Geboren wurde diese schöne Metapher am 21. Januar 1910 im französischen Parlament. Der Sozialist Jean Jaurès antwortet konservativen Abgeordneten mit dieser beeindruckenden Rede:
- "Herr
Barrès fordert uns öfter auf, in die Vergangenheit zurückzugehen; für die, die
nicht mehr sind und die, die zur Unbeweglichkeit erstarrt, gleichsam heilig
geworden sind, hegt er eine Art pietätvolle Verehrung. Nun, meine Herren, auch
wir verehren die Vergangenheit. Aber man ehrt und achtet sie nicht wirklich,
indem man sich zu den verloschenen Jahrhunderten zurückwendet und eine lange
Kette von Phantomen betrachtet: die richtige Art, die Vergangenheit zu
betrachten, ist, das Werk der lebendigen Kräfte, die in der Vergangenheit gewirkt
haben, in die Zukunft weiterzuführen.
Alle, die in den entschwundenen Jahrhunderten gekämpft haben, welcher Partei, welcher Richtung sie auch angehört haben mögen, waren durch die unbesiegbare Macht des Lebens Kräfte der Bewegung, des Antriebes, der Verwandlung; sie waren es schon allein dadurch, dass sie Menschen waren, die dachten, wünschten, litten - und einen Ausweg suchten: alle waren es, selbst die, die in den damaligen Kämpfen als konservativ erscheinen mochten.
Und wir nehmen dieses Beben, diese Schauern, diese Bewegung in uns auf, wir tragen die Vergangenheit treu in uns, so wie der Fluß die Quelle treu in sich trägt, indem er zum Meere strömt.
Jawohl, meine Herren, auch wir verehren die Vergangenheit. Nicht vergeblich hat die Flamme im Herd so vieler menschlicher Generationen gebrannt und gefunkelt; aber wir, die wir nicht stillstehen, die wir für ein neues Ideal kämpfen, wir sind die wahren Erben der Herde unserer Vorfahren: wir haben daraus ihre Flamme geholt, ihr habt nur die Asche bewahrt."
Jean Jaurès, 21. Januar 1910, Paris, Parlament; nach einer Übersetzung von
Grete Helfgott.
Ein Beispiel für die vielen falschen Zuschreibungen ist auf der rechtsextremen Seite "Metapedia" zu bestaunen. Man gibt sich auf dieser Seite besonders traditionsbewusst, aber unter ihrem Stichwort "Tradition" stehen fast ausschließlich erfundene Zitate: das ist unfreiwillig komisch.
Pseudo-Mahler, Pseudo-Franklin, Pseudo-Huch, and Pseudo-Johannes XXIII. quotes. |
Erstmals Gustav Mahler zugeschrieben wurde dieses Zitat anscheinend im Jahr 1992, ungefähr 80 Jahre nach seinem Tod, als der Burgtheater-Direktor Klaus Bachler in einem Interview (Link) meinte, Gustav Mahler habe gesagt: "Tradition ist Weitergabe des Feuers ohne Anbetung der Asche."
Variationen
- Gustav Mahler: "Tradition ist Weitergabe des Feuers ohne Anbetung der Asche."
- Gustav Mahler: "Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche."
- Gustav Mahler: "Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers." (Abiturrahmenthema 2011)
- Gustav Mahler: "Tradition ist Bewahrung des Feuers, nicht Anbetung der Asche."
- Gustav Mahler: "Tradition heißt nicht, Asche verwahren, sondern eine Flamme am Brennen halten."
- Gustav Mahler: "Tradition is the spreading of fire and not the veneration of ashes."
- Gustav Mahler : "Tradition is not the worship of ashes, but the preservation of fire."
- Gustav Mahler: "Non ricordare le ceneri, ma tenere acceso il fuoco."
In folgenden Variationen wird dieses Zitat Jean Jaurès zugeschrieben:
- 1) "nous en avons pris la flamme, vous
n'en avez gardé que la cendre."
2) "wir haben daraus die Flamme geholt, ihr habt nur die Asche behalten."
3) "wir haben dem Herd die Flamme entnommen, ihr habt nur seine Asche aufbewahrt."
4) "Tradition heißt nicht, die Asche zu verwahren, sondern die Glut wieder zum Lodern zu bringen."
5) "Tradition is not guarding the ashes, but stirring up the flames."
6) "Take from the altar of the past the fire, not the ashes.”
7) "Wir wollen aus der Vergangenheit das Feuer übernehmen, nicht die Asche."
8) "Tradition ist nicht das Bewahren der Asche, sondern das Schüren der Flamme."
(DUDEN)
9) "Tradition heißt nicht, die Asche bewahren; Tradition heißt, die Flamme weitergeben."
10) "Tradition heißt nicht, Asche verwahren, sondern eine Flamme am Brennen erhalten."
(Maucher und Malik, deutsch)
11) "Being conservative doesn't mean keeping the ashes but preserving the flame."
(Maucher und Malik, englisch) (Link)
Anmerkung
(Artikel in Arbeit.)
Der
sozialdemokratische Politiker Jean Jaurès (*1859 +1914) hat
als junger Mann mit der Dissertation: "Über die Realität der
Sinnenwelt", die er 1902 neu auflegen ließ, promoviert und
philosophische Fragen fesseln ihn sein Leben lang; er nimmt Religionen
so ernst wie Atheisten und Agnostiker: Er hat Ehrfurcht vor dem
Lebendigen und den Naturkräften,
liebt viele ihrer Erscheinungen und der Wunsch nach Gerechtigkeit gehört
zum
Fundament seiner Politik; wer will, kann ihn mit guten Gründen in die
philosophiegeschichtliche Schublade zu den Pantheisten einsortieren.
Jean Jaurès'
philosophische Absicht: Synthesen von entgegengesetzten philosophischen
Positionen zu bilden, setzt er in seiner politischen Arbeit fort. Wie
Victor
Adler in Österreich gelingt es ihm in Frankreich, unterschiedliche linke
Strömungen
zu vereinen und eine sozialdemokratische Partei zu bilden. Auch als
Historiker
versucht er marxistischen Determinismus mit idealistischen Positionen zu
versöhnen.
Am 30. Juli 1914 wird der Kriegsgegner Jean Jaurès,
der im Ruf steht, ein Freund Deutschlands zu sein, von einem 29-jährigen
Rechtsextremen in dem Pariser Café du Croissant ermordet. Der Mörder wird nach
fünf Jahren Untersuchungshaft wegen Unzurechnungsfähigkeit mit fadenscheinigen
Argumenten freigesprochen.
________Quellen:
"Jean Jaurès. Aus seinen Reden und Schriften." Große Gestalten des Sozialismus. II. Band. Eingeleitet und ausgewählt von Louis Lévy. Übersetzt von Grete Helfgott. Verlag der Wiener Volksbuchhandlung, Wien: (1949)
Jean Jaurès: "Discours et conférences." Flammarion, Paris: 2014:
"Oui, nous avons, nous aussi, le culte du passé. Ce n'est pas en vain que tous les foyers des générations humaines ont flambé, ont rayonné ; mais c'est nous, parce que nous marchons, parce que nous luttons pour un idéal nouveau, c'est nous qui sommes les vrais héritiers du foyer des aïeux ; nous en avons pris la flamme, vous n'en avez gardé que la cendre." Jean Jaurès, 21. Januar 1910, Paris, Chambre des députés (Link)
J. Hampden Jackson: "Jean Jaurès. Sein Leben und Werk." Übersetzt von Bruno Schönlank. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg: 1949"Jean Jaurès. Seiner Ermordung vor dem Schwurgericht in Paris." Mit einer Einleitung von Dr. Arthur Dieseldorff und einem Geleitwort von Hellm. von Gerlach. Verlag "Friede durch Recht", Ludwigsburg: 1922
Heinz Abosch: "Jean Jaurès. Die vergebliche Hoffnung." Piper, München / Zürich: 1986
Helmut Maucher, Fredmund Malik und Farsam Farschtschian. "Maucher and Malik on Management: Maxims of Corporate Management - Best of Helmut Maucher´s Speeches, Essays and Interviews." Übersetzt von Myrna Lesniak. Campus Verlag, Frankfurt / New York: 2013 (Link)
Urs Brand: "Jean Jaurès. Internationalist und Patriot." Musterschmidt, Göttingen / Zürich / Frankfurt: 1973
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Ich danke Lisi Moosmann, Renate Stark-Voit und Lucile Dreidemy für ihre Anworten und Hinweise.
Ich danke Lisi Moosmann, Renate Stark-Voit und Lucile Dreidemy für ihre Anworten und Hinweise.