist Enzensbergers Nietzsche-Zitat durch eine Fehlerinnerung an einen Satz Friedrich Nietzsches über Barbaren und die Barbaren-Kaste entstanden, aber ich kann nicht sagen, an welchen.

Wörter mit den Silben "barbar" kommen über 200 Mal in Nietzsches digitalisierten Schriften vor (nietzschesource.org)


Artikel in Arbeit.
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Quellen:

Friedrich Nietzsche: Digitale Kritische Gesamtausgabe der Werke und Briefe, basierend auf der Ausgabe von G. Colli und M. Montinari, Berlin/New York, de Gruyter: 1967ff., hrsg. von Paolo D’Iorio  (nietzschesource.org) 
Sebastian Kaufmann: "Nietzsche und die Neue Rechte: Auch eine Fortführung der Konservativen Revolution", in: "Friedrich Nietzsche und die konservative Revolution", herausgegeben von Sebastian Kaufmann und Andreas Urs Sommer, Friedrich-Nietzsche-Stiftung, Walter de Gruyter, Berlin / Boston: 2018 ebook (Link)
Hans Magnus Enzensberger: "Aussichten auf den Bürgerkrieg",
Suhrkamp, Frankfurt am Main: 1993, S. [7]
Götz  Kubitschek: "Provokation." Edition Antaios, Schnellroda: 2017, S. 17 [Vorerst zitiert nach Franz Erhard.]
Jack Donovan: "Nur Barbaren können sich verteidigen." Edition Antaios, Schnellroda: 2017 [In der amerikanischen Originalausgabe "Becoming a Barbarian" (2016) wird Nietzsches Namen nicht erwähnt, wenn ich mich nicht irre.] 


 
Friedrich Nietzsche:



  • "Jede Erhöhung des Typus „Mensch“ war bisher das Werk einer aristokratischen Gesellschaft — und so wird es immer wieder sein: als einer Gesellschaft, welche an eine lange Leiter der Rangordnung und Werthverschiedenheit von Mensch und Mensch glaubt und Sklaverei in irgend einem Sinne nöthig hat. Ohne das Pathos der Distanz, wie es aus dem eingefleischten Unterschied der Stände, aus dem beständigen Ausblick und Herabblick der herrschenden Kaste auf Unterthänige und Werkzeuge und aus ihrer ebenso beständigen Übung im Gehorchen und Befehlen, Nieder- und Fernhalten erwächst, könnte auch jenes andre geheimnissvollere Pathos gar nicht erwachsen, jenes Verlangen nach immer neuer Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst, die Herausbildung immer höherer, seltnerer, fernerer, weitgespannterer, umfänglicherer Zustände, kurz eben die Erhöhung des Typus „Mensch“, die fortgesetzte „Selbst-Überwindung des Menschen“, um eine moralische Formel in einem übermoralischen Sinne zu nehmen.

    Freilich: man darf sich über die Entstehungsgeschichte einer aristokratischen Gesellschaft (also der Voraussetzung jener Erhöhung des Typus „Mensch“ — ) keinen humanitären Täuschungen hingeben: die Wahrheit ist hart. Sagen wir es uns ohne Schonung, wie bisher jede höhere Cultur auf Erden angefangen hat! Menschen mit einer noch natürlichen Natur, Barbaren in jedem furchtbaren Verstande des Wortes, Raubmenschen, noch im Besitz ungebrochner Willenskräfte und Macht-Begierden, warfen sich auf schwächere, gesittetere, friedlichere, vielleicht handeltreibende oder viehzüchtende Rassen, oder auf alte mürbe Culturen, in denen eben die letzte Lebenskraft in glänzenden Feuerwerken von Geist und Verderbniss verflackerte. Die vornehme Kaste war im Anfang immer die Barbaren-Kaste: ihr Übergewicht lag nicht vorerst in der physischen Kraft, sondern in der seelischen, — es waren die ganzeren Menschen (was auf jeder Stufe auch so viel mit bedeutet als „die ganzeren Bestien“ — )."

    Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse: § 257.