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Dienstag, 13. Dezember 2022

"Alles Reden ist sinnlos, wenn das Vertrauen fehlt." Pseudo-Franz-Kafka-Zitat


Pseudo-Franz-Kafka-Zitat.
Dieses angebliche Franz-Kafka-Zitat taucht bei einer chronologischen Suche in den digitalisierten Büchern und Zeitungen erst über 70 Jahre nach dem Tod des 1924 verstorbenen Prager Schriftstellers auf, und ist in seinen Briefen und Schriften nicht zu finden.

Das erste Mal Franz Kafka untergeschoben wurde das Zitat anscheinend im Mai 2001 bei der Jahreshauptversammlung des CDU-Ortsverbandes Schönwald im Hotel "Silke" im Schwarzwald: Das Zitat diente als Motto dieser CDU-Jahreshauptversammlung.

Südkurier, 8. Mai 2001, "Vorzitzender [!] zitiert Kafka":

  • "Bevor jedoch die Neuwahlen durchgeführt wurden, berichtete Adalbert Oehler aus der Sicht des ersten Vorsitzenden über das vergangene Jahr. Wie immer stellte er ein Zitat in den Raum, welches auf die CDU und ihre Arbeit zutreffen [!] ist. In diesem Jahr war es der Ausspruch von Franz Kafka 'Alles Reden ist sinnlos, wenn das Vertrauen fehlt'!" Südkurier/TRIBERG , 8. Mai 2001 (genios.de)
Schon ein Monat später wurde dieser angebliche Aphorismus Franz Kafkas auf einem Zahnärztekongress zitiert, und ein Jahrzehnt später verbreitete er sich auch in überregionalen Zeitungen und in Büchern, sogar in Lehrbüchern.

Zur Popularisierung des Kuckuckszitats hat sicher beigetragen, dass es in viele Online-Zitatesammlungen aufgenommen wurde.



Einige Beispiele für die Verbreitung des Kuckuckszitats:


2001
  • "Am 8. und 9. Juni fand in Bad Homburg das diesjährige Treffen der Öffentlichkeitsreferenten der zahnärztlichen Körperschaften statt. [...] Statement des KZBV-Vorsitzenden Dr. Schirbort [...]

    Bei der Öffentlichkeitsarbeit sei darauf zu achten, daß der Satz Franz Kafkas Alles Reden ist sinnlos, wenn das Vertrauen fehlt immer wieder im Vordergrund steht. "
    Thüringer Zahnärzteblatt,  07/08 2001 (docplayer)
2005
  • "Das Franz-Kafka-Zitat trifft denn Nagel auf den Kopf."
     Aachener Nachrichten, 29. Juni 2005 (genios.de)
2008
  • "'Vertrauen ist der Anfang von allem.' Das ist ein genialer Werbeslogan der Deutschen Bank, leider ist er dieser Tage in den Medien nicht mehr zu finden. 'Alles Reden ist sinnlos, wenn das Vertrauen fehlt", meinte einst auch Schriftsteller Franz Kafka."
     Sparkassenzeitung, 21. November 2008 (genios.de)
2012
  • "'Alles Reden ist sinnlos, wenn das Vertrauen fehlt', stellte bereits der berühmte Schriftsteller Franz Kafka fest ..." (Link)
2019
  • "»Alles Reden ist sinnlos, wenn das Vertrauen fehlt«, hat der Schriftsteller Franz Kafka einmal geschrieben. "

    Oliver Georgi: "
    Und täglich grüßt das Phrasenschwein." 18. März 2019 (faz.net)16. Mai 2019 (freitag.de)



Dieses Pseudo-Kafka-Zitat wird manchmal auch ohne falsche Zuschreibung als Sprichwort bezeichnet.

In Zukunft könnten noch Belege für das Falschzitat vor dem Mai 2001 entdeckt werden, aber dass es so oder so ähnlich jemals in einem Text Franz Kafkas gefunden wird, ist unwahrscheinlich, wie mir auch Roland Reuß, eine Autorität in der Kafka-Forschung und Herausgeber seiner Werke, bestätigt hat.


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Quellen:

Beispiele für falsche Zuschreibungen:

2001: WWA: "Adalbert Oehler bleibt an der CDU-Spitze / Von der Arbeit der CDU Schönwald Vorzitzender [!] zitiert Kafka: 'Alles Reden ist sinnlos, wenn das Vertrauen fehlt'." Südkurier/TRIBERG, 8. Mai 2001 (genios.de)
2001: Thüringer Zahnärzteblatt, Doppel-Ausgabe 07/08 2001 (docplayer)
2005: Aachener Nachrichten, 29. Juni 2005 (genios.de)
2008: Martin K. W. Schweer: "Vertrauen im Klassenzimmer." Motto, in: Martin K.W. Schweer (Hrsg.): "Lehrer-Schüler-Interaktion. Inhaltsfelder, Forschungsperspektiven und methodische Zugänge."  VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden: 2000; 2. vollständig überarbeitete Auflage: 2008 (ebook) (Link)
2008: Sparkassenzeitung, 21. November 2008 (genios.de)
2016: Maryann Overstreet: "The Routledge Modern German Reader." Routledge, London, New York: 2016, S. 68 (Link)
2019: Oliver Georgi: "Und täglich grüßt das Phrasenschwein." Duden, Berlin: 2019,  Vorabdruck: 18. März 2019 (faz.net)Leseprobe 16. Mai 2019 (freitag.de)



Artikel in Arbeit.
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Dank:
Ich danke Arno Tator die Aufdeckung dieses Kuckuckszitats und Roland Reuß  für die Bestätigung, dass dieses Zitat in keinem Text Franz Kafkas zu finden ist.

Mittwoch, 13. Oktober 2021

"Jede Revolution verdunstet und hinterläßt einen Bodensatz Bürokratie." Franz Kafka (angeblich)

Entstelltes Franz-Kafka-Zitat.

Dieses angebliche Kafka-Zitat ist wohl aus einer Rückübersetzung aus dem Englischen entstanden und verallgemeinert einen Satz aus Gustav Janouchs Erinnerungen an Franz Kafka.
 

Aus "Die Revolution" wurde "Jede Revolution", aus "Schlamm"  "Bodensatz" und aus einer "neuen Bürokratie"  "Bürokratie".


 Gustav Janouch: Gespräche mit Kafka, 1951:

  • " 'Sie glauben nicht an eine weitere Ausbreitung der russischen Revolution?'

    Kafka schwieg einen Augenblick, dann sagte er: 'Je weiter sich eine Überschwemmung ausbreitet, um so seichter und trüber wird das Wasser. Die Revolution verdampft, und es bleibt nur der Schlamm einer neuen Bürokratie. Die Fesseln der gequälten Menschheit sind aus Kanzleipapier.'"

    Gustav Janouch: "Gespräche mit Kafka", S. 71 (Link)

  

Gustav Janouch lernte noch als Gymnasiast Franz Kafka kennen, der sehr freundlich mit diesem Sohn eines Kollegen seiner Versicherungsanstalt umging.

Die Franz-Kafka-Zitate Janouchs werden allerdings von der Kafka-Forschung nicht zum Werk Franz Kafkas gezählt und sind auch deswegen problematisch, da sie erst 2 Jahrzehnte nach Kafkas Tod niedergeschrieben wurden.

 Je älter Janouch wurde, desto mehr Kafka-Zitate fielen ihm wieder ein. In der Franz-Kafka-Forschung gelten Janouchs Zitate inzwischen als Legenden eines phantasievollen Verehrers, weil er erst 25 Jahre nach Kafkas Tod mit der Niederschrift seiner Kafka-Zitate begonnen hat und weil viele Janouch-Kafka-Zitate mehr an Kalendersprüche als an Franz Kafkas unsentimentale, phrasenlose Prosa erinnern.

Gustav Janouchs Buch über seinen verehrten Franz Kafka bleibt lesenswert, obwohl ihn seine Erinnerung nachweislich oft getäuscht hat (Link), und obwohl man seine Kafka-Zitate nicht völlig ernst nehmen kann.


Alena Wagnerová über Gustav Janouch:

  • "Nimmt man heute die erste Ausgabe der Gespräche aus dem Jahr 1951 zur Hand, ist man mitunter entsetzt über die Banalitäten, die Franz Kafka hier von sich gibt, und kann kaum fassen, dass Max Brod sie für echt hielt und in Sätzen wie «Die Kaffeehäuser sind die Katakomben der Juden in dieser Zeit» den Sprachduktus seines Freundes erkannte."
    Alena Wagnerová: "Als Janouch mir entgegenkam", NZZ, 11. November 2006 (Link)

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Quellen

Gustav Janouch: Gespräche mit Kafka. Anmerkungen und Erläuterungen Alma Urs. S. Fischer, Frankfurt am Main: 1951, S. 71 (Link)
Gustav Janouch: Gespräche mit Kafka. Aufzeichnungen und Erinnerungen. Erweiterte Ausgabe, S. Fischer, Frankfurt am Main: 1968, Fischer Taschenbücher  5093, 1981
"Franz Kafka." Herausgegeben von Erich Heller und Joachim Beug. Heimeran / S. Fischer, München: 1969, S. 48
Josef Čermák: "Franz Kafka - výmysly a mystifikace"  Nakladatel, Gutenberg: 2005  (Hinweis von Wagnerová)
Alena Wagnerová: "Als Janouch mir entgegenkam", NZZ, 11. November 2006 (Link) 

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Dank:

Ich danke @luggeauer für den Hinweis auf Janouch und Moritz Bensch für seine Frage zu diesem Zitat.