Samstag, 20. Mai 2017

"Der Skandal fängt da an, wo die Polizei ihm ein Ende macht." Karl Kraus (angeblich)

Das ist die Version eines Satzes von Karl Kraus, die Henryk M. Broder in seinem Buch "Vergesst Auschwitz!: Der deutsche Erinnerungswahn und die Endlösung der Israel-Frage" in diesem Wortlaut gebracht hat (Link).

Er hat ein Wort dazu gegeben und eines verändert: "da" ist neu und statt "wo" gehört "wenn". Karl Kraus hat auch wegen eines fehlenden Kommas von Zeitungen Berichtigungen verlangt, er  wäre also auch mit dieser schlampigen Wiedergabe seines Aphorismus nicht zufrieden.

Korrekt lautet das Zitat: 
  • "Der Skandal fängt an, wenn die Polizei ihm ein Ende macht."
    Karl Kraus: Sprüche und Widersprüche, Erstausgabe, 1909

Die allererste Version des Aphorismus steht in dem Essay "Prozeß Veith." (1908) :
  • "Die Unsittlichkeit lebt so lange in Frieden, bis es dem Neid gefällt, die Moral auf sie aufmerksam zu machen, und der Skandal beginnt immer erst dann, wenn »die Polizei ihm ein Ende bereitet«."
    Karl Kraus, 1908

Dieses Zitat wurde schon öfters zum Problem. 1921 findet Karl Kraus folgende Stelle in der "Wiener Allgemeine Zeitung":
  •  »Und in anderem Sinne als der Ausspruch ursprünglich gemeint war, erinnert man sich der Worte Bahrs: »Der Skandal beginnt erst, wenn ihm die Polizei ein Ende macht.«

 Karl Kraus verlangt und bekommt folgende Berichtigung nach § 19 Preßgesetz:
  •  "Es ist unwahr, daß dieser Ausspruch Worte Bahrs sind. Wahr ist vielmehr, daß dieser Ausspruch von Karl Kraus stammt, in dessen Buch »Sprüche und Widersprüche (Kapitel »Moral und Christentum«, S. 50) der folgende Satz steht: »Der Skandal fängt an, wenn die Polizei ihm ein Ende macht.« Karl Kraus."

Die "Wiener Allgemeine Zeitung" bringt diese Berichtigung, allerdings mit der Erklärung, das Zitat sei zwar nicht von Hermann Bahr, aber ursprünglich von Ludwig Thoma, in dessen 1908 publizierter Komödie "Moral" folgender Satz stünde:  »Vergessen Sie nie, daß der Skandal sehr oft erst dann beginnt, wenn ihm die Polizei ein Ende bereitet

Karl Kraus verlangt neuerlich eine Berichtigung, weil Ludwig Thoma seine Erlaubnis hatte, diesen Aphorismus in seine Komödie einzubauen und die Prioritätsfrage durch die Publikationsdaten eindeutig sei.  Nachzulesen ist die unterhaltsame Glosse zu diesem Falschzitat-Casus in der "Fackel" Nr. 561, 1921, S. 73-77.
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Quellen:
"Die Fackel" Online, Österreichische Akademie der Wissenschaften
Karl Kraus: "Die Fackel", 1921, Nr. 561, S. 73-77
Karl Kraus: Sprüche und Widersprüche, Erstausgabe, 1909 
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(Artikel in Arbeit)

"Es gibt Dinge, die so falsch sind, dass nicht einmal das Gegenteil wahr ist." Karl Kraus (angeblich)

Die Wendung, etwas sei so falsch oder so verlogen, "dass nicht einmal das Gegenteil wahr ist", war in Österreich schon vor dem Ersten Weltkrieg in politischen Debatten verbreitet. 

Der Wiener Autor Friedrich Torberg hat diese Wendung in der Formulierung des ungarischen Schriftstellers Ferenc Molnár über einen problematischen Journalisten, der so lüge, "daß nicht einmal das Gegenteil wahr ist" (Link), weiter erzählt und später auch variiert.

Auch in einem Essay Kurt Tucholskys taucht 1927 die Wendung auf: Ein Minister habe "so schlecht gelogen, dass nicht einmal das Gegenteil von dem wahr war, was er sagte." (Link)

1920 schreibt Karl Kraus von Notlügen, "von denen nicht einmal das Gegenteil wahr ist", aber die  ihm zugeschriebene Verallgemeinerung, "Es gibt Dinge, die so falsch sind, dass nicht einmal das Gegenteil wahr ist", stammt nicht von Karl Kraus, sondern wurde ihm seit 1976 (ursprünglich von
Henryk M. Broder) unterschoben.


 1915, Unbekannt
  • "Nach den Lügen des 'Temps', von denen wenigstens das Gegenteil wahr ist, seien jetzt einige andere Lügen vorgeführt, die so dreist sind, daß nicht einmal ihr Gegenteil wahr sein kann."
    "Ein Tag des Weltkrieges" ("Von unserem militärischen Mitarbeiter), Pester Llyod, 11. Mai 1915, S. 3 (Link)


1920, Karl Kraus
  • "Dankbar bin ich keinem dafür, des kann er versichert sein, und die Idee, daß ich auf solche Beute lauere oder das Druckbild einer schändlichen Zeit durchwühle, um michsatirisch zu befriedigen und mit Zeitungspapier mir warm zu machen, gehört zu jenen armseligen Notlügen einer durch meinen Blick beengten Gegenwart, von denen nicht einmal das Gegenteil wahr ist."
    Karl Kraus, 1920

1925, Karl Kraus
  • "Aber im Fall des Herrn Otto Ernst, den ich nie gekannt habe und der nie ein mir bekanntes Wort gegen mich geschrieben hat, ist nicht einmal das Gegenteil wahr."
    Karl Kraus, 1925

1927, Kurt Tucholsky
  • Wenn Ihr Junge in der Schule nicht versetzt wird, dann darf er mit Ihnen nicht ins Theater gehen. Wenn ein Minister seine Aufgabe bis zum blamablen Zusammenbruch verfehlt hat, Fehler auf Fehler gehäuft, gelogen, aber schlecht gelogen, so schlecht gelogen, dass nicht einmal das Gegenteil von dem wahr war, was er sagte, geschoben, aber dumm geschoben, getäuscht, aber unvollkommen getäuscht –: dann geschieht was? Dann fährt er, unwiderruflich, liebe Frau, ins Ausland. Zur Erholung, liebe Frau.
    Kurt Tucholsky (Ignaz Wrobel): "Was soll er denn einmal werden?" Die Weltbühne, 10. Juli 1928, Nr. 28, S. 60 (Link)
 1956, Friedrich Torberg zitiert Ferenc Molnár
  • "Von einem Journalisten, der mit der Wahrheit besonders wüst und willkürlich umsprang, sagte er: 'Ein unverläßlicher Mensch. Er lügt so, daß nicht einmal das Gegenteil wahr ist'."
    Der Monat, Band 9, 1956, S. 62 (Link)
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Quellen:
Google
Pester Llyod, 11. Mai 1915, S. 3 (Link)
Friedrich Torberg, Der Monat, Band 9, 1956, S. 62 (Link)
Kurt Tucholsky (Ignaz Wrobel): "Was soll er denn einmal werden?" Die Weltbühne, 10. Juli 1928, Nr. 28, S. 60 (Link)
Karl Kraus: Die Fackel Nr. 554-556, 1920, S. 47
Karl Kraus: Die Fackel Nr. 686-690, 1925, S. 88
Kurt Tucholsky (Ignaz Wrobel): "Was soll er denn einmal werden?" Die Weltbühne, 10. Juli 1928, Nr. 28, S. 60 (Link)
Henryk M. Broder hat dieses Pseudo-Karl-Kraus-Zitat 1976 unter die Leute gebracht, und später - zum Beispiel 2009 - in einem Interview mit Dominik Betz und Gregor Haschni wiederholt.


(Artikel in Arbeit)

"Auferstehung ist unser Glaube, Wiedersehen unsere Hoffnung, Gedenken unsere Liebe." Augustinus (angeblich)

Dieser vor 1998 nicht nachweisbare Trauerspruch wird im 21. Jahrhundert Augustinus unterschoben. Der Urheber des Zitats ist unbekannt.
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Quellen:
Google Books 
Ulrich Seelbach und Mitarbeiterinnen, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld: "Trauersprüche"

"Trennung ist unser Los, Wiedersehen ist unsere Hoffnung. So bitter der Tod ist ...." Augustinus (angeblich)

Dieser alte Trauerspruch wurde von einer unbekannten Person geprägt und im 21. Jahrhundert  fälschlich Augustinus zugeschrieben.
  • "Trennung ist unser Los, Wiedersehen ist unsere Hoffnung.
    So bitter der Tod ist, die Liebe vermag er nicht zu scheiden.
    Aus dem Leben ist er zwar geschieden,
    aber nicht aus unserem Leben;
    denn wie vermöchten wir ihn tot zu wähnen,
    der so lebendig unserem
    Herzen innewohnt!"
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Quellen:
Google: "Ungefähr 1 630 Ergebnisse (0,65 Sekunden)"
Trauerspruch.de  
Grablichter.ch
Ulrich Seelbach und Mitarbeiterinnen, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld: "Trauersprüche"
 
 
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Dank:
 Ich danke Ulrich Seelbach sowie Peter Jäger für den Hinweis auf einen alten Grabstein mit diesem Spruch.

Letzte Änderung: 7/10 2022 (Korrektur)

"Die Suche nach Wahrheit ist köstlicher als deren gesicherter Besitz." Gotthold E. Lessing (angeblich)

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Pseudo-Lessing quote.











Die faustische Devise Lessings, dass die Erforschung der Wahrheit für Menschen produktiver sei als ihr Besitz, die Goethe, Kierkegaard, Albert Einstein und Hannah Arendt inspirierte, lautet im Original:
  • "Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Werth des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz –.
    Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: 'Wähle!' ich fiele ihm mit Demuth in seine Linke und sagte: 'Vater gieb! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!'"
    Gotthold E. Lessing: "Eine Duplik", 1778
In einer autobiographischen Skizze für die "Schweizer Hochschulzeitung" fasst Albert Einstein 1955 diesen Gedanken Lessings so zusammen:
  • "Wie dem auch sei, bleibt uns Lessings tröstendes Wort, das Streben nach der Wahrheit sei köstlicher als deren gesicherter Besitz." 
Diese Zusammenfassung Einsteins ist prägnant, schön und stimmig. Sie ist auch klar ersichtlich kein wörtliches Zitat; doch daraus entsteht durch eine spätere Übersetzung ins Englische und diverse Rückübersetzungen ein populäres Lessing-Zitat, das Lessing selbst so nie formuliert hat. Früher hielt man bei so einer Verkürzung eines Klassiker-Zitats den "Volksmund" für den Urheber der Transformation; bei Gotthold Ephraim Lessing ist Albert Einstein so gesehen unbeabsichtigt zum Volksmund geworden.

Aus Albert Einsteins Lessing-Zitat sind prägnante Falschzitate entstanden, die manchmal irrtümlich auch Albert Einstein selbst zugeschrieben werden.
  • "Wie dem auch sei, bleibt uns Lessings tröstendes Wort, das Streben nach der Wahrheit sei köstlicher als deren gesicherter Besitz."
    Albert Einstein, 1955 (Link)  
Einige Varianten:
  • "... es bleiben uns die tröstenden Worte Lessings: 'Das Streben nach Wahrheit ist wertvoller als ihr gesicherter Besitz.'"
    Albert Einstein (Link)
  • " .. und jeder darf Trost schöpfen aus Lessings schöner Bemerkung, nach der das Streben nach Wahrheit köstlicher ist als deren gesicherter Besitz."
    Albert Einstein (Link)
  • "... and also every man may draw comfort from Lessing's fine saying, that the search for truth is more precious than its possession." (Link)
    Albert Einstein 
  • "... Lessing's comforting words stay with us: 'The struggle for truth is more precious than its assured possession.'" (Link)
    Albert Einstein
  • "Die Suche nach Wahrheit ist köstlicher als deren gesicherter Besitz." G.E. Lessing
  • "Der Besitz der Wahrheit ist lange nicht so schön wie der Weg zu ihr." G.E. Lessing
  • "The search for truth is more precious than its possession." G.E. Lessing
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Anmerkung:
Eine Duplik ist die Erwiderung auf eine Replik.
Hier stammt die Replik von:
Johann, Heinrich Reß (Archidiaconus und Superintendent zu Wolfenbüttel): "Die Auferstehungsgeschichte Jesu Christi gegen einige im vierten Beytrage zur Geschichte und Litteratur aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel gemachte neure Einwendung vertheidiget.“ (Anonym puliziert), Braunschweiger Verlag der Fürstlichen Waisenhausbuchhandlung, Braunschweig: 1777
J.H. Reß repliziert auf:
Lessings „Fragmente eines Ungenannten“ in der Zeitschrift „Zur Geschichte und Litteratur aus den Schätzen der herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel“. 1773 und in den Jahren danach publiziert Lessing sieben Analysen zu 10 widersprüchlichen Darstellungen der Auferstehung Christi in den vier Evangelien.
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Quellen:
Gotthold E. Lessing: "Eine Duplik." (Erstdruck 1778) In: Lessing's sämmtliche Werke, herausgegeben von Richard Gosche, G. Grote'sche Verlagsbuchhandlung, Berlin: 1882, Siebenter Band, S. 286f.
G. E. Lessing: "Über die Wahrheit"(Gutenberg)
Albert Einstein: "Erinnerungen — Souvenirs." Verfasst im März 1955, kurz vor seinem Tod; für: "Schweizerische Hochschulzeitung" Nr. 28,  Sonderheft 100 Jahre ETH, Zürich: Herbst 1955, S. 145-153 (pdf); als "Autobiographische Skizze" (ohne die ersten Absätze) nachgedruckt in: Carl Seelig (Hrsg.): "Helle Zeit — Dunkle Zeit: In memoriam Albert Einstein." Reprint der Ausgabe Europa Verlag 1956, Vieweg, Braunschweig / Wiesbaden: 1986, S. 17 (Link)
Alice Calaprice (Hrsg.): "Einstein sagt: Zitate, Einfälle, Gedanken", Piper Verlag, München: 1997/2015 (Link) 
Albert Einstein: "The Albert Einstein Collection: Essays in Humanism, The Theory of Relativity, and The World As I See It", Kindle Edition, Philosophical Library/Open Road: September 6, 2016 (Link)
Günter Schulte: "Der blinde Fleck in Luhmanns Systemtheorie", LIT Verlag, Berlin: 1913 (Link)
Mein Papa sagt
Gutezitate.com
azquotes.com

Donnerstag, 18. Mai 2017

"Als deutscher Tourist im Ausland steht man vor der Frage, ob man sich anständig benehmen muss oder ob schon deutsche Touristen dagewesen sind." Kurt Tucholsky (angeblich)

Pseudo-Kurt-Tucholsky-Zitat.

Dieser Witz stammt nicht von Kurt Tucholsky, sondern so ähnlich aus der Verfilmung seines Romanes "Schloß Gripsholm. Eine Sommergeschichte" durch Kurt Hoffmann im Jahr 1963.


Kinoplakat, 1963 (Link)
  • "Muss ich mich anständig benehmen oder waren hier schon deutsche Touristen?"

    "Schloss Gripsholm", Ein Film von Kurt Hoffmmann, Drehbuch: Herbert Reinecker, 1963  (1:00:58)


Den Witz muss man also Herbert Reinecker, dem Drehbuchautor des Films, zuschreiben, aber nicht  Kurt Tucholsky. Ich folge mit dieser Einschätzung Friedhelm Greis, einem ausgewiesenen Kenner der Literatur von und zu Kurt Tucholksy.

Anscheinend hat der Autor Jürgen Groß 1999 den Witz für das Motto seines  Detektivromans "Gnadenlos Hart" als Erster Kurt Tucholsky unterschoben:

  • "Als deutscher Tourist im Ausland steht man vor der Frage, ob man sich anständig benehmen muß oder ob schon deutsche Touristen dagewesen sind."

Seit 1999 wird dieser Witz sehr oft irrtümlich Kurt Tucholsky zugeschrieben.
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Quellen:
Google
wikipedia - Gripsholm (Film)
Kurt Tucholsky: "Schloß Gripsholm. Eine Sommergeschichte", 1931

Jürgen Groß: "GNADENLOS HART", Detektivroman, Solmser Buchverlag, Frankfurt am Main: 1999, S. (6) (Link)
Friedhelm Greis: Sudelblog, Angebliche Tucholsky-Zitate
F.  Greis: "Sollte jemand dieses Zitat in Tucholskys Werk entdecken, bekommt er zur Belohnung ein Weltbühne-Lesebuch zugeschickt!"
Wikiquote

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Dank:
Ich danke Friedhelm Greis für die Sammlung falscher Tucholsky-Zitate auf seinem Sudelblog und besonders für seinen Hinweis auf den Ursprung dieses Falschzitats im Film "Schloss Gripsholm".

Letzte Änderung: 30/5 2020 (neu: Film)


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DVD:
(Link)

"Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte Recht haben." Kurt Tucholsky (angeblich)

Pseudo-Tucholsky quote; the American sociologist Louis Wirth coined this saw.

Dieses weit verbreitete Zitat ist in den Schriften Tucholskys nicht zu finden (Link).  Das Zitat wird als "altes deutsches Sprichwort" laut Google books 1986 das erste Mal erwähnt, taucht um 1990 als anonymes Graffiti in Deutschland auf (Link), und wird erst im 21. Jahrhundert, manchmal sogar auf Englisch, fälschlich Kurt Tucholsky zugeschrieben. 

Es stammt vielleicht von dem amerikanischen Soziologen Louis Wirth (*1897 + 1952): "Tolerance is the suspicion that the other fellow might be right." (Link)


  • "Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte recht haben. Intoleranz ist die Angst, der andere könnte recht haben."
    Anonymes Graffiti, um 1990 (Link)

Seit 2003 wird das Zitat als Pseudo-Tucholsky-Zitat durch unseriöse Zitatsammlungen hauptsächlich im Internet verbreitet und vereinzelt auch fälschlich Rosa Luxemburg zugeschrieben.

Varianten des Kuckuckszitats:

 
  • "Toleranz ist der verdacht der andere könnte recht haben."
  • "Toleranz ist der Verdacht, dass der andere Recht hat."
  • "Toleranz ist der Verdacht, dass der andere Recht haben könnte."
  • "Tolerance is the suspicion that the other might be right."
  • "Tolerance is the suspicion that the other fellow might be right." 
  • "Tolerance is the suspicion that the other person just might be right. Kurt Tucholsky"  
Pseudo-Tucholsky quote.

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Quellen:
 Google

Michael Fleischer: "Die Semiotik des Spruches: kulturelle Dimensionen moderner Sprüche (an deutschem und polnischem Material)", Universitätsverlag N. Brockmeyer, Bochum: 1991, S. 332  (Link)
"Romanistisches Jahrbuch," Band 37, herausgegeben von Olaf Deutschmann ua.,  Walter de Gruyter, Berlin/ New York,  1986, S. 150 (Link)
Lewis M. Killian: "Black and White: Reflections of a White Southern Sociologist", General Hall,  Rowman and Littlefield, Lanham / Boulder / New York / Oxford: 1994, S. 219  (Link)
Friedhelm Greis: Sudelblog, Angebliche Tucholsky-Zitate
Falsche Zuschreibungen:
Erstmals vielleicht in: Theodor Weissenborn, Günter Helmes: "Werke", Band 4, Briefsatiren, Carl Böschen Verlag: 2003, S. 186 (Link)
Frühe Zuschreibung an Kurt Tucholsky, 2004: Anonym, Lorraine   
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Dank:
Ich danke Friedhelm Greis für die Dokumentation angeblicher Kurt-Tucholsky-Zitate in seinem Sudelblog und  Kirmes-Gitti für den Tucholsky-Bierdeckel.

Letzte Änderung: 27/4 20018

Mittwoch, 17. Mai 2017

"Ich hasse, was du sagst, aber ich würde mein Leben dafür geben, dass du es sagen darfst." Voltaire (angeblich)

Pseudo-Voltaire quote.
Voltaire lebte gerne und war klug genug, nicht einmal für seine eigenen Ideen sein Leben zu riskieren. Er war zweimal in der Bastille und benützte für seine Polemiken gegen die katholische Kirche und andere Mächte alles in allem 130 Pseudonyme, damit er nicht noch einmal ins Gefängnis musste. Er war ein "Freund der Wahrheit, aber überhaupt kein Freund des Märtyrertums" (Link).

Er wäre auch nicht für den Unsinn eines Anderen in den Tod gegangen. Trotzdem ist dieser Spruch seit Jahrzehnten eines der populärsten Zitate Voltaires, obwohl schon 1989 nachgewiesen wurde, dass das Zitat von seiner Biografin Evelyn Beatrice Hall aus dem Jahr 1906 stammt, und erst später irrtümlich Voltaire selbst zugeschrieben wurde.

Evelyn Beatrice Hall hat sich - wie Garson O'Toole herausfand - 1945 entschuldigt, dass sie den Satz, "I disapprove of what you say, but I will defend to the death your right to say it", in Anführungszeichen setzte, so dass das Missverständnis aufkam, das sei ein Voltaire-Zitat (Link).  

Einige Varianten des Pseudo-Voltaire-Zitats:

  • "I disapprove of what you say, but I will defend to the death your right to say it."
  • "I do not agree with what you have to say, but I'll defend to the death your right to say it."
  • "Ich missbillige, was Sie sagen, aber ich werde bis zum Tod Ihr Recht verteidigen, es zu sagen." 
  • "Ich hasse, was du sagst, aber ich würde mein Leben dafür geben, dass du es sagen darfst."
  • "Du bist anderer Meinung als ich und ich werde dein Recht dazu bis in den Tod verteidigen." 

Voltaire

Der Philosoph, Historiker und Dramatiker Voltaire war in der Tat eine der lautesten Stimmen im 18. Jahrhundert für Toleranz und gegen Zensur. 

Zwei Sätze, die er wirklich zu Toleranz und Zensur gesagt hat:

1764, Für Toleranz
  • "Es ist klar, dass ein Individum, das ein anderes, seinen Bruder, verfolgt, weil es nicht seine Meinung teilt, ein Monster (un monstre) ist."

    "Il est clair que tout particulier qui persécute un homme, son frère, parce qu'il n'est pas de son opinion, est un monstre."
    Voltaire:
    Dictionnaire philosophique, 1764 "Tolérance"

1765, Gegen Zensur

  • "Das Recht zu sagen und zu drucken, was wir denken, ist das Recht eines jeden freien Menschen, das man nicht leugen kann, ohne die abscheulichste Tyrannei auszuüben. Dieses Vorrecht ist für uns ebenso wichtig wie die Ernennung unserer Verwalter und Politiker, das Eintreiben von Steuern, die Entscheidung über Krieg und Frieden; und es wäre ein Hohn, wenn diejenigen, die die Souveränität haben, ihre Meinung nicht schriftlich äußern könnten. "
    Voltaire: Questions sur les miracles (Link)
  • "Le droit de dire et d'imprimer ce que nous pensons est le droit de tout homme libre, dont on ne saurait le priver sans exercer la tyrannie la plus odieuse. Ce privilège nous est aussi
    essentiel que celui de nommer nos auditeurs et nos syndics, d'imposer des tributs, de décider de la guerre et de la paix; et il serait plaisant que ceux en qui réside la souveraineté ne pussent pas dire leur avis par écrit."
    VOLTAIRE: Questions sur les miracles

  • "The right to say and print what we think is the right of every free man, who cannot be deprived of it without exercising the most odious tyranny."
    VOLTAIRE, Questions sur les miracles

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Quellen:
Voltaire: Dictionnaire philosophique, 1764: "Tolérance"
Voltaire: Philosophical Dictionary, 1764: "Toleration"
Wikiquote: Diskussion Voltaire
Evelyn Beatrice Hall (Pseudonym: S. G. Tallentyre): "The Friends of Voltaire", John Murray, London: 1906, S. 199 (Link)
Voltaire: "Questions sur les miracles", 1765, ŒUVRES COMPLÈTES de Voltaire, 25 Mélanges IV, GARNIER FRÈRES, LIBRAIRES-ÉDITEURS, Paris: 1879, S. 418f. (Link)
Voltaire: "The Sincere Huron." (French Classics Series), Kindle Edition, e-artnow: 2016 (Link)
1989: Paul F. Boller jr., John George: "They Never Said It: A Book of Fake Quotes, Misquotes, and Misleading Attributions", Oxford University Press, Oxford / New York: 1989, S. 124 ff.
2011: anmerkungendonecvenias: "Was hat Voltaire wirklich zur Meinungsfreiheit gesagt?" 
2015: Garson O'Toole (Quote Investigator): "I Disapprove of What You Say, But I Will Defend to the Death Your Right to Say It - Voltaire? François-Marie Arouet? S. G. Tallentyre? Evelyn Beatrice Hall? Ignazio Silone? Douglas Young? Norbert Guterman?", 2015 (Link)

"Was man tief in seinem Herzen besitzt, kann man nicht durch den Tod verlieren." Johann Wolfgang von Goethe (angeblich)


Pseudo-Goethe-Zitat.
Dieser unglaublich weit verbreitete Trauerspruch - auf Traueranzeigen und Parten in der Schweiz, Deutschland und Österreich - wird Johann Wolfgang von Goethe erst im 21. Jahrhundert irrtümlich zugeschrieben.

 Das Zitat stammt so ähnlich aus Ludwig Ganghofers 1899 erschienenem Tiroler Gebirgs-Roman "Das Schweigen im Walde".

Der in seiner Zeit berühmte Heimatdichter nannte im Roman die Sprecherin des Zitats  "Lolo Petri". Sie ist die Tochter des vor Kurzem verstorbenen Münchner Malers "Emmerich Petri", und lebt jetzt abgeschieden in einer Hütte, die ihr Vater oberhalb eines Waldsees selbst erbaut hatte:

  • "Was man tief in seinem Herzen besitzt, was mit uns verbunden ist in jedem Gedanken und Gefühl, das kann man nicht verlieren."
    Ludwig Ganghofer: "Das Schweigen im Walde" (Lolo Petri), 1899 (Link); Projekt Gutenberg  
Ludwig Ganghofer: "Das Schweigen im Walde", ("Sie" ist die Romanfigur Lolo Petri.) (Link)
Das Zitat taucht in den sozialen Medien um das Jahr 2002 ohne Zuschreibung an einen Autor oder an eine Autorin auf und wird im Internet seit 2004 Johann Wolfgang Goethe unterschoben.

Inzwischen wird das falsch zugeschriebene Zitat in vielen Trauerspruchsammlungen von Bestattungsfirmen verbreitet.  

Vielleicht ergeben zukünftige Recherchen, dass Ludwig Ganghofer dieses Zitat nicht geprägt, sondern von einer noch unbekannten Quelle übernommen hat.

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Quellen:
Google-Statistik: "Ungefähr 11 200 Ergebnisse"
 Lexikon der Goethe-Zitate. Hrsg. von Richard Dobel, Artemis Verlag, Weltbild Verlag, Augsburg: 1991
Ludwig Ganghofer: "Das Schweigen im Walde", Droemersche Verlagsanstalt Knaur: 1968, S. 93 (Link)(gutenberg.spiegel.de) 
Arbeitsgruppe von Ulrich Seelbach von der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld: "Trauersprüche"

 Ohne Zuschreibung an Goethe:
2002: penig.de/assets/Penig/amtsblatt/02-05-31.pdf
2003: krebs-kompass.org
2004: .chefkoch.de/forum
2005: simforum.de

Irrtümliche Zuschreibung des Trauerspruchs an Goethe seit dem Jahr 2004:
2004: fotocommunity.de/pc/pc/display/1812042
2004: horse-gate-forum.com

2005: das-haflingerforum.ch


2010: total-lokal.de/pdf

Beispiele für falsche Zuschreibung in Trauerspruchsammlungen:
trauerspruch.de
aphorismen.de/zitat/25919
postkartenparadies.de/



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Dank:
Ich danke Ulrich Seelbach von der Universität Bielefeld für seine kommentierte Sammlung von aktuellen Trauersprüchen und Zitante Christa für ihre Recherchen.  

Letzte Änderung: 11. Juni 2019

Dienstag, 16. Mai 2017

"Wir haben das falsche Schwein geschlachtet." Winston Churchill (angeblich)

Pseudo-Winston-Churchill-Zitat.


Dieses in rechten Kreisen beliebte Pseudo-Churchill-Zitat wurde ihm schon kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs untergeschoben (Link).

Es soll die Meinung Winston Churchills ausdrücken, es wäre besser gewesen, Stalin zu besiegen und nicht Hitler: 

Aber Winston Churchill war nicht dieser Meinung, er hat es nie bereut, gegen Hitler-Deutschland gekämpft zu haben; es gibt keine seriöse Quelle für dieses Zitat. Also ist es ein Falschzitat.

Varianten des Kuckuckszitats:

  • "It is clear to me now that we have slaughtered the wrong pig." (Link)
  • "We butchered the wrong pig."
  • "We've cut the wrong pig." 
  • "Wir haben das falsche Schwein geschlachtet."

Experten der International Churchill Society bestätigen, dass dieser Spruch in keinem Text Winston Churchills zu finden ist und ihm fälschlich zugeschrieben wird:
  • "We searched our research database but have not found either 'we slaughtered the wrong pig' or 'we fought the wrong enemy.'" (Link)
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Quellen:
Google
International Churchill Society, winstonchurchill.org: (Link)
New Statesman, Band 36, 1948, S. 373 (Link)
Wikipedia

Falsche Zuschreibungen, zum Beispiel in: 

Der Spiegel, 2006: "Churchills Geheimnisse Ein elektrischer Stuhl für Hitler" 
Enst Jünger, "Siebzig verweht II", Klett-Cotta, Stuttgart: 1981, S. 443 (Link)


Letzte Änderung: 1/4 2022

"Für ein zufriedenes Leben braucht man neun Dinge: genügend Gesundheit ..." Johann Wolfgang von Goethe (angeblich)

Pseudo-Goethe quote
Seit 1935 wird dieses Zitat auf Englisch Johann Wolfgang Goethe zugeschrieben, erst im 21. Jahrhundert auch auf Deutsch. Es ist in den Schriften Goethes nicht zu finden; Quote Investigator ist der Geschichte dieser falschen Zuschreibung nachgegangen: (Link)

Varianten:
  • "Für ein zufriedenes Leben braucht man neun Dinge:
    Genügend Gesundheit, dass die Arbeit Freude macht.
    Genügend Wohlstand, um seine Bedürfnisse zu befriedigen.
    Genügend Kraft, um mit seinen Schwierigkeiten zu kämpfen und sie zu besiegen.
    Genügend Gnade, um seine Sünden zu bekennen und zu überwinden.
    Genügend Geduld, um sich zu bemühen, bis etwas Gutes zustande gekommen ist.
    Genügend Nächstenliebe, um in seinen Nachbarn etwas Gutes zu entdecken.
    Genügend Liebe, um sich zu entschließen, anderen zu helfen.
    Genügend Glaube, um die wahren Werke Gottes zu tun.
    Genügend Hoffnung, dass all die angstvollen Zukunftsgedanken schwinden."
  • "The Nine Requisites for Contented Living:
    (1) Health enough to make work a pleasure.
    (2) Wealth enough to support your needs.
    (3) Strength to battle with difficulties and overcome them.
    (4) Grace enough to confess your sins and forsake them.
    (5) Patience enough to toil until some good is accomplished.
    (6) Charity enough to see some good in your neighbor.
    (7) Love enough to move you to be useful and helpful to others.
    (8) Faith enough to make real the things of God.
    (9) Hope enough to remove all anxious fears concerning the future."

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Quelle:
Quote Investigator: "Nine Requisites for Contented Living - Johann Wolfgang von Goethe? William D. Smith? Anonymous?", 2016 (Link)



Montag, 15. Mai 2017

"Einer Invasion von Armeen kann man Widerstand leisten, aber keiner Idee, deren Zeit gekommen ist." Victor Hugo (angeblich)

Dieses Zitat ist die Verbindung eines Satzteiles Victor Hugos mit einem Satzteil aus einem Roman von Gustave Aimard. Aus dem Satz Victor Hugos: "Man kann der Invasion von Armeen Widerstand leisten, aber keiner Invasion von Ideen", wurde mit der Zeit die prägnantere Wendung: "... doch nicht einer Idee, deren Zeit gekommen ist". (Siehe: Juttas Zitateblog)
  • 1852/1877:
    "Man kann der Invasion von Armeen widerstehen, aber keiner Invasion von Ideen."
    „On résiste à l'invasion des armées; on ne résiste pas à l'invasion des idées.“
    Victor Hugo, "Histoire d'un crime", Paris: 1852 (geschrieben) / 1877 (erstveröffentlicht) (Link)
  • 1861:
    "Es gibt etwas, das stärker ist als die rohe Gewalt der Bajonette: das ist eine Idee, deren Zeit gekommen ist und deren Stunde geschlagen hat."
    "Il y a quelque chose de plus puissant que la force brutale des baïonnettes: c'est l'idée dont le temps est venu et l'heure est sonnée." 
    Gustave Aimard: "Les Francs-Tireurs", Paris: 1861 (Link)
  • Heute:
    "Man kann der Invasion einer Armee widerstehen, doch nicht einer Idee, deren Zeit gekommen ist."
    „On peut résister à l’invasion d'une armée mais pas à celle d’une idée dont le temps est venu.“
    (Tausendfach in diversen Varianten und verschiedenen Sprachen Victor Hugo zugeschrieben.)
Einige Varianten (gesammelt von Juttas Zitateblog):
  • "Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist."
  • "Der Invasion von Armeen kann Widerstand geleistet werden, nicht aber einer Idee, deren Zeit gekommen ist."
  • "Doch nichts wirkt so stark wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist."
  • "Einer Invasion von Armeen kann man Widerstand leisten, aber keiner Idee, deren Zeit gekommen ist."
  • "Es gibt etwas, das stärker ist als alle Armeen der Welt, und das ist eine Idee, deren Zeit gekommen ist."
  • "Es gibt nichts Mächtigeres auf der Welt als eine Idee deren Zeit gekommen ist."
  • "Etwas ist stärker als alle Armeen der Welt: eine Idee, deren Zeit gekommen ist."
  • "Gegen die Invasion einer Armee kann man sich verteidigen, gegen die Invasion einer Idee gibt es keine Verteidigung."
  • "Keine Armee der Welt kann sich der Macht einer Idee widersetzen, deren Zeit gekommen ist."
  • "An invasion of armies can be resisted; an invasion of ideas cannot be resisted."
  • "Armies cannot stop an idea whose time has come.No one can resist an idea whose time has come."
  • "Nothing is as powerful as an idea whose time has come."
  • "One can resist an army, but never an idea whose time has come."
  • "We resist the invasion of armies, but we do not resist the invasion of ideas."
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Quellen:
Juttas Zitateblog
Wikiquote Englisch: Victor Hugo (präziser als Wikiquote, Deutsch)
Wikiquote Deutsch: Victor Hugo
Ralph Keyes: "The Quote Verifier: Who Said What, Where, and When", 2007: (Link)
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Ich danke Tobias Blanken für den Hinweis auf dieses Zitat.

Samstag, 13. Mai 2017

"Zwei Dinge sollten Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel." Johann Wolfgang von Goethe (angeblich)

Pseudo-Goethe-Zitat. 
Dieses Pseudo-Goethe-Zitat kam vor knapp 20 Jahren auf und wurde in einer germanistischen Fachzeitschrift längst als Falschzitat entlarvt.

Auf Englisch ist das angebliche Goethe-Zitat - wie Garson O'Toole herausgefunden hat - als Ausspruch einer unbekannten "weisen Frau" seit 1953 nachweisbar (Link).

 Das Zitat wird in Amerika einigen Personen unterschoben, in den letzten 10 Jahren auch sehr oft Johann Wolfgang von Goethe.

Zeitschriften wie Stern und Focus haben neben Facebook und Twitter zu seiner Verbreitung beigetragen und es fehlen auch keine Online-Zitatesammlungen sowie die üblichen Ratgeber für Manager, wie: "Maucher und Malik über Management: Maximen unternehmerischen Handelns", die mit diesem Falschzitat Nähe zu Bildung und Tradition simulieren.
  • "Zwei Dinge sollten Kinder von Ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel."
  • "There are two things children should get from their parents: roots and wings."
Pseudo-Goethe quote.
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Quellen:
"Goethismus. Zur Phänomenologie literarischer Zitation." Von Robert Charlier, Berlin Jahrbuch für internationale Germanistik, Band 37: 2005, S. 165
Über die Metapher (ohne Goethebezug):
Gabriele Meyer: "Spuren lesen im Ego-Tunnel: Autobiographisches Schreiben im 21. Jahrhundert", Diplomica Verlag: 2013,  Kapitel: "Die Wirkungsebene - Wurzel und Flügel spüren", S. 25ff.
Garson O'Toole: "'There Are Two Lasting Bequests We Can Give Our Children: Roots and Wings ': Henry Ward Beecher? Jonas Salk? Hodding Carter? Wise Woman? Ronald Reagan? Jean W. Rindlaub? Anonymous?", 2014 (Link) 

Beispiele für falsche Zuschreibungen:
Google-Statistik, Deutsch: "Ungefähr 1 480 Ergebnisse"
Google-Statistik, Englisch: "Ungefähr 958 Ergebnisse"
mysmallboat.info , 2006 (frühe englische Zuschreibung)
Helmut Maucher, Fredmund Malik, Farsam Farschtschian: "Maucher und Malik über Management: Maximen unternehmerischen Handelns", Campus: 2012, S. 344
 Stern
Focus

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Dank:
Ich danke wieder einmal Ralph Bülow sehr für seinen Hinweis auf Garson O'Tooles Recherchen.

Artikel in Arbeit.

"Wir werden nimmer seinesgleichen sehen." Shakespeare, Julius Cäsar (angeblich)


Süddeutsche Zeitung, 12. Mai 2017
Das steht am 12. Mai 2017 so in einem der vielen Nachrufe auf den ehemaligen Feuilletonchef der "Süddeutschen Zeitung", Joachim Kaiser. - Julius Cäsar hat mit diesem Spruch nichts zu tun: Hamlet sagt das so ähnlich über seinen Vater.
Zur Erinnerung:
Hamlet redet in der Tragödie in der 2. Szene des 1. Akts in einem "Staatszimmer" im Schloss von Helsingör mit Horatio über seinen Vater:
  • "HORATIO
    Ich sah ihn einst, er war ein wackrer König.
    HAMLET
    Er war ein Mann, nehmt alles nur in allem;
    Ich werde nimmer seinesgleichen sehn."
    William Shakespeare: "Hamlet. Prinz von Dänemark." I/2  (Schlegel-Tiecksche Übersetzung)
  • "HORATIO
    Ich sah ihn einst, er war ein guter König.
    HAMLET
    Er war ein Mann; nehmt alles nur in allem,
    Ich werde nie wieder seinesgleichen sehn."
    William Shakespeare: "Hamlet." I/2 (Übersetzung von Erich Fried)
  • "HORATIO
    Ich sah ihn mal, er war ein großer König.
    HAMLET
    Er war ein Mann, allseits in all und allem.
    Ich werde nie wieder jemand sehn wie ihn."
    William Shakespeare: "Hamlet." I/2 (Übersetzung von Frank Günther)
  • "HORATIO
    Ich sah ihn einst: er war ein stolzer König.
    HAMLET
    Er war ein Mann, nehmt alles nur in allem;
    Ich werde seinesgleichen nie mehr sehn."
    William Shakespeare: "Hamlet. Prinz von Dänemark." I/2  (Übersetzung von Richard Flatter)
  • "HORATIO
    I saw him once. He was an admirable king.
    HAMLET
    He was a great human being. He was perfect in everything.
    I’ll never see the likes of him again."
    Modernisierung: "No Fear Shakespeare"

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Quellen:
Shakespeares sämtliche Dramen in vier Bänden. Schlegel-Tiecksche Übersetzung, 2. Band, Phaidon-Verlag, Stuttgart / Wien / New York: (o. D.)
Erich Fried: Shakspeare, 2. Band, Verlag Klaus Wagenbach,  Berlin: 1989
Richard Flatter: Shakespeare neu übersetzt. In sechs Bänden. 3. Band, Walter Krieg Verlag, Wien / Bad Bocklet / Zürich: 1954
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Dank an Archiphilologus für den Hinweis auf Frank Günthers Übersetzung.

Donnerstag, 11. Mai 2017

"Macht Euren Dreck alleine!" Bismarck (angeblich)

Dieser Spruch ist um den 10. November 1918 in Dresden entstanden und wird heute irrtümlich manchmal Bismarck unterschoben. Drei Tage nach dem Rücktritt König Friedrich Augusts III. von Sachsen steht diese Redensart in folgender Version in den "Hamburger Nachrichten":
  • "König Friedrich Augusts Abschiedsworte.
    Zwei Worte des Königs von Sachsen werden in Dresden erzählt. In den kritischen Tagen vor Ausbruch der Revolution forderte man ihn auf, anzuordnen, daß die Wache im Residenzschloß verstärkt werde. Der König lehnte das aber ab mit den Worten: "Ich werde doch den Krieg nicht auf der Schloßstraße fortsetzen!" Als dann die Republik ausgerufen wurde, äußerte er: „Na, wenn Ihr mich nicht wollt, macht Euren Dreck alleene..."
    Hamburger Nachrichten,  16. November 1918
Diese resignativen Worte bekommen bald Flügel und werden in mehreren Varianten von vielen Zeitungen in Deutschland und Österreich wiederholt. Vor 1918 gibt es diesen Spruch nicht. Ob  er wirklich vom letzten sächsischen König - oder für ihn geprägt wurde, weiß man nicht genau.

Am 24. April 1919 ehrt Kurt Tucholsky (unter seinem Pseudonym "Kaspar Hauser") diesen abgedankten König, der auf Gewaltmaßnahmen gegen die gehorsamverweigernden Arbeiter- und Soldatenräte verzichtet hat, mit einem Gedicht:

Einige Varianten:
  • "Na, wenn Ihr mich nicht wollt, macht Euren Dreck alleene ..."
  • "Machd eich eiern Drägg alleene!“
  • "Nu da machd doch eiern Drägg alleene!"
  • "Macht euch euern Dreck alleene!"
  • "Macht Euren Dreck alleine!"
  • "Macht euren Mist alleine!"
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Quellen:
"Hamburger Nachrichten", Abend-Ausgabe, 16. November 1918, S. (2)
"Die Weltbühne", 24. April 1919, Nr. 18, S. 483
Wikipedia
"Trend", 19/2017: Andreas Weber: "Macht Euren Dreck alleine" (Irrtümlich Otto von Bismarck zugeschrieben.)

Montag, 8. Mai 2017

"Zuerst ignorieren sie dich, dann lachen sie über dich, dann bekämpfen sie dich und dann gewinnst du." Mahatma Gandhi (angeblich)

Pseudo-Mahatma-Gandhi-Zitat.
 
Sarah Palin, Bernie Sanders, Donald Trump und Hillary Clinton haben diesen angeblichen Gandhi-Spruch verbreitet, so wie tausende andere auch, obwohl seit 2011 in verschiedensten Zeitungen zu lesen war, dass der Spruch falsch zugeschrieben wird.

Er ist die realistische Zusammenfassung der Erfahrung von vielen politischen Aktivisten. Gandhi hat es ähnlich erlebt und auch beschrieben, aber er hat diesen Spruch, der ihm seit 1981 untergeschoben wird, selber nie so prägnant gesagt.

Geprägt wurde der Aphorismus 1918 von einem US-Gewerkschafter namens Nicholas Klein, von dem man nicht viel mehr weiß, als dass er unseren globalen Wortschatz mit diesem Spruch bereichert hat. 
 
Er schrieb zum Beispiel für die Hobo News, eine Zeitung für obdachlose Arbeitsimmigranten (Hobos). Ursprünglich hatte der Spruch diese Fassung:

Nicholas Klein, 1918


  • "First they ignore you.
    Then they ridicule you.
    And then they attack you and want to burn you.
    And then they build monuments to you."
    Nicholas Klein, Baltimore, 15. Mai 1918 (Link)
  • "Und, liebe Freunde, in dieser Geschichte findet ihr die Historie unserer gesamten Bewegung wieder: Zuerst ignorieren sie dich. Dann machen sie dich lächerlich. Dann greifen sie dich an und wollen dich verbrennen. Und dann errichten sie dir Denkmäler. Und das ist genau das, was den vereinigten Arbeitern der Bekleidungsindustrie Amerikas passieren wird."
    Nicholas Klein, 15. Mai 1918, auf einem Gewerkschaftsstag der vereinigten Textilarbeiter Amerikas in Baltimore. (Übersetzung: Jungle World)

1922 schreibt Mahatma Gandhi: "Lächerlich gemacht zu werden ist wie Unterdrückung" ... "Wenn in einem zivilisierten Land der Spott eine Bewegung nicht umzubringen vermag, dann wird sie langsam respektiert".

Mahatma Gandhi, 1922

  • "Unfortunately for His Excellency the movement is likely to grow with ridicule as it is certain to flourish on repression. No vital movement can be killed except by the impatience, ignorance or laziness of its authors. A movement cannot be 'insane' that is conducted by men of action as I claim the members of the Non-co-operation Committee are. … Ridicule is like repression. Both give place to respect when they fail to produce the intended effect. … It will be admitted that non-co-operation has passed the stage [of] ridicule. Whether it will now be met by repression or respect remains to be seen. … But the testing time has now arrived. In a civilized country when ridicule fails to kill a movement it begins to command respect."
    Mahatma Ghandhi, Freedom's Battle, 1922 (Link) 




Pseudo-Gandhi-Zitat.

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ZITATFORSCHUNG unterstützen.

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Quellen:
Google-Statistik, Deutsch: "Ungefähr 38 000 Ergebnisse"
Google-Statistik, Englisch: "Ungefähr 98 700 Ergebnisse"

Nicholas Klein: "Address of Nicholas Klein to the Biennial Convention of the Amalgamated Clothing Workers of America", Baltimore, 15. Mai 1918, in:  Proceedings of the Third Biennial Convention of the Amalgamated Clothing Workers of America: 1918, S . 53;   (Link wikisource)
Mahatma Gandhi: "Freedom's Battle. Being a Comprehensive Collection of Writings and Speeches on the Present Situation." Second Edition: 1922, Gutenberg ebook: 2003 (Link) 
Wikiquote, Englisch 
Wikiquote, Deutsch
Elke Wittich, Boris Mayer: "Gandhi ist immer gut",  20. Oktober 2011, Jungle World
Snopes, "First They Ignore You, Then They Vote for You? A quote misattributed to Mahatma Gandhi started recirculating after it was tweeted by presidential candidate Donald Trump." 2016

  

Samstag, 6. Mai 2017

"Der Witz ist das Erdgeschoss des Humors, die Satire der erste Stock, die Ironie der zweite, der Sarkasmus das Mansardenstübchen." Karl Kraus (angeblich)

 
Süddeutsche Zeitung, 5. Mai 2017: Pseudo-Karl-Kraus-Zitat

Auf Google Books taucht dieses Zitat erstmals 2007 auf, und wird dem Schauspieler Werner Krauß zugeschrieben; zehn Jahre später liest man in Online-Zitat-Sammlungen, Karl Kraus sei der Urheber dieses Bonmots; ich kann nicht wissen, ob es wirklich von Werner Krauß stammt: von Karl Kraus ist es sicher nicht. Erstens klingt es zu harmlos humorig und zweitens ist es in seinen Schriften nicht zu finden. Wahrscheinlich ist dieses Pseudo-Karl-Kraus-Zitat über eine Zitate-Sammlung wie Aphorismen.de in die "Süddeutsche Zeitung" gekommen.

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Google-Statistik: "Ungefähr 3 120 Ergebnisse"; das Zitat ist also weit verbreitet und wird abwechselnd Werner Krauß oder Karl Kraus zugeschrieben. 
Quellen:
Ralph Schneider: "Zitatenschatz Krebs - 22.06. - 22.07: Für jeden Tag die besten Sprüche von 150 Krebs-Persönlichkeiten der Zeitgeschichte", 2007, S. 15
Sarkasmus-ironie-zynismus.de
Aphorismen.de
Martin Zips: "Satiregruppe startet Aktion gegen Waffenindustrie", "Süddeutsche Zeitung", 5. Mai 2017, SZ.de

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Ich danke Joseph Wälzholz für den Hinweis.