Pseudo-Alexander-von-Humboldt-Zitat. |
Den Wortwitz von der gefährlichen Weltanschauung von Leuten, die die Welt nie angeschaut haben, hat Arno Tator in einem 1895 veröffentlichten Sinngedicht des deutschen Schriftstellers Moritz Goldschmidt gefunden:
Moritz Goldschmidt: Sinngedicht
"Seltsamste Weltanschauungen heuteSchießen wunderbar üppig ins Kraut.Gefährlich allein ist stets die erneuteFurchtbare Weltanschauung der Leute,Die die Welt nie angeschaut. —"
Moritz Goldschmidt: "Sinngedichte." Münchener Kunst- u. Theater-Anzeiger, 17. Oktober 1895 (Link)
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Bernd-Christoph Kämper hat die bislang früheste Erwähnung des Kuckuckzitats in der der deutschsprachigen amerikanischen Zeitung "Der Deutsche Correspondent" entdeckt.
Es war in der Rubrik "Texte für Sonntagsbetrachtungen" am 10. April 1898 in dieser in Baltimore erschienenen einflußreichen deutschen Tageszeitung (Auflage: 15.000) abgedruckt.
So wie die zehn anderen kurzen Texte dieser Rubrik wurde das Zitat ohne Autorenname präsentiert, und der unbekannte Verfasser der Rubrik mit der Sigle O.R. scheint keinen Anspruch auf die Autorschaft erhoben zu haben.
"Der Deutsche Correspondent" Baltimore, Md., 10. April 1898, S. 9 (Link) |
Ralf Bülow hat auch eine frühe Formulierung dieses Kuckuckszitats in einem Text des 1927 verstorbenen Grazer Schriftstellers Bruno Ertlers entdeckt:
Mit mehr als 4000 Google-Treffern (Link) ist dieses Kuckuckszitat seit etwa 10 Jahren auch auf Englisch sehr beliebt.
Wer das Zitat in dem populären Wortlaut geprägt und erstmals Alexander von Humboldt unterschoben hat, weiß man nicht.
2004 behauptete Hans Magnus Enzensberger in einem SPIEGEL-Gespräch, Alexander von Humboldt habe mit dem Zitat auf den philosophischen Stubengelehrten Georg Wilhelm Friedrich Hegel angespielt:
Da Experten lange vergeblich nach diesem Zitat in einem Text Alexander von Humboldts gesucht haben und es ihm erst über 100 Jahre nach seinem Tod erstmals zugeschrieben wurde, ist anzunehmen, dass es niemals in einem Werk oder Brief Alexander von Humboldts gefunden werden wird.
Das angebliche Humboldt-Zitat steht meines Wissens auch in keinem einzigen seriösen Zitate-Lexikon.
- ".. im Wirtshaus dann schmieden sie, vom Wein erhitzt, was ihnen Schulmeister, Priester und Zeitungsschreiber sagten, eine nüchterne, fest umrissene 'politische Überzeugung', deren gleichmäßige Wertlosigkeit sie verschiedenfarbig anstreichen, was sie dann den 'Kampf der Weltanschauung' nennen, sie, die die Welt nie angeschaut haben."
Bruno Ertler: "Das Klingende Fenster", Stiasny Verlag, Graz: 1957, S. 85 (Link)
Bruno Ertler, S. 85 (Link). |
Mit mehr als 4000 Google-Treffern (Link) ist dieses Kuckuckszitat seit etwa 10 Jahren auch auf Englisch sehr beliebt.
Pseudo-Alexander-von-Humboldt quote. |
2004 behauptete Hans Magnus Enzensberger in einem SPIEGEL-Gespräch, Alexander von Humboldt habe mit dem Zitat auf den philosophischen Stubengelehrten Georg Wilhelm Friedrich Hegel angespielt:
- Humboldt "ist das Gegenteil eines Stubengelehrten; er will alles selber sehen
und wahrnehmen, nicht nur aus Büchern kennen lernen. Einmal sagt er: Die
gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung derjenigen, die die
Welt nicht angeschaut haben. Das sagt er über Hegel!"
Hans Magnus Enzensberger, SPIEGEL-Gespräch, DER SPIEGEL 38/2004, 13. September 2004 (Link)
Da Experten lange vergeblich nach diesem Zitat in einem Text Alexander von Humboldts gesucht haben und es ihm erst über 100 Jahre nach seinem Tod erstmals zugeschrieben wurde, ist anzunehmen, dass es niemals in einem Werk oder Brief Alexander von Humboldts gefunden werden wird.
Das angebliche Humboldt-Zitat steht meines Wissens auch in keinem einzigen seriösen Zitate-Lexikon.
Aber inzwischen wird das Falschzitat sogar von der deutschen Bundesregierung verbreitet:
2018
Angeregt wurde das Kuckuckszitat vielleicht durch Alexander von Humboldts Satz : "Das Auge ist das Organ der Weltanschauung", aus dem 1. Band seines Hauptwerkes "Kosmos – Entwurf einer physischen Weltbeschreibung" (Link). Allerdings verwendet Humboldt hier das Wort Weltanschauung in der Bedeutung 'Naturbetrachtung' oder 'Weltbeschreibung' und nicht in der Bedeutung 'Lebensphilosophie' oder 'Ideologie'.
Quellen:
E-Mail von Dr. Ingo Schwarz vom 17. September 2017
Christian Seidl auf Twitter
(Link)
2018
2019"Die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung der Leute, die sich die Welt nicht angeschaut haben", sagte einst Alexander von Humboldt. #AvH250
Bundesministerin @AnjaKarliczek zum 250. Geburtstag des großen Naturforschers 👇 pic.twitter.com/x5zll0TPrY
— BMBF (@BMBF_Bund) August 14, 2019
Twitter, 14. September 2019:
Twitter-Geburtstagswünsche mit einem Kuckuckszitat. |
Varianten des Kuckuckzitats:
- "The most dangerous worldviews are the worldviews of those who have never viewed the world."
- "The most dangerous worldview is the worldview of those have not viewed the world."
- "Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die Weltanschauung der Leute, welche die Welt nie angeschaut haben."
- "Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die Weltanschauung derjenigen Leute, welche die Welt nie angeschaut haben."
- "Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die Weltanschauung der Leute, welche die nie Welt angeschaut haben."
- "Die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung derer, die die Welt nie angeschaut haben."
- "Am Schlimmsten ist die Weltanschauung derer, die die Welt nie angeschaut haben."
- "Die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung der Leute, welche die Welt nie angeschaut haben."
Angeregt wurde das Kuckuckszitat vielleicht durch Alexander von Humboldts Satz : "Das Auge ist das Organ der Weltanschauung", aus dem 1. Band seines Hauptwerkes "Kosmos – Entwurf einer physischen Weltbeschreibung" (Link). Allerdings verwendet Humboldt hier das Wort Weltanschauung in der Bedeutung 'Naturbetrachtung' oder 'Weltbeschreibung' und nicht in der Bedeutung 'Lebensphilosophie' oder 'Ideologie'.
Quellen:
E-Mail von Dr. Ingo Schwarz vom 17. September 2017
Christian Seidl auf Twitter
(Link)
Moritz Goldschmidt: "Sinngedichte." Münchener Kunst- u. Theater-Anzeiger, VIII. Jahrgang, Nr. 2792, 17. Oktober 1895, S. 1 (Link) [Fußnote:] "Aus: 'Neue Sinngedichte' von Moritz Goldschmidt, Verlag von Kesselring, (Frankfurt a. M.)"
Bruno Ertler: "Das Klingende Fenster", Stiasny Verlag, Graz: 1957, S. 85 (Link)
Ottmar Ette: "Alexander von Humboldt und die Globalisierung: Das Mobile des Wissens", Insel Verlag, Frankfurt am Main: 2009, S. 161 (Link) (Das Zitat "dürfte" "apokryph sein".)
Beispiele für falsche Zuschreibungen:
"Der Deutsche Pelztierzüchter" Bände 51-55, 1977, S. 106 (Link) (Früheste falsche Zuschreibung bei Google books.)
Johannes Saltzwedel, Stefan Aust und Matthias Matussek: "Der Mann geht aufs Ganze", Spiegelgespräch mit Hans Magnus Enzensberger über Alexander von Humboldt, DER SPIEGEL 38/2004, 13. September 2004 (Link)
aphorismen.de/zitat/67331
sueddeutsche.de/reise/bildstrecke-aufloesung-wer-sagt-denn-so-was-1.345288-9
spiegel.de/spiegel/print/d-32134707.html (Hans Magnus Enzensberger)
zitate.net/alexander-von-humboldt-zitate
Twitter
______
Dank:
Ich danke Christian Seidl und Tobias Blanken für den Hinweis auf dieses Falschzitat, Ingo Schwarz von der Berliner Alexander-von-Humboldt-Forschungsstelle für die Bestätigung, dass es kein authentisches Zitat ist, sowie Arno Tator und Ralf Bülow für ihre Recherchen zum Ursprung dieses Kuckuckszitats. Besonders danke ich wieder Bernd-Christoph Kämper für seine Enteckung der frühesten Erwähnungen 1898 und 1930.
Letzte Änderungen: 14/9 2019; 15/9 2022 (Fund von Arno Tator); 16/9 2022 (Korrekturen) 23/6 2023 (1898)
Bruno Ertler: "Das Klingende Fenster", Stiasny Verlag, Graz: 1957, S. 85 (Link)
Ottmar Ette: "Alexander von Humboldt und die Globalisierung: Das Mobile des Wissens", Insel Verlag, Frankfurt am Main: 2009, S. 161 (Link) (Das Zitat "dürfte" "apokryph sein".)
Beispiele für falsche Zuschreibungen:
"Der Deutsche Pelztierzüchter" Bände 51-55, 1977, S. 106 (Link) (Früheste falsche Zuschreibung bei Google books.)
Johannes Saltzwedel, Stefan Aust und Matthias Matussek: "Der Mann geht aufs Ganze", Spiegelgespräch mit Hans Magnus Enzensberger über Alexander von Humboldt, DER SPIEGEL 38/2004, 13. September 2004 (Link)
Joachim Müller-Jung: "Ein Riese auf allen Gipfeln", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. September 2019 (faz.net)
Jochen Temsch: "Urlaub machen, aber fair", Süddeutsche Zeitung, 26. Juli 2019 (Link)
Alexander von Humboldt: "Über die Freiheit des Menschen" Herausgegeben von Manfred Osten. Insel Verlag, Frankfurt am Main: 1999, S. 18 [Hegel]
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Google (Link), (Link)aphorismen.de/zitat/67331
sueddeutsche.de/reise/bildstrecke-aufloesung-wer-sagt-denn-so-was-1.345288-9
spiegel.de/spiegel/print/d-32134707.html (Hans Magnus Enzensberger)
zitate.net/alexander-von-humboldt-zitate
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Dank:
Ich danke Christian Seidl und Tobias Blanken für den Hinweis auf dieses Falschzitat, Ingo Schwarz von der Berliner Alexander-von-Humboldt-Forschungsstelle für die Bestätigung, dass es kein authentisches Zitat ist, sowie Arno Tator und Ralf Bülow für ihre Recherchen zum Ursprung dieses Kuckuckszitats. Besonders danke ich wieder Bernd-Christoph Kämper für seine Enteckung der frühesten Erwähnungen 1898 und 1930.
Letzte Änderungen: 14/9 2019; 15/9 2022 (Fund von Arno Tator); 16/9 2022 (Korrekturen) 23/6 2023 (1898)