Mittwoch, 8. Juli 2020

"Jeder spinnt auf seine Weise – der eine laut, der andere leise." Joachim Ringelnatz (angeblich)

Pseudo-Joachim-Ringelnatz-Zitat.
Dieser Reim wurde dem 1934 verstorbenen Autor und Künstler Joachim Ringelnatz  70 Jahre nach seinem Tod ohne Quellennachweis erstmals unterschoben.

In seinen Texten ist dieses Zitat nicht zu finden, wie auch Birthe Preuß, die  Mitarbeiterin des Joachim-Ringelnatz-Museums, per E-Mail bestätigt hat.

Kurze Geschichte des Kuckuckszitats:

Die Wendung, "der eine laut, der andere leise", ist als humoristische Floskel seit 1819 (der eine schnarcht laut, der andere leise) belegbar.

1845

1938

Der Reim aus dem 19. Jahrhundert bekommt durch Hans Robinger, der Texte für Songs der Comedian Harmonists schrieb, seine heutige Form; statt dem Verb "spinnt" steht aber noch das Verb "lacht". 

Der Lachfoxtrot [!] der Comedian Harmonists ("Das Meistersextett") beginnt mit folgendem Vers:
  • "Jeder lacht auf seine Weise – der eine laut der ander leise ..."

    Text: Hans Robinger; Musik: Peter Igelhoff
    [Youtube: ab 0:55]



1948
1974

Der  DDR-Autor Helmut Baierl plagiiert oder zitiert in dem Stück "Die Lachtaube" (1974) den Reim aus dem "Lachfoxtrot" der Comedian Harmonists:

    Der Technikhistoriker Ralf Bülow hat herausgefunden, dass anscheinend der Autor Horst Bosetzky in dem Kriminalroman  "Friedrich der Große rettet Oberkommissar Mannhardt" den 2 Jahrzehnte später Joachim Ringelnatz unterschobenen Aphorismus im Jahr 1985 geprägt hat.


    1985

    Frühe falsche Zuschreibungen an Joachim Ringelnatz:

    2009


    Screenshot, Juli 2020:


    Pseudo-Joachim-Ringelnatz-Zitat.



    Artikel in Arbeit.
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    Quellen:
    E-Mail von Birthe Preuß vom 9. Juni 2020
    (Bibliographie folgt.)

    Beispiele für falsche Zuschreibungen:
    "Zitate von Joachim Ringelnatz" , Augsburger Allgemeine, 16. November 2009 (augsburger-allgemeine.de)

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    Dank:
    Ich danke Ralf Bülow für die Entlarvung dieses Kuckuckszitats und  Birthe Preuß für die Bestätigung, dass dieser Reim in den Gesammelten Schriften von Joachim Ringelnatz nicht vorkommt.

      Dienstag, 7. Juli 2020

      "Blosses Ignorieren ist noch keine Toleranz." Theodor Fontane (angeblich)

      Pseudo-Theodor-Fontane-Zitat.


      Dieses beliebte angebliche  Theodor-Fontane-Zitat ist in Fontanes Briefen und Schriften unauffindbar. Es ist also ein Kuckuckszitat, das Theodor Fontane anscheinend auf der Humor-Seite einer kleinen Oldenburger Zeitung im Jahr 1975 erstmals zugeschrieben wurde und seither immer ohne Quellenangabe zitiert wird.


      Nordwest Zeitung, NWZ, November 1975:

      • "Silbenrätsel  .... Ihre ersten und letzten Buchstaben ergeben ... ein Wort von Theodor Fontane."

        Auflösung: "Blosses Ignorieren ist noch keine Toleranz."


      Nordwest Zeitung, NWZ, Nr. 261, 8. November 1975.

      NWZ, Nr. 267, 15. November 1975.


      Im Jahr 1993 wurde das Zitat ohne Quellenangabe in den Duden 12 "Zitate und Aussprüche" aufgenommen und gilt seither, nur hinterfragt von Kennern der Schriften Theodor Fontanes, auch in Schulen und Universitäten als Theodor-Fontane-Zitat.


      DUDEN, Band 12

      Duden Band 12, "Zitate und Aussprüche", 1993, S. 748.

      Kenner und Kennerinnen der Schriften Theodor Fontanes versuchen seit mehr als 20 Jahren eine Spur dieses angeblichen Theodor-Fontane-Zitats in seinen gedruckten und ungedruckten Schriften zu finden.

      Wie mir Peter Schaefer, der Redakteur der "Fontane-Blätter" mitteilte, ist dieses Pseudo-Zitat auch seit Jahren ein Gesprächsthema von Literaturwissenschaftlern am Rande von Theodor-Fontane-Symposien und alle Experten haben bislang vergeblich nach diesem Zitat, das im Jahr 1998 auch eine gelbe Fontane-Krawatte verzierte, gesucht.

      Warum dieses Zitat 1993 ohne Quellenangabe in den DUDEN aufgenommen wurde, ist noch ungeklärt. Die DUDEN-Redaktion könnte durch eine Autorität im Fernsehen oder Radio dazu angeregt worden sein. 

      Kuckuckszitate entstehen oft in philologisch nicht vertrauenswürdigen Orten, wie in Internet-Foren oder auf Humorseiten von Zeitungen und werden aber ernst genommen, wenn sie von jemandem mit Autorität übernommen wurden. Diese Professoren, angesehenen Journalisten oder Zitate-Sammlungen sind dann die Superspreader von Kuckuckszitaten.


      Varianten des Pseudo-Theodor-Fontanezitats:
      • "Blosses Ignorieren ist noch keine Toleranz."
      • "Ignorieren ist noch keine Toleranz."
      • "Ignore is no tolerance."
      • "To ignore is not yet tolerance."
      • "Ignoring something is not the same as tolerance."

      Artikel in Arbeit.


      ***

      ZITATFORSCHUNG unterstützen.

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      _______
      Quellen:
      E-Mail von Peter Schaefer vom 3. Juni 2020
      Frank Pergande: "Denkmäler? Ein weites Feld!",  DIE ZEIT, 41/1998, 1. Oktober 1998 (zeit.de)
      Nordwest Zeitung, NWZ, Nr. 261, 8. November 1975, "Kurzweil am Wochenende" (ohne Seitenangabe), Silbenrätsel

      Beispiele für falsche Zuschreibungen:

      NWZ, Nr. 267, 15. November 1975, "Kurzweil am Wochenende" (ohne Seitenangabe)
      Dudenredaktion: Duden - Zitate und Ausspüche, Band 12, Duden Verlag, Mannheim: 1993, S. 748
      Dudenredaktion: Duden - Zitate und Ausspüche, Band 12, Duden Verlag, Mannheim: 2012, S. 876
      Hans Werner Wüst: "Zitate u. Sprichwörter", Bassermann, München: 2010, "Nachgeben" ebook (google.books)

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      Dank:
      Ich danke Peter Schaefer für seine Frage zu diesem Zitat und Ralf Bülow für seine Recherchen.



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      ANHANG

       

      1998:


      Theodor-Fontane-Krawatte mit Kuckuckszitat:  "Ignorieren ist noch keine Toleranz", 1998.

       -

      Screenshot, Juni 2020:


      Montag, 6. Juli 2020

      "Derjenige, der zum ersten Mal an Stelle eines Speeres ein Schimpfwort benutzte, war der Begründer der Zivilisation." Sigmund Freud (angeblich)


      Pseudo-Sigmund-Freud-Zitat.
      In einem Vortrag am 11. Januar 1893 zitiert der 36jährige Sigmund Freud einen englischen Autor, der meinte, dass "derjenige, welcher dem Feinde statt des Pfeiles ein Schimpfwort entgegenschleuderte [...] der Begründer der Zivilisation" war.



      Sigmund Freud, 1893

      • "Ein Mensch erfahre eine Beleidigung, einen Schlag oder dergleichen, so ist das psychische Trauma mit einer Steigerung der Erregungssumme des Nervensystemes verbunden. Es entsteht dann instinktiv die Neigung, diese gesteigerte Erregung sofort zu vermindern, er schlägt zurück, und nun ist ihm leichter, er hat vielleicht adäquat reagiert, d. h. er hat so viel abgeführt, als ihm zugeführt wurde. "

      • "Nun gibt es verschie­dene Arten dieser Reaktion. Für ganz leichte Erregungssteigerungen genügen vielleicht Veränderungen des eigenen Körpers, Weinen, Schimpfen, Toben und dergleichen. Je intensiver das psychische Trauma, desto größer ist die adäquate Reaktion. Die adäquateste Reaktion ist aber immer die Tat."

      • "Aber, wie ein englischer Autor geistreich bemerkte, derjenige, welcher dem Feinde statt des Pfeiles ein Schimpfwort entgegenschleuderte, war der Begründer der Zivilisation (1), so ist das Wort der Ersatz für die Tat und unter Umständen der einzige Ersatz (Beichte). Es gibt also neben der adäquaten Reaktion eine minder adäquate."

        Sigmud Freud: "Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene", Vortrag, gehalten von Dr. Sigm. Freud in der Sitzung des »Wiener med. Club« am 11. Januar 1893. Vom Vortr. revidiertes Original-Stenogramm der Wiener Med. Presse.1893 (Link); (Textlog.de)

      Diese Paraphrase eines Aphorismus eines englischen Autors wurde später in verschiedenen Variationen dem Gründer der Psychoanalyse selbst zugeschrieben, obwohl Freud ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass er diesen Aphorismus nicht selbst geprägt hat.

      Die Variante mit dem "Speer" stammt offenbar aus einer Rückübersetzung aus dem Englischen.


      • "But, as an English writer has wittily remarked, the man who first flung a word of abuse at his enemy instead of a spear was the founder of civilization. Thus words are substitutes for deeds, and in some circumstances (e.g. in Confession) the only substitutes."

        Sigmund Freud, übersetzt von [...] google.books

      Der von Sigmund Freud genannte geistreiche englische Autor könnte Henry Cockton gewesen sein, dessen Bonmot, "he who was the first to abuse his fellow man, instead of knocking out his brains without a word, laid thereby the basis of civilization", später leicht verändert öfters in englischen medizinischen Zeitschriften zitiert wurde.

      Das Bonmot des englischen Autors könnte Sigmund Freud also in einer englischen medizinischen Zeitschrift gelesen haben, und die Pfeil-Metapher im Bonmot könnte in der deutschen Paraphrase des Zitats von Sigmund Freud selbst stammen.




      1840

      • "If he who was the first to abuse his fellow man, instead of knocking out his brains without a word, laid thereby the basis of civilization, it as naturally as possible follows, that the more Inighly civilised we become , the more bitterly abusive we must be ..."
        Henry Cockton: "The Life and Adventures of Valentine Vox, the Ventriloquist",  Wiloughby and Co., London: o.J. (1840), S. 299 (google.books)

      1879
      The Toledo Medical and Surgical Journal, 1879, S. 424 (google.books)


      Beispiele für das Falschzitat:


      1983
      • "Wenn man Freud zustimmen kann, daß derjenige, der als erster an Stelle eines Speeres ein Schimpfwort benutzte, der eigentliche Begründer der menschlichen Zivilisation war - ..." (Link)
       2012
      • "Derjenige, der zum erstenmal an Stelle eines Speeres ein Schimpfwort benutzte, war der Begründer der Zivilisation. - Sigmund Freud"  (google.books)

      2013
      • "Derjenige, welcher dem Feinde statt eines Pfeiles ein Schimpfwort entgegenschleuderte, war der Begründer der Zivilisation. - Sigmund Freud" (google.books)

      2013
      • "Mit Worten zu kämpfen ist eine zivilisatorische Errungenschaft, wie Sigmund Freud Anfang des 20. Jahrhunderts treffend zusammenfasste: 'Derjenige, der zum ersten Mal an Stelle eines Speeres ein Schimpfwort benutzte, war der Begründer der Zivilisation.' " (google.books)



      Artikel in Arbeit.

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      Anmerkung:

      Anmerkung (1): "[Wie Andersson (1962, S, 109-10) nachgewiesen hat, ist diese eine Anspielung auf einen Satz von Hughlings Jacksons.]" Freud, Studienausgabe, S. 22

      __________
      Quellen:
      Sigmud Freud: "Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene", Erstveröffentlichung: Wiener medizinische Presse, Bd. 34 (4), 1893, S. 121-26 und (5), S. 165-67 ["Das Deutsche Original beginnt mit der Zeile: 'Von Dr.  Josef Breuer und Dr. Sigm. Freud in Wien.": Studienausgabe, Band VI, S. 11]  in:
      Sigmund Freud: Studienausgabe, Band VI, Hysterie und Angst,  Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main: 1982, S. 22 (Textlog.de)
      Henry Cockton: "The Life and Adventures of Valentine Vox, the Ventriloquist",  Wiloughby a. Co., London: o.J. (1840), S. 299 (google.books)
      Garson O'Toole: "The Man Who First Flung a Word of Abuse at His Enemy Instead of a Spear Was the Founder of Civilization - Sigmund Freud? An English Writer? Walt Menninger? Joyce Brothers? Robert Byrne? Apocryphal?", 2015 (quoteinvestigator.com)
      Garson O'Toole: (listserv.linguistlist.org)
      Joel Schwartz: "Freud and Freedom of Speech." The American Political Science Review, vol. 80, no. 4, 1986, pp. 1227–1248, S. 1238, JSTOR, www.jstor.org/stable/1960865. Accessed 6 July 2020.

      The Toledo Medical and Surgical Journal, Volume III, Medical Press Association, Toledo: 1879, S. 424 (google.books)

      Freud - Jackson (google.books)

      Insulting practices: (google.books)


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      Dank:
      Dank an  aphorismen.de, Garson O'Toole und besonders an Ralf Bülow, der mich auf die Spur von Jackson und Cockton aufmerksam gemacht hat.

      Sonntag, 5. Juli 2020

      "Das Recht auf Dummheit wird von der Verfassung geschützt. Es gehört zur Garantie der freien Entfaltung der Persönlichkeit." Mark Twain (angeblich)


      Pseudo-Mark-Twain-Zitat.
      Dieses angebliche Zitat des amerikanischen Autors Mark Twain existiert anscheinend nur auf Deutsch und ist deswegen höchstwahrscheinlich ein Kuckuckszitat.

      Bei einer chronologischen Durchsuchung der digitalisierten Texte taucht dieses Zitat das erste Mal im Jahr 1974 in Markus M. Ronners Zitate-Sammlung "Die Treffende Pointe: humoristisch-satirische Geistesblitze des 20. Jahrhunderts" auf.

      Markus M. Ronners Zitate-Sammlung ist keine verlässliche Quelle für Zitate, da die Zitate erstens ohne Quellennachweis präsentiert werden, und ich zweitens in diesem Buch schon mehrere  falsche Zuschreibungen entdeckt und dokumentiert habe (Link).


      1974
      • "Das Recht auf Dummheit wird von der Verfassung geschützt. Es gehört zur Garantie der freien Entfaltung der Persönlichkeit. - Mark Twain" 

        Markus M. Ronner: "Die Treffende Pointe: humoristisch-satirische Geistesblitze des 20. Jahrhunderts nach Stichwörtern alphabetisch geordnet." Ott Verlag, Thun: 1974,  S. 53 (books.google)

      Aber auch in der großen deutschsprachigen Zitatesammlung "Harenberg Lexikon der Sprichwörter u. Zitate" ist dieses angebliche Mark-Twain-Zitat verzeichnet, naturgemäß ohne Quellenangabe.

      1997

      • "Das Recht auf Dummheit wird von der Verfassung geschützt. Es gehört zur Garantie der freien Persönlichkeitsentfaltung. - Mark Twain" 
        "Harenberg Lexikon der Sprichwörter u. Zitate", Dortmund: 1997/2002, S. 1278
      Sogar in einer Mark-Twain-Anthologie des Insel Verlags wurde eine Version des Zitats aufgenommen, allerdings mit dem Zusatz, diese Gruppe von Zitaten seien nicht literarisch belegt, aber allgemein als Mark-Twain-Zitate bekannt und "vorwiegend mündlich überliefert."

      Ein Kuckuckszitat, das einer Autorität aus unbekannten Gründen Jahrzehnte nach ihrem Tod erstmals unterschoben wurde, sollte nicht als "mündlich überliefert" bezeichnet werden.

      2012

      • "Das Recht auf Dummheit gehört zur Garantie der freien Entfaltung der Persönlichkeit."
        Mark Twain für Boshafte. Ausgewählt von Günter Stolzenberger. (2010) insel taschenbuch, Berlin: 2012 ebook [Zusatz: nicht belegt; mündlich überliefert] (books.google)


      Artikel in Arbeit.

      ________
      Quellen:

      Beispiele für falsche Zuschreibungen:
      Markus M. Ronner: "Die Treffende Pointe: humoristisch-satirische Geistesblitze des 20. Jahrhunderts nach Stichwörtern alphabetisch geordnet." Ott Verlag, Thun: 1974,  S. 53 (books.google)
      "Harenberg Lexikon der Sprichwörter u. Zitate: mit 50000 Einträgen das umfassendste Werk in deutscher Sprache." (1997) 3. Auflage 2002, Harenberg Verlag, Dortmund: 2002, S. 1278
      Mark Twain für Boshafte. Ausgewählt von Günter Stolzenberger. (2010) insel taschenbuch, Berlin: 2012 ebook
      Oskar Beck: "Mats Hummels ist der Zahnstocher im Gebiss der Nazis", Die Welt, 3. September 201  (welt.de)



      Freitag, 3. Juli 2020

      "Die Träumenden und die Wünschenden halten den feineren Stoff des Lebens in den Händen." Franz Kafka (angeblich)

      Pseudo-Franz-Kafka-Zitat.

      Dieser Satz wird seit bald 60 Jahren Franz Kafka unterschoben und ist in seinen Briefen und Schriften nicht enthalten, wie mir auch der Kafka-Herausgeber Roland Reuß vom Heidelberger Institut für Textkritik bestätigt hat.

      Auch der Autor der berühmten Franz-Kafka-Biographie Reiner Stach hat nach einer Anfrage von Zitante Christa ihr per E-Mail am 18. Oktober 2008 versichert, dieses Zitat sei weder in den gedruckten noch in den ungedruckten Texten Kafkas zu finden.

      Bei einer chronologischen Suche auf Google books taucht das Zitat das erste Mal im Jahr 1963 in folgener Form auf:

      • "Die Träumer und Wünschenden halten den feineren Stoff des Lebens in ihren Händen, und wer je die Kraft eines Wunsche erfahren, der wird nicht wagen zu behaupten, daß dieser Teil des Lebens weniger wirklich sei.     -  Kafka"

          "Gedanken aus drei Jahrtausenden", ausgewählt und zusammengestellt von Horst Bergner, Non Stop-Bücherei, Band 82, Berlin-Grunewald: o.J., (1963?), S. 120 (Link)
       Warum der Herausgeber dieser Aphorismen-Sammlung, in der auf Quellenangaben bei allen Zitaten verzichtet wird, diesen Satz Franz Kafka zugeschrieben hat, ist unbekannt.

      Bis heute wird dieses Kuckuckszitat in der Meme-Welt sowie in diversen Zitatesammlungen immer ohne Quellenangabe zitiert.


      Artikel in Arbeit.
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      Quellen:
      Twitter
      E-Mail von Roland Reuß vom 3. Juli 2020
      E-Mail von Zitante Christa vom 4. Juli 2020 (zitante.de)

      Beispiele für Zuschreibungen des Kuckuckszitats in Zitatsammlungen:

       "Gedanken aus drei Jahrtausenden", ausgewählt und zusammengestellt von Horst Bergner, Non Stop-Bücherei, Band 82, Berlin-Grunewald: o.J., (1963?), S. 120 (google.books)
       Ingo Reichardt, Anne Reichardt: "Treffende Worte: 3000 Zitate für Führungskräfte." Linde Verlag, Wien: 2003, S. 164 (Link)


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      Dank:
      Ich danke Roland Reuß vom Institut für Textkritik für die Bestätiung per E-Mail, dass dieses angebliche Kafka-Zitat ein Kuckuckszitat ist sowie Ralf Bülow, Zitante Christa, Peter Plener, Birte Förster, Nicole delle Karth,  Helmut Wollmerdorfer, Franz Kafka und Thomas Lichtenberger für ihre Recherchen, Antworten und Hinweise auf Twitter.


      Mittwoch, 1. Juli 2020

      "Mailand oder Madrid – Hauptsache Italien." Andreas Möller (angeblich)


      Dieser Witz wurde dem deutschen Weltklasse-Fußballer Andreas Möller erst sechs Jahre, nachdem er ihn angeblich gemacht hat, das erste Mal zugeschrieben. Das angebliche Interview mit diesem Zitat hat noch niemand entdecken können.

      1992 wechselte Andreas Möller zu Juventus Turin nach Italien. Bevor der Vertrag fixiert wurde, gab es monatelang Spekulationen und Diskussionen. Bergamo wollte Möller haben, Möller wollte nicht nach Bergamo. Von Madrid war nicht die Rede. In diesen Monaten vor der Vertragsunterzeichnung soll dieser zweitberühmteste Satz Möllers gefallen sein.

      Aber erst sechs Jahre danach wurde er Andreas Möller das erste Mal zugeschrieben: zuerst anscheinend in dem Essener Punkrock-Fanzine "Moloko plus" in einer humoristischen Zitaten-Collage,


      Moloko Plus, Nr. 11, Sept. ´98, S. 72 (archive.org).

       

      dann von Klaus Bittermann, in einem Buch, dessen Titel "Vom Feeling her ein gutes Gefühl" tatsächlich von Andreas Möller stammt.


      Klaus Bittermann, Tiamat, 1999.

      In einem Interview für das SZ-Magazin hat Andreas Möller einmal bestätigt, dass er den Satz "Vom Feeling her habe ich ein gutes Gefühl" wirklich einmal gesagt hat:

      Andreas Möller, 2001

      •  "Gut, das gebe ich zu, das habe ich gesagt. Das ist mir mal rausgerutscht, das kann passieren, oder? Aber der Spruch 'Mailand oder Madrid - Hauptsache Italien', den hat man mir reingesungen."

        Andreas Möller, SZ Magazin, 2001 [Vorerst zitiert nach Uli Hesse, S. 35]
      Nach dem Urteil von Uli Hesse, dem Redakteur des Magazins "11 Freunde", der in seinem gut recherchierten, amüsanten Artikel "Vom Feeling her ein ungutes Gefühl" im Magazin "11 Freunde" mehrere falsche Fußballer-Zitate analysiert hat, sollte man in diesem Fall Andreas Möller glauben und nicht Klaus Bittermann, der ihm den Satz ohne Belegstellen untergeschoben hat.

      Wäre das Wort im Jahr 1992 wirklich gefallen, hätten sich das Klaus Hansen und Frank Langenfeld, die besten Fußballersprüche-Sammler Deutschlands, in den 1990er Jahren nicht entgehen lassen.

      Warum hätte sie das Zitat ignorieren sollen, wenn sie Möllers berühmtestes Zitat  ("Vom Feeling her habe ich ein gutes Gefühl") selbstverständlich in ihre Bücher aufgenommen haben?

      Aber weder in in Klaus Hansens Buch "Verkaufte Faszination - 30 Jahre Bundesliga",
      Klaus Hansen, 1993.
       
      noch in Frank Langefelds Sprüchesammlung: "Verlieren ist wie gewinnen. Nur umgekehrt" kommt das Andreas-Möller-Madrid-Zitat vor.
      Frank Langenfeld, 1999.

      Da das Zitat in den besten deutschen Fußballersprüchesammlungen der 1990er Jahre noch nicht vorkommt, stimme ich Uli Hesses Argumenten zu: Auch ich halte die Zuschreibung des Spruchs "Madrid oder Mailand - Hauptsache Italien" durch Klaus Bittermann und andere für unbegründet.

      Alle späteren Zuschreibungen an Andreas Möller stützen sich anscheinend wissentlich oder unwissentlich auf eine Fußballhumorseite eines Punkrock-Fanzines.

      Moloko Plus, Nr. 11, Sept. ´98, S. 72 (archive.org).
      Artikel in Arbeit.


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      ZITATFORSCHUNG unterstützen.

       ***
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      Quellen:
      Google
      Uli Hesse: "Vom Feeling her ein ungutes Gefühl - ... Ein Streifzug durch die Halbwelt der Kuckuckszitate." "11 Freunde." Nr. 224, Juli 2020, S. 34-36
      SZ-Magazin 2001
      Hamburger Morgenpost, 27. Februar 2013: "'Mailand oder Madrid...' Andi Möller bestreitet sein berühmtes Italien-Zitat" (Link)
      -
      Fußballerssprüche-Sammlungen ohne das "Madrid-Zitat":
      Klaus Hansens (Hg.): "Verkaufte Faszination - 30 Jahre Bundesliga", Klartext Verlag, Essen: 1993
      Frank Langefeld: "Verlieren ist wie gewinnen. Nur umgekehrt. Freiwillige und unfreiwillige Weisheiten aus der Welt des Sports", Verlag Die Werkstadt, (Göttingen?): 1999
      -
      Früheste Zuschreibungen des Kuckuckszitats:

      1998
      Moloko Plus, Nr. 11, Sept. ´98, S. 72 (archive.org)
      Deutsches Ärzteblatt, 30. Oktober 1998, VARIA: Schlußpunkt, "Sprüche von Fußballspielern: 'Von den Medien hochsterilisiert'" (genios.de)

      1999
      Darmstädter Echo, 8. April 1999 / FEUILLETON, "Der Wortwechsel zum Ballwechsel" (genios.de)
      Rhein-Main-Zeitung, 1. Juli 1999, Ankündigung einer "Ausstellung mit dem nicht ganz geographietreuen Titel  'Mailand oder Madrid - Hauptsache Italien!'" (genios.de)
      Klaus Bittermann (Hg.): "Vom Feeling her ein gutes Gefühl. Rhetorische Spitzenleistungen in der Welt des Fußballs oder Fußballdeutsch für fortgeschrittene Ausländer." Tiamat,  Berlin: 1999


      (Bibliographie folgt.)

      _______
      Dank:
      Ich danke Uli Hesse für seinen amüsanten Artikel zu diesem
      Kuckuckszitat.

      Montag, 29. Juni 2020

      "Es gibt drei Dinge, die sich nicht vereinen lassen: Intelligenz, Anständigkeit und Nationalsozialismus. Man kann intelligent und Nazi sein. Dann ist man nicht anständig ..." Gerhard Bronner

      Der Ursprung dieses Zitats des österreichischen Autors und Kabarettisten Gerhard Bronner ist offenbar ein Anti-Nazi-Witz aus den 1930er Jahren, der in Nazideutschland bei Hitler-Gegnern weit verbreitet war.

      "Is Hitler dead? and Best Anti-Nazi Humor." Edited  by B.D. Shaw. New York: 1939, S. 18 (archive.org)
      1936
      • "Als Gott die Deutschen erschuf, schenkte er ihnen drei Eigenschaften: Intelligenz, Anständigkeit und Nazismus. Aber Gott in seiner Weisheit machte auch eine Einschränkung. Ein Deutscher konnte nur zwei dieser drei Eigenschaften haben. In anderen Worten: Wenn ein Deutscher ein Nazi ist und anständig, kann er nicht intelligent sein; wenn er ein Nazi ist und intelligent, kann er nicht anständig sein; und wenn er anständig und intelligent ist, kann er kein Nazi sein."
        Magazine Digest

        "Is Hitler dead? and Best Anti-Nazi Humor." Edited with an introduction by. B.D. Shaw. Alceus House, New York: 1939, S. 18 (archive.org);  früheste Erwähnung dieses Witzes in:
        B'nai B'rith -  National Jewish Monthly,  Volume 50, Nr. 6, March 1936, S. 216 [eingeschränkte Vorschau] (Link)

      Dieser Witz wurde nach dem 2. Weltkrieg unter Weglassung Gottes als Anekdote und Aperçu über den miesen Charakter der Nazis in verschiedenen Versionen weitererzählt, wohl auch, um die Legenden vom angeblich "guten Nazi" zu zerstören, die zum Beispiel im Umkreis des in entscheidenden Punkten völlig verlogenen Nazi-Rüstungsministers Albert Speer aufgekommen sind.

      1948

      • "EIGENSCHAFTEN
        Ein Engländer wird nach seinem Deutschlandbesuch gefragt, wie er die Deutschen gefunden habe. Er antwortet: 'O, sie gefallen mir sehr gut, sie sind ehrlich, intelligent und nationalsozialistisch. Nur schade, daß diese drei Eigenschaften nie zusammentreffen. Ein Deutscher hat immer nur zwei davon. Entweder ist er ehrlich und intelligent, dann ist er nicht nationalsozialistisch, oder er ist intelligent und nationalsozialistisch, dann ist er nicht ehrlich, oder er ist ehrlich und nationalsozialistisch, aber dann ist er nicht intelligent."'

        John Alexander Meier, Kurt Sellin: "Geflüstertes: Die Hitlerei im Volksmund." Freiheit Verlag: 1948, S. 60 (Link); kaum verändert abgedruckt auch in: Hans-Jochen Gamm: "Der Flüsterwitz im Dritten Reich." List: 1963, S. 22 (Link)(Link)
        Nachdrucke: 1964:  (Link); 1980:  (Link)

      1963
      • "Ich erinnere mich, daß zur Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland ein Ausspruch zirkulierte, wonach ein Deutscher drei Eigenschaften haben könne: er könne intelligent, er könne ehrlich und er könne ein fanatischer Nazi sein, niemals ..." (Link)
      1967

      Vielleicht hat Gerhard Bronner auch eine Variante dieses Witzes in einem Beitrag der WDR-Sendung Panorama aus dem Jahr 1967 gesehen. Hier wird die Anekdote nicht einem unbekannten Engländer zugeschrieben, sondern einem bekannten Franzosen.

       
       (Anständige Nazis, 1967, Panorama, panorama.de Facebook Video)

      In dieser Panorama-Sendung wird ein angeblicher Ausspruch des französischen Germanisten, Politikers und Diplomaten André François-Poncet zitiert. François-Poncet war in den ersten 5 Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft bis 1938 französischer Botschafter in Berlin.

      Auf die Frage, ob alle Deutschen Nazis seien, soll André François-Poncet geantwortet haben:
      • "Wenn jemand in Deutschland Nazi ist und intelligent, dann ist er bestimmt nicht anständig. Und alles andere folgt logisch daraus."
      Alle logischen Konsequenzen aus dieser Prämisse werden in dem amüsanten TV-Beitrag mit Hilfe eines Computers errechnet und dargestellt.

      Folgerungen des Computers:
      • 1. Wer Nazi ist und anständig, der ist nicht intelligent.
      • 2. Wer intelligent ist und anständig, kann kein Nazi sein.
      Anständige Nazis, 1967, Panorama, panorama.de Facebook Video

      1968

      Der Schauspieler Oskar Werner lehnte es  - trotz sehr guter Gage -  ab, in einem Film einen "guten Nazi" zu spielen. 

      Oskar Werner, 1968

       

      • "Wenn jemand gut ist und ein Nazi, dann ist er nicht intelligent. Wenn jemand intelligent ist und ein Nazi, dann ist er nicht gut. Und wenn jemand gut und intelligent ist, dann ist er kein Nazi."
      Mit dieser 'arithmetischen Gleichung' weigerte sich (laut seinem Biographen) der durch seine Rolle als Schiffsarzt in dem Film "Das Narrenschiff" weltweit bekannt gewordene Burgschauspieler Oskar Werner in Stanley Kramers 'Das Geheimnis von Santa Vittoria'  einen "guten Nazi" zu mimen. 


      1979

      Aperçus unbekannten Ursprungs werden oft einer Autorität zugeschrieben, wenn sie sarkastisch sind, gerne dem schottischen Satiriker und Dramatiker Bernard Shaw

      So erging es auch diesem Zitat; eine Version wird seit dem Jahr 1979 G. Bernard Shaw unterschoben.

      Wahrscheinlich war der Grund für das Bernard-Shaw-Kuckuckszitat die Namensgleichheit des Herausgebers B.D. Shaw der "Best Anti-Nazi Humor"-Sammlung, die den Deutschen-Witz enthielt, mit dem Satiriker G.B. Shaw.

      "Schriften: Feldpostbriefe aus dem 1. Weltkrieg, Dienststrafverfahren im NS-Deutschland, Gedichte."Erich Pöppel, ATE, Münster: 2000  Google books.


        2005

       

      Gerhard Bronner, 7. Mai 2005

       

      • "Es gibt drei Dinge, die sich nicht vereinen lassen: Intelligenz, Anständigkeit und Nationalsozialismus. Man kann intelligent und Nazi sein. Dann ist man nicht anständig. Man kann anständig und Nazi sein. Dann ist man nicht intelligent. Und man kann anständig und intelligent sein. Dann ist man kein Nazi." -

        Gerhard Bronner: Rede bei der Gedenkfeier zum 60. Jahrestag der Befreiung des KZ Gunskirchen, 7. Mai 2005 (schulen.eduhi.at)


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      Artikel in Arbeit.

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      Quellen:
      Rede von Gerhard Bronner anlässlich der Gedenkfeier zum 60. Jahrestag der Befreiung des KZ Gunskirchen , 7. Mai 2005 (Link)
      "Anständige Nazis", 1967, Panorama, panorama.de Facebook Video
      B'nai B'rith -  National Jewish Monthly,  Volume 50, Nr. 6, March 1936, S. 216 [eingeschränkte Vorschau] (Link)
      "Is Hitler dead? and Best Anti-Nazi Humor." Edited with an introduction by. B.D. Shaw. Alceus House, New York: 1939, S. 18 (archive.org)
      "Schriften: Feldpostbriefe aus dem 1. Weltkrieg, Dienststrafverfahren im NS-Deutschland, Gedichte."Erich Pöppel, ATE, Münster: 2000 (Google books).
      John Alexander Meier, Kurt Sellin: "Geflüstertes: Die Hitlerei im Volksmund." Freiheit Verlag: 1948, S. 60 (Link)
      Hans-Jochen Gamm: "Der Flüsterwitz im Dritten Reich." List: 1963, S. 22 (Link)


      (Bibliographische Angaben folgen.)
      Wikiquote

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      Dank: Ich danke Xᴏᴘʜ ᴅᴀ Pʀᴏғ für seinen Hinweis auf den Panorama-Beitrag und Ralf Bülow für seine Funde zum Urspung des Zitats als Anti-Nazi-Witz.


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      Anhang



      Twitter, 2020

       


      Der Technikhistoriker Ralf Bülow hat herausgefunden, dass die Einschätzung, ein Deutscher könne nicht gleichzeitig anständig, Nationalsozialist und intelligent sein als anonymer Witz schon vor 1945 in Deutschland verbreitet war und nicht nur dem französischen Botschafter zugeschrieben wird.

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