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Freitag, 16. August 2019

"Der Balkan beginnt am Rennweg." Klemens Wenzel Fürst Metternich (angeblich)

Der österreichische Staatskanzler Metternich hat nie gesagt, hinter seinem Palais am Rennweg fange der Balkan an. In diesem Wortlaut wurde ihm das Bonmot erst im 20. Jahrhundert unterschoben.

Im 19. Jahrhundert wurde Metternichs Bonmot in den Versionen "Asien fängt auf der Landstraße an" oder "Hinter meiner Villa am Rennweg beginnt der Orient" weitererzählt.

Der österreichische Schriftsteller und Journalist Ferdinand Kürnberger gibt im Jahr 1871 - 12 Jahre nach Metternichs Tod - sogar eine Quelle für das Bonmot an: Ein Hauslehrer Metternichs habe es ihm erzählt:

Ferdinand Kürnberger, 1871:


  • "Denn als ich mein Wort [Wien ist 'eine europäisch-asiatische Grenzstadt'] eines Tages einem Manne sagte, welcher Hauslehrer beim Fürsten Metternich gewesen, antwortete derselbe: Sie geben also dem alten Herrn recht, welcher zu sagen pflegte: Asien fängt auf der Landstraße an! ('Die Landstraße' ist die östlichste, in der Richtung nach Ungarn gelegene Wiener Vorstadt.)"
    Ferdinand Kürnberger: "Asiatisch und Selbstlos", 16. November 1871 (Link)


Ferdinand Kürnberger wäre schon längst völlig vergessen, wenn er nicht von Karl Kraus empfohlen und von Ludwig Wittgenstein und Theodor W. Adorno zitiert worden wäre. Die Motti von dem  Tractatus Logico-Philosophicus  und der "Minima Moralia" stammen von Kürnberger.

Die Stereotype des Unprotestantischen, Schlampigen, Undeutschen, Korrupten, Unverlässlichen, die im 19. Jahrhundert mit den Begriffen 'Orient' und 'Asien' verbunden waren, bekamen erst im 20. Jahrhundert den Namen 'Balkan'.

Niemand will heute Balkan sein, Balkan "ist immer der Andere", schreibt Slavoj Žižek und wo der Balkan beginnt, ist umstritten: Für die einen beginnt er in Ungarn, Kroatien, Serbien, im Kosovo oder im Osten Wiens Richtung Ungarn, für manche Vorarlberger ist Wien und ganz Österreich schon Balkan und für manche Deutsche ist angeblich Alles südlich von Ulm Balkan.

 Evolution des Balkan-Zitats:


1867
  • Das Erherzogtum Österreich ist ein "Grenzland, war von jeher am Rande europäischer Gesittung gelegen und in diesem Sinne hatte der Staatskanzler Metternich recht, wenn er sagte: 'Hinter meiner Villa am Rennweg beginnt der Orient.' "
    Konstitutionelle Volkszeitung, Nr. 27, 3. Jg, 30. Juli 1867, S. 3 (Link)
1871

  • "Denn als ich mein Wort [Wien ist 'eine europäisch-asiatische Grenzstadt'] eines Tages einem Manne sagte, welcher Hauslehrer beim Fürsten Metternich gewesen, antwortete derselbe: Sie geben also dem alten Herrn recht, welcher zu sagen pflegte: Asien fängt auf der Landstraße an! ('Die Landstraße' ist die östlichste, in der Richtung nach Ungarn gelegene Wiener Vorstadt.)"

    Ferdinand Kürnberger: "Asiatisch und Selbstlos", 16. November 1871, in: Werke, Band I, Siegelringe. Eine Sammlung politischer und kirchlicher Feuilletons. Herausgegeben von O. E. Deutsch,  Georg Müller, München / Leipzig: 1910, S. 196 (Link)
1880
  • "—  und der Orient beginnt ja, nach Metternich, bei der Wiener St. Marxerlinie —" (anno)


1881
  • "Metternich hat schon gesagt, daß auf der Landstraße Asien beginnt, und heute noch ist dieser Ausspruch theilweise wahr ..." (anno)

1887
  • "Schon in vormärzlicher Zeit war der große ungarische Gänsemarkt die magyarische Straßenherberge auf der Landstraße, daher das seinerzeitige wohlfeile Bonmot Metternich's: 'Asien fängt auf der Landstraße an.' "
    B. Reiner: "Der Martinstag in Ungarn", Neue Freie Presse, 11. November 1887, S. 1 (anno)

1888
  • "Metternich sagte, der Orient beginne bei der St.Marxer Linie, später hieß es, der Orient fange in Pest oder Belgrad an, jetzt ist die Grenze wieder hinausgerückt: der Orient beginnt thatsächlich in Nisch." (Link)
1899


  • "Der alte Metternich sagte einst — und das Wort war damals nur zu wahr — daß eine Stunde hinter der St. Marxer Linie Asien anfange" (Link)


1913:
  • "Nach einem bekannten Spruche beginnt der Balkan schon in Wien .."
    Plein air, Wiener Sonn- und Montags-Zeitung, 27. Januar 1913, S. 2 (Link)
1914
  • "Der Balkan beginnt bereits in Ostgalizien."  (Link)
1918

  • "Die Ungarn scheinen jetzt nur noch das Bestreben zu haben, jenen berühmten Ausspruch des Fürsten Metternich zu rechtfertigen, der bekanntlich mit Hinweis auf sein am Rennweg gelegenes Palais zu sagen pflegte: 'Hinter meinem Palais beginnt der Balkan'". 
    Anonym: "Das ist Ungarn!" Leitartikel, Neues 8 Uhr Blatt, 19. Dezember 1918, S. 1 (Link)
1925
  • "In Passau beginnt der Balkan." (Link)
1929
  • "Schon Metternich pflegte zu sagen, dass der Balkan in der Taborstraße beginnt."  (Link)
1944
  • " 'Hinter meinem Hause beginnt der Balkan', pflegte Metternich zu sagen .." (anno) 
1955
  • "In Vorarlberg – dem völlig zu Recht sogenannten Musterländle – gibt es einen Spruch: 'Hinterm Arlberg, da fängt der Balkan an.'  (Link)

1979
  • "Der vielzitierte Ausspruch des Fürsten Metternich, wonach östlich des Wiener Rennweges der Balkan beginnt, muß revidiert werden. Der Balkan beginnt ab nun bereits in Bregenz und Salzburg!"    (Link)
  • " 'Der Balkan beginnt hinter Ulm' sagt ein böses Sprichwort in Württemberg." (Google) 
1982
  • "Ich muß das überstrapazierte Wort Metternichs auch zitieren (Bei meinem Wiener Palais auf der Landstraße beginnt der Balkan), aber nur um hinzuzufügen: und er erstreckt sich von hier in alle Richtungen."  (Link)
1993
  • "Aus Wien stammt ein böser Satz: Der Balkan beginnt gleich hinter dem Rennweg (eine Straße, die den dritten Wiener Gemeindebezirk durchquert). Mitunter schreibt man diese Worte Fürst Metternich zu, dem 'Kutscher Europas' ." (Google)
 2011

  • "Wer wissen will, warum die Beobachtung des Staatsmannes Metternich, wonach der Balkan in Wien beginnt, 200 Jahre nach dessen Wirken noch immer stimmt, sollte dieses Buch lesen." (Link) 
  •  
2016
  • " 'Der Balkan beginnt am Rennweg': Kaum ein Wiener kennt diese Redewendung nicht, die dem einstigen Staatskanzler Metternich zugeschrieben wird."
    Nedad Memić: "Beč, das Herz des Balkans", Der Standard, 19. Oktober 2016 (Link)

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Slavoj Žižek, 1999:

  

  • "Der Balkan ist also immer der Andere, er liegt irgendwo anders, immer ein wenig weiter im Südosten, und in diesen Zusammenhang gehört auch das Paradox, dass wir am unteren Ende der Balkanhalbinsel dem Balkan wieder auf wundersame Weise entkommen sind (da Griechenland eigentlich nicht mehr richtig dazugehört, sondern die Wiege unserer westlichen Zivilisation darstellt)."
    Slavoj Žižek: "Liebe deinen Nächsten? Nein, Danke! Die Sackgasse des Sozialen in der Postmoderne. Aus dem Englischen von Nikolaus Schneider. Berlin: Verlag Volk u. Welt, 1999,  voererst zititert nach kosova-aktuell.de.
  • "This very alibi confronts us with the first of many paradoxes concerning Balkan: its geographic delimitation was never precise. It is as if one can never receive a definitive answer to the question, "Where does it begin?" For Serbs, it begins down there in Kosovo or Bosnia, and they defend the Christian civilization against this Europe's Other. For Croats, it begins with the Orthodox, despotic, Byzantine Serbia, against which Croatia defends the values of democratic Western civilization. For Slovenes, it begins with Croatia, and we Slovenes are the last outpost of the peaceful Mitteleuropa. For Italians and Austrians, it begins with Slovenia, where the reign of the Slavic hordes starts. For Germans, Austria itself, on account of its historic connections, is already tainted by the Balkanic corruption and inefficiency. For some arrogant Frenchmen, Germany is associated with the Balkanian Eastern savagery — up to the extreme case of some conservative anti-European-Union Englishmen for whom, in an implicit way, it is ultimately the whole of continental Europe itself that functions as a kind of Balkan Turkish global empire with Brussels as the new Constantinople, the capricious despotic center threatening English freedom and sovereignty. So Balkan is always the Other: it lies somewhere else, always a little bit more to the southeast, with the paradox that, when we reach the very bottom of the Balkan peninsula, we again magically escape Balkan. Greece is no longer Balkan proper, but the cradle of our Western civilization." 
  • "And insofar as the name "Balkan" figures in the Western political fantasy space as the main embodiment of this inherent transgression, I am tempted to rephrase Lacan's well-known dictum that the Unconscious is structured like a language. In our century, at least, the European political Unconscious is definitely structured like Balkan." 
    Slavoj Žižek: "The Spectre of Balkan",  The Journal of the International Institute, Volume 6, Issue 2, Winter 1999    (Link)

     

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Quellen: 
Ferdinand Kürnberger: "Asiatisch und Selbstlos", 16. November 1871, in: Werke, Band I, Siegelringe. Eine Sammlung politischer und kirchlicher Feuilletons. Herausgegeben von O. E. Deutsch,  Georg Müller, München / Leipzig: 1910, S. 196 (Link)
Konstitutionelle Volkszeitung, Nr. 27, 3. Jg, 30. Juli 1867, S. 3 (Link) 
B. Reiner: "Der Martinstag in Ungarn", Neue Freie Presse, 11. November 1887, S. 1 (anno) 
Plein air, Wiener Sonn- und Montags-Zeitung, 27. Januar 1913, S. 2 (Link)
Anonym: "Das ist Ungarn!" Leitartikel, Neues 8 Uhr Blatt, 19. Dezember 1918, S. 1 (Link) 
Slavoj Žižek: "Liebe deinen Nächsten? Nein, Danke! Die Sackgasse des Sozialen in der Postmoderne. Aus dem Englischen von Nikolaus Schneider. Berlin: Verlag Volk u. Welt, 1999,  voererst zititert nach kosova-aktuell.de. 
 Slavoj Žižek: "The Spectre of Balkan",  The Journal of the International Institute, Volume 6, Issue 2, Winter 1999    (Link)
Nedad Memić: "Beč, das Herz des Balkans", Der Standard, 19. Oktober 2016 (Link)



Artikel in Arbeit.