Dienstag, 12. Juli 2022

"Was wir heute tun, entscheidet darüber, wie die Welt morgen aussieht." Marie von Ebner-Eschenbach (angeblich)

Pseudo-Marie-von-Ebner-Eschenbach-Zitat.
Dieser Aphorismus stammt aus einem Interview des russischen Dichters Boris Pasternak und wird der österreichischen Autorin Marie von Ebner-Eschenbach seit ungefähr 40 Jahren irrtümlich zugeschrieben.

Kurze Geschichte des Kuckuckszitats:


Der 1960 verstorbene Nobelpreisträger Boris Pasternak wurde in der Zeit des Kalten Krieges im Westen verehrt und in der Sowjetunion verteufelt.

Um sich und seine Familie zu schützen, lehnte er 1958 den Nobelpreis ab. "Doktor Schiwago", sein einziger Roman, der ihn weltberühmt machte, durfte in Russland erst 28 Jahre nach seinem Tod erscheinen. 

Als nach seinem Tod in Amerika das große Interview mit dem später Ebner-Eschenbach zugeschriebenen Aphorismus erschienen ist, wurden Zitate aus diesem Interview sogar im amerikanischen Senat vorgelesen.

"Boris Pasternak's Last Message To The World", This Week, August 7 1960, p. 4.

Alexander Wileyder republikanische Senator von Wisconsin, war von dem Interview  so begeistert,  dass er das Ende der Sowjetunion prognostizierte, weil es zu seiner Überraschung offenbar auch in Russland trotz Gulag, Zensur und kommunistischer Propaganda noch friedliebende Menschen gab.

Senator Alexander Wiley las im amerikanischen Senat Boris Pasternaks Antwort auf die Frage des Interviewers: "Can a man control his future?" vor:

Boris Pasternak, September 1959:

  • "Yes. Despite the system he lives under, I believe that men everywhere have more power over the future than ever before. The important thing is that we must choose to exercise it.

    It is conventional to say that the future belongs to our unborn children but the fact is it belongs to us. What we do today determines how the world shall go. Tomorrow is made up of the sum total of today's experiences. No one knows what the formula is, nor how slight a change may reshape the pattern to our heart's desire.

    Far from feeling hopeless or helpless, we must seize every opportunity, however small, to help the world around us toward peace, productivity and human brotherhood.
    "

    Jhan Robbins: "Boris Pasternak's Last Message To The World", This Week, August 7 1960

Ob das ganze Interview damals auch auf Deutsch publiziert wurde, weiss ich noch nicht, der Satz "What we do today ..." erschien zum Beispiel im Jahr 1964 in einer Münchner Universitätschronik in folgender Übersetzung:

1964
  • "Uns trägt und tröstet die Devise: 'Was wir heute tun, entscheidet, wie die Welt von morgen aussehen wird' (Pasternak)." 
    Chronik der Ludwig-Maximilian-Universität München, 1964 (Link)

Ungefähr 20 Jahre später wird dieser Satz Boris Pasternaks erstmals Marie von Ebner-Eschenbach untergeschoben. 

Wie es zu dieser Zuschreibung gekommen ist, ist unbekannt. In ihren digitalisierten Schriften sowie in relevanter Sekundärliteratur ist dieses Zitat unauffindbar. 

Am Ende einer deutschen Veranstaltung für Gärtner und Gärtnerinnen wird bei der bislang frühesten falschen Zuschreibungen an Marie von Ebner-Eschenbach folgendes gesagt:

1986
  • "Alle sind der Überzeugung etwas für die nächsten Generationen nach dem Jahr 2000 eingebracht zu haben, nach den Worten Marie v. Ebner-Eschenbachs: ' Was wir heute tun, entscheidet darüber, wie die Welt morgen aussieht.'"
    Obst und Garten, 105. Jahrgang, 1986   (books.google.at/)
Bis ungefähr 2003 wird das Zitat meistens noch Boris Pasternak zugeschrieben, ab 2003 immer öfter Marie von Ebner-Eschenbach.


Zwei Beispiele für das Kuckuckszitat:

2003, März

  • Dr. Gertrude Brinek (ÖVP), Parlament:
    "Meine Damen und Herren! Ein Vorredner hat gesagt, die Zukunft, die ermöglicht werden solle, sei politisch nicht wirklich zu bewerkstelligen. Ich halte dem einen Ausspruch von Marie von Ebner-Eschenbach entgegen: 'Was wir heute tun, entscheidet darüber, wie die Welt von morgen aussieht.'"
    Dr. Gertrude Brinek, Stenographisches Protokoll,  6. März 2003 (Link)

2003, April

  • "An den Beginn seiner Regierungserklärung setzte Landeshauptmann Dr. Erwin Pröll (VP) ein Zitat von Marie von Ebner-Eschenbach: 'Was wir heute tun, entscheidet, wie die Welt von morgen aussieht'."   
    24. April 2003 (ots.at OTS_2003042)



Inzwischen wird der beliebte Aphorismus viel öfter fälschlich Marie von Ebner-Eschenbach als korrekt Boris Pasternak zugeschrieben, wozu gewiss auch viele unseriöse Zitatesammlungen beigetragen haben.


Artikel in Arbeit; Nachtrag vom 21. Mai 2023 von Twitter:



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Quellen:
Google

Jhan Robbins: "Boris Pasternak's Last Message To The World", This Week, August 7 1960, p. 4, zitiert nach Alexander Wiley (Link)
Hon. Alexander Wiley of Wisconsin:  "Boris Paternak's Last Message to the World", in the Senate of the United States, 8. August 1960, Congressional Record: Senate, US Government printing office, Washington: 1960, S. 16002f.  (Link)

Chronik der Ludwig-Maximilian-Universität München, München: 1964, S. 177 (Link)


Gesammelte Schriften von Marie von Ebner-Eschenbach, Erster Band: Aphorismen. Parabeln, Märchen und Gedichte. Verlag von Gebrüder Paetel, Berlin: 1893 (books.google) [Ohne angebliches Zitat.]
Daniela Strigl: "Berühmt sein ist nichts. Marie von Ebner-Eschenbach - Eine Biographie." Residenz Verlag, Salzburg Wien: 2018 ebook (Link)  [Ohne angebliches Zitat.]

Beispiele für falsche Zuschreibungen:

Obst und Garten, 105. Jahrgang, Heft 9(?), Verlag Eugen Ulmer: Stuttgart: 1986, S. 528   (books.google.at/)
CFI (Ceramic forum international) Berichte der DKG. Bauverlag: 1994, S. 260 (Link)
Jonathan Gutmann  (Link)
Gertrude Brinek: Stenographisches Protokoll der 7. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, XXII. Gesetzgebungsperiode, Donnerstag, 6. März 2003 (Link)
Erwin Pröll: OTS0159, 24. April 2003 (ots.at OTS_2003042)
Christoph Schulz:  67 Umweltschutz Zitate – Sprüche über Nachhaltigkeit, Natur und Umwelt, 16. Februar 2020 (careelite.de) [Ungefähr ein Drittel dieser 67 Zitate sind Falschzitate.]
aphorismen.de -150332 [Die Quellenangabe hier: "Ebner-Eschenbach, Aphorismen, Parabeln, Märchen und Gedichte (= Gesammelte Schriften, 1. Band), Berlin 1893", ist falsch.]





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Dank:
Ich danke Sylvia Steinitz für die Frage nach diesem Falschzitat, sowie Ralf Bülow, Zitante Christa und M. Wollmann für ihre Recherchen.




Artikel in Arbeit.