Mittwoch, 13. Oktober 2021

"Jede Revolution verdunstet und hinterläßt einen Bodensatz Bürokratie." Franz Kafka (angeblich)

Entstelltes Franz-Kafka-Zitat.

Dieses angebliche Kafka-Zitat ist wohl aus einer Rückübersetzung aus dem Englischen entstanden und verallgemeinert einen Satz aus Gustav Janouchs Erinnerungen an Franz Kafka.
 

Aus "Die Revolution" wurde "Jede Revolution", aus "Schlamm"  "Bodensatz" und aus einer "neuen Bürokratie"  "Bürokratie".


 Gustav Janouch: Gespräche mit Kafka, 1951:

  • " 'Sie glauben nicht an eine weitere Ausbreitung der russischen Revolution?'

    Kafka schwieg einen Augenblick, dann sagte er: 'Je weiter sich eine Überschwemmung ausbreitet, um so seichter und trüber wird das Wasser. Die Revolution verdampft, und es bleibt nur der Schlamm einer neuen Bürokratie. Die Fesseln der gequälten Menschheit sind aus Kanzleipapier.'"

    Gustav Janouch: "Gespräche mit Kafka", S. 71 (Link)

  

Gustav Janouch lernte noch als Gymnasiast Franz Kafka kennen, der sehr freundlich mit diesem Sohn eines Kollegen seiner Versicherungsanstalt umging.

Die Franz-Kafka-Zitate Janouchs werden allerdings von der Kafka-Forschung nicht zum Werk Franz Kafkas gezählt und sind auch deswegen problematisch, da sie erst 2 Jahrzehnte nach Kafkas Tod niedergeschrieben wurden.

 Je älter Janouch wurde, desto mehr Kafka-Zitate fielen ihm wieder ein. In der Franz-Kafka-Forschung gelten Janouchs Zitate inzwischen als Legenden eines phantasievollen Verehrers, weil er erst 25 Jahre nach Kafkas Tod mit der Niederschrift seiner Kafka-Zitate begonnen hat und weil viele Janouch-Kafka-Zitate mehr an Kalendersprüche als an Franz Kafkas unsentimentale, phrasenlose Prosa erinnern.

Gustav Janouchs Buch über seinen verehrten Franz Kafka bleibt lesenswert, obwohl ihn seine Erinnerung nachweislich oft getäuscht hat (Link), und obwohl man seine Kafka-Zitate nicht völlig ernst nehmen kann.


Alena Wagnerová über Gustav Janouch:

  • "Nimmt man heute die erste Ausgabe der Gespräche aus dem Jahr 1951 zur Hand, ist man mitunter entsetzt über die Banalitäten, die Franz Kafka hier von sich gibt, und kann kaum fassen, dass Max Brod sie für echt hielt und in Sätzen wie «Die Kaffeehäuser sind die Katakomben der Juden in dieser Zeit» den Sprachduktus seines Freundes erkannte."
    Alena Wagnerová: "Als Janouch mir entgegenkam", NZZ, 11. November 2006 (Link)

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Quellen

Gustav Janouch: Gespräche mit Kafka. Anmerkungen und Erläuterungen Alma Urs. S. Fischer, Frankfurt am Main: 1951, S. 71 (Link)
Gustav Janouch: Gespräche mit Kafka. Aufzeichnungen und Erinnerungen. Erweiterte Ausgabe, S. Fischer, Frankfurt am Main: 1968, Fischer Taschenbücher  5093, 1981
"Franz Kafka." Herausgegeben von Erich Heller und Joachim Beug. Heimeran / S. Fischer, München: 1969, S. 48
Josef Čermák: "Franz Kafka - výmysly a mystifikace"  Nakladatel, Gutenberg: 2005  (Hinweis von Wagnerová)
Alena Wagnerová: "Als Janouch mir entgegenkam", NZZ, 11. November 2006 (Link) 

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Dank:

Ich danke @luggeauer für den Hinweis auf Janouch und Moritz Bensch für seine Frage zu diesem Zitat.