Dienstag, 13. November 2007

Die Sangbarkeit der Verse sei der größte Fehler

Im Literaturblog der 'ZEIT' wendet sich David Hugendick gegen gut gemeinte Vertonungen von Gedichten Selma Meerbaum-Eisingers und beruft sich dabei am Ende des Artikels auf ein Argument von Karl Kraus:

Karl Kraus schrieb einmal von Heines Gedichten stellvertretend für jedwede Form der Lyrik: Die Sangbarkeit der Verse sei der größte Fehler. Vielleicht liegt es gar nicht an der Sangbarkeit, sondern an den Leuten, die die Verse singen. Die Gedichte Selma Meerbaum-Eisingers lohnen sich wirklich. Doch nicht in dieser Form.

Doch Karl Kraus argumentiert um eine entscheidende Nuance differenzierter. Er redet nicht 'vom größten Fehler' eines Gedichtes, wie er diesen simplen Superlativ überhaupt meidet, sondern von der Sangbarkeit als einen 'Verdachtsgrund gegen seine Bedeutung'. Auch ging es nicht um öde Sänger, schreckliche Sängerinnen und schwache Komponisten.

Karl Kraus
Um Heine
Die Sangbarkeit eines Gedichtes war stets ein Verdachtsgrund gegen seine Bedeutung als lyrisches Kunstwerk. Verschmäht es die Heine-Verehrung nicht, sich auf die Beliebtheit der Lorelei-Musik zu stützen? Dann ist am Ende Goethes: »Füllest wieder Busch und Tal« oder »Über allen Gipfeln …« schlechtere Lyrik als: »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten«.

("Die Fackel", Nr. 199, 1906, S. 2)

Wer, der ihn kannte, hat ihn auch gekannt?

Ein Leserbrief in der 'Presse' vom 13. November 2007 erinnert daran, dass nicht alle ehemaligen Untertanen von Kaiser Franz Joseph ihn ein "bisschen wie Gottvater" sahen, wie Otto Habsburg in einem Interview gemeint hat. Der Leserbriefschreiber zitiert, um diese Meinung zu korrigieren, die Verse Franz Joseph von Karl Kraus, allerdings unter Weglassung der Zeilen Wer, der ihn kannte, hat ihn auch gekannt? und Von wannen kam er und von welcher Art?, ohne diese Streichungen zu markieren. Vollständig lautet die Inschrift:

Franz Joseph

Wie war er? War er dumm? War er gescheit?
Wie fühlt' er? Hat es wirklich ihn gefreut?
War er ein Körper? War er nur ein Kleid?
War eine Seele in dem Staatsgewand?
Formte das Land ihn? Formte er das Land?
Wer, der ihn kannte, hat ihn auch gekannt?
Trug ein Gesicht er oder einen Bart?
Von wannen kam er und von welcher Art?
Blieb nichts ihm, nur das Wesen selbst erspart?
War die Figur er oder nur das Bild?
War er so grausam, wie er altersmild?
Zählt' er Gefallne wie erlegtes Wild?
Hat er's erwogen oder frisch gewagt?
Hat er auch sich, nicht nur die Welt geplagt?
Wollt' er die Handlung oder bloß den Akt?
Wollt' er den Krieg? Wollt' eigentlich er nur
Soldaten und von diesen die Montur,
von der den Knopf nur? Hatt' er eine Spur
von Tod und Liebe und vom Menschenleid?
Nie prägte mächtiger in ihre Zeit
jemals ihr Bild die Unpersönlichkeit.

(„Die Fackel“, Nr. 551, 1920, S. 18;
Worte in Versen V, Kraus-Schriften Bd. 9, S. 339)

"Ich blieb stumm; und sage nicht, warum."

George Steiner hat in seiner Rezension von Edward Timms' Monographie KARL KRAUS: APOCALYPTIC SATIRIST. (Volume Two: The Post-War Crisis and the Rise of the Swastika. Yale University Press: 2005) die Tradition der Verunstaltung der berühmtesten Verse von Karl Kraus extravagant fortgesetzt. In The Times Literary Supplement (TLS) war zu lesen:

  • "Man frage nicht, was all die Zeit ich machte.
    Ich blieb stumm;
    und sage nicht, warum."

In der 'Fackel' 888 vom Oktober 1933 steht:

  • Man frage nicht, was all die Zeit ich machte.
    Ich bleibe stumm;
    und sage nicht, warum.
    Und Stille gibt es, da die Erde krachte.
    Kein Wort, das traf;
    man spricht nur aus dem Schlaf.
    Und träumt von einer Sonne, welche lachte.
    Es geht vorbei;
    nachher war’s einerlei.
    Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.

Montag, 12. November 2007

"Ein kurzer Fasching ist doppelt so lustig" Karl Kraus (angeblich)

Die 'Augsburger Allgemeine' am 12. November 2007 unter dem Titel:
  • "Narren unter Zeitdruck: Nach vier Wochen ist schon alles vorbei
    Für Karl Kraus, den österreichischen Schriftsteller, hat ein verkürzter Fasching eher seine Reize, wie er in einem Bericht über den Wiener Fasching 1913 schreibt: "Ein kurzer Fasching ist doppelt so lustig." Denn er werde viel intensiver gefeiert."

Karl Kraus schrieb in der Tat eine Glosse über das "Wiener Faschingsleben 1913" ("Die Fackel" 368, 21ff.), allerdings ist der Satz: "Denn es ist ein kurzer aber eben darum doppelt lustiger Fasching, der von 1913!" nicht von ihm, sondern stammt aus einem Zeitungsartikel, den er glossiert.

"Kaffeefahrten nach Verdun" Karl Kraus (angeblich)

Im 'Schwäbischen Tagblatt' ist zu lesen:"
  •  „Kaffeefahrten nach Verdun“ heißt ein bekannter Essay von Karl Kraus, in dem der Moralist und Sprachkritiker über eine sentimentale Fahrt auf die Schlachtfelder des ersten Weltkriegs herzieht."
Karl Kraus hat nie einen Essay mit dem Titel „Kaffeefahrten nach Verdun“ publiziert. Sein berühmtes Pamphlet gegen die Werbung der 'Basler Nachrichten' für Schlachtfelder-Rundfahrten im Auto! hat die Überschrift: "Reklamefahrten zur Hölle".

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Quelle:
Karl Kraus: "Die Fackel", 1921, 577-582, S. 96