Sonntag, 15. Dezember 2019

"Der Mensch ist die dümmste Spezies! Er verehrt einen unsichtbaren Gott und tötet eine sichtbare Natur ... " Hubert Reeves (angeblich)

Pseudo-Hubert-Reeves-Zitat.
Der kanadische Astrophysiker und Umweltschützer Hubert Reeves hat vor vier Jahren auf seiner Facebook-Seite gebeten, dieses Zitat nicht mehr unter seinem Namen weiterzuverbreiten, da es ihm fälschlich zugeschrieben wird.

 Diese Facebook-Seite von Hubert Reeves wird von 2 Administratoren betreut.

Diese Bitte hat Hubert Reeves bisher nicht viel genützt. Im Gegenteil. Das Zitat wird ihm seither auf Twitter und auf Facebook öfter unterschoben als davor.

Wer das Zitat geprägt hat und wer es vor etwa 10 Jahren das erste Mal Hubert Reeves unterschoben hat, ist unbekannt.

Das Kuckuckszitat taucht im Jahr 2010 in Internetforen zuerst auf Englisch auf, ein paar Jahre später auch auf Französisch, Deutsch und Italienisch.

Hubert Reeves unterschoben:


  • "Man is the most insane species. He worships an invisible god and destroys a visible nature. Unaware that this nature he's destroying is this god he's worshipping."
„Man is the most insane species. He worships an invisible God and destroys a visible Nature. Unaware that this Nature he’s destroying is this God he’s worshiping.“

Fuente: https://citas.in/frases/1320226-hubert-reeves-man-is-the-most-insane-species-he-worships-an-inv/
„Man is the most insane species. He worships an invisible God and destroys a visible Nature. Unaware that this Nature he’s destroying is this God he’s worshiping.

Fuente: https://citas.in/frases/1320226-hubert-reeves-man-is-the-most-insane-species-he-worships-an-inv/
„Man is the most insane species. He worships an invisible God and destroys a visible Nature. Unaware that this Nature he’s destroying is this God he’s worshiping.

Fuente: https://citas.in/frases/1320226-hubert-reeves-man-is-the-most-insane-species-he-worships-an-inv/
  • "Der Mensch ist die dümmste Spezies! Er verehrt einen unsichtbaren Gott und tötet eine sichtbare Natur, ohne zu wissen, dass diese Natur, die er vernichtet, dieser unsichtbare Gott ist, den er verehrt."
  • ''L'uomo è la specie più folle: venera un Dio invisibile e distrugge una Natura visibile. Senza rendersi conto che la Natura che sta distruggendo è quel Dio che sta venerando.'' 
  • "L'homme est fou. Il adore un Dieu invisible et détruit une nature visible, inconscient que la Nature qu'il détruit est le Dieu qu'il vénère."

Pseudo-Hubert-Reeves quote.

Pseudo-Hubert-Reeves quote.

Pseudo-Hubert-Reeves quote.


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Quellen:
Google Deutsch: Ungefähr 9 110 Ergebnisse
Google Englisch: Ungefähr 25 100 Ergebnisse
Google Französisch: Ungefähr 22 300 Ergebnisse
Facebook-Seite von Hubert Reeves (betreut von zwei Administratoren)

Früheste falsche Zuschreibung auf Englisch:
2010: nzguitars.com/forum BY GrantB
Früheste falsche Zuschreibung auf Deutsch:

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Dank:
Ich danke Bonita für die Frage zu diesem Zitat.

Dienstag, 10. Dezember 2019

"Aufmerksamkeit ist das natürliche Gebet der Seele." Malebranche (angeblich)

Dieses Zitat wurde duch Walter Benjamin und Paul Celan weltweit bekannt, ist aber in diesem  Wortlaut in den Schriften des französischen Priesters, Mathematikers und Philosophen Nicolas Malebranche nicht gefunden worden.

Paul Celan zitiert den Satz in seiner berühmten Büchnerpreisrede mit dem Hinweis auf den Urspung des Zitats in Walter Benjamins zum 10. Todestag Franz Kafkas erschienenem Kafka-Essay.

Paul Celan, 22. Oktober 1960, Darmstadt:


  • " 'Aufmerksamkeit' erlauben Sie mir hier, nach dem Kafka-Essay Walter Benjamins, ein Wort von Malebranche zu zitieren ,  'Aufmerksamkeit ist das natürliche Gebet der Seele'."

    Paul
    Celan: Büchnerpreisrede, "Der Meridian", 22. Oktober 1960, Darmstadt, in: Suhrkamp: 1988:  S. 52 (Link). (Link)

Walter Benjamin, Ende Dezember 1934:

  • "In seiner Tiefe berührt Kafka den Grund, den weder das 'mythische Ahnungswissen' noch die 'existenzielle Theologie' ihm gibt. Es ist der Grund des deutschen Volkstums so gut wie des jüdischen. Wenn Kafka nicht gebetet hat was wir nicht wissen so war ihm doch aufs höchste eigen, was Malebranche 'das natürliche Gebet der Seele' nennt die Aufmerksamkeit. Und in sie hat er, wie die Heiligen in ihre Gebete, alle Kreatur eingeschlossen."

    Walter Benjamin: "Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages", Jüdische Rundschau, 21. und 28. Dezember 1934
    pdf
  • "Even if Kafka did not pray — and this we do not know — he still possessed in the highest degree what Malebranche called ‘the natural prayer of the soul’: attentiveness."

Der im 17. Jahrhundert einflußreiche Philosoph Nicolas Malebranche spricht in seinen Schriften öfters von dem natürlichen Gebet, dem prière naturelle, aber nie in der prägnanten Form des deutschsprachigen Zitats, das der Philosoph Ernst Cassirer (1906) schon Jahrzehnte vor Walter Benjamin dem französischen Philosophen Malebranche zugeschrieben hat (Link).


Wahrscheinlich hat Ernst Cassirer unter anderem folgendes Zitat von Nicolas Malebranche paraphrasiert:

   Nicolas Malebranche: Méditations chretiennes et métaphysiques, 1683

 

  • "9. L'attention est une prière naturelle, que l'esprit me fait comme à la raison universelle, afin qu'il reçoive de moi la lumière et l'intelligence;"

    Nicolas Malebranche: Méditations chrétiennes, in:  Oeuvres de Malebranche, S. 170 (Link)  ;

    S. 200 (Link)
  •  "9. Die Aufmerksamkeit ist ein natürliches Gebet, welches der Geist an mich als die allgemeine Vernunft richtet, damit er von mir Licht und Intelligenz erhalte; und immer erhöre ich dieses Gebet, wenn es gewissen Bedingungen Genüge leistet, die ich dir vorhin erklärt habe."

    Nicolas Malebranche: "Christlich-metaphysische Betrachtungen." Anonyme Übersetzung.  In der Theissingschen Buchhandlung, Münster: 1842, S. 178 (Link)
  • "Die Aufmerksamkeit des Geistes ist ein natürliches Gebet, das wir an die innere Wahrheit richten, damit sie sich uns enthüllt." 2004, S. 266 (Link) 
  • "Die Aufmerksamkeit des Geistes ist ein natürliches Gebet, durch das uns zuteil wird, daß die Vernunft uns aufklärt." Christoph Türcke, C.H. Beck, München: 2019 ebook (Link)


Eine Paraphrase dieses Satzes findet man auch in einem philosophischen Lehrbuch aus dem Jahr 1870.

Albert Stöckl: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, 1870

  • "Die Aufmerksamkeit ist gewissermaßen ein natürliches Gebet, das die Seele an Gott richtet, ihr eine bestimmte Idee zu offenbaren."

    Albert Stöckl: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, 1870, Kapitel Nikolaus Malebranche, S. 608 books.google. 

Der preußische König Friedrich II. schrieb von der Aufmerksamkeit als einem natürlichen Gebet ohne Hinweis auf den Ursprung dieser Formel bei Malebranche:

Friedrich II.: Gedanken über Religion, 1789


  •  "Das Forschen und die Aufmerksamkeit sind ein natürliches Gebet, das wir zu Gott richten, damit er uns leite, die Wahrheit zu entdecken."

    Friedrich II.: Gedanken über Religion, Aus dem Nachlass, 1789, S. 4 (Link)
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(Artikel in Arbeit.)

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Quellen:
Paul Celan: Büchnerpreisrede, "Der Meridian", 22. Oktober 1960, Darmstadt, in: Suhrkamp: 1988:  S. 52 (Link). (Link)
Walter Benjamin: "Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages", Jüdische Rundschau, 21 und 28. Dezember 1934 pdf
Nicolas Malebranche: Méditations chrétiennes, in:  Oeuvres de Malebranche, S. 170 (Link)  
Nicolas Malebranche: "Christlich-metaphysische Betrachtungen." Anonyme Übersetzung.  In der Theissingschen Buchhandlung, Münster: 1842, S. 178 (Link)  
Albert Stöckl: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, Verlag von Franz Kirchheim. Münster: 1870, Kapitel Nikolaus Malebranche, S. 608 (Link) 
Friedrich II.: Gedanken über Religion, Aus dem Nachlass, 1789, S. 4 (Link)


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(Link) 
(Link)

Montag, 2. Dezember 2019

"Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun." Richard Wagner (angeblich)

Dieses populärste Richard-Wagner-Zitat ist im Jahrzehnt nach seinem Tod durch Verkürzung eines Satzes aus Richard Wagners Schrift "Deutsche Kunst und Deutsche Politik" entstanden.

Richard Wagner feiert in dieser Schrift das Erwachen des deutschen Geistes im 18. Jahrhundert und die Wiederbelebung der klassischen Antike durch Winckelmann, Lessing, Wieland und Goethe (S. 123f. Link).

 Richard Wagner, 1868:

  • "Hier [im 18. Jahrhundert]  kam es zum Bewußtsein und erhielt seinen bestimmten Ausdruck, was Deutsch sei, nämlich: die Sache, die man treibt, um ihrer selbst und der Freude an ihr willen treiben; wogegen das Nützlichkeitswesen, d. h. das Prinzip, nach welchem eine Sache des außerhalb liegenden persönlichen Zweckes wegen betrieben wird, sich als undeutsch herausstellte. Die hierin ausgesprochene Tugend des Deutschen fiel daher mit dem durch sie erkannten höchsten Prinzipe der Ästhetik zusammen, nach welchem nur das Zwecklose schön ist, weil es, indem es sich selbst Zweck ist, seine über alles Gemeine erhöhte Natur, somit das, für dessen Anblick und Erkenntnis es sich überhaupt der Mühe verlohnt Zwecke des Lebens zu verfolgen, enthüllt; wogegen das Zweckdienliche häßlich ist ..."

    Richard Wagner: "Deutsche Kunst und Deutsche Politik". (1868) Gesammelte Schriften und Dichtungen. Verlag E. W. Fritzsch, Leinpzig: 1873, Band 8, S. 124 (Link)
Zehn Jahre später erklärt Richard Wagner noch einmal seine Interpretation von Kants Formel vom "interesselosen Wohlgefallen" des Schönen (zum Unterschied vom bloß Angenehmen) zur typisch deutschen Eigenschaft:

Richard Wagner, 1878: 

  •  "Als Goethes »Götz« erschien, jubelte es auf: »das ist deutsch!« Und der sich erkennende Deutsche verstand es nun auch, sich und der Welt zu zeigen, was Shakespeare sei, den sein eigenes Volk nicht verstand; er entdeckte der Welt, was die Antike sei [...] Und dieses Bewußtsein sagte ihm, was er zum ersten Male der Welt verkünden konnte, daß das Schöne und Edle nicht um des Vorteils, ja selbst nicht um des Ruhmes und der Anerkennung willen in die Welt tritt: und Alles, was im Sinne dieser Lehre gewirkt wird, ist »deutsch«, und deshalb ist der Deutsche groß ..."

    Richard Wagner: "Was ist deutsch?" Bayreuter Blätter, redigiert von Hans von Wolzogen, Erster Jahrgang 1878, S. 38 (Link);  (Link) 

Elf Jahre nach dem Tod Richard Wagners taucht die Kurzfassung des Zitats erstmals in den digitalisierten Texten auf:

 1894:

  •  "Wagner sagt: 'Deutsch sein heißt eine Sache um ihrer selbst willen treiben.'"

    Ostdeutsche Rundschau, 15. Februar 1894, Außerordentliche Beilage (ohne Seitenzahl) (Link)
Diese Kurzform des Zitats bekommt bald Flügel und wird zum Beispiel auch von Stefan Zweig in einem Brief an Romain Rolland im Jahr 1915 zitiert:

Stefan Zweig, 1915:

  • "Was Wagner für den Deutschen sagte: 'Deutsch sein heißt eine Sache um ihrer selbst willen tun', gilt für alle Menschen aller Nationen."

    Stefan Zweig an Romain Rolland, Wien, 23. August 1915 (Link)
Bei Nationalsozialisten ist das Zitat dann ohne jede Beziehung auf den ursprünglichen idealistischen Weimarer Kontext als nationalistischer Slogan so weit verbreitet, dass Theodor W. Adorno später das verkürzte  Wagner-Zitat "als berühmteste Formel des deutschen kollektiven Narzißmus" bezeichnet: "Unleugbar die Selbstgerechtigkeit des Satzes, auch der imperialistische Oberton, der den reinen Willen der Deutschen dem vorgeblichen Krämergeist zumal der Angelsachsen kontrastiert. (Link)"

Artikel in Arbeit.

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Quellen:
Richard Wagner: "Deutsche Kunst und Deutsche Politik". (1868) Gesammelte Schriften und Dichtungen. Verlag E. W. Fritzsch, Leinpzig: 1873, Band 8, S. 124 (Link)
Richard Wagner: "Was ist deutsch?" Bayreuter Blätter, redigiert von Hans von Wolzogen, Erster Jahrgang 1878, S. 38 (Link);  (Link) 
Ostdeutsche Rundschau, 15. Februar 1894, Außerordentliche Beilage (ohne Seitenzahl) (Link)
Wolfgang Bergem: Identitätsformationen in Deutschland. Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden: 2005, S. 10  books.google  
wikiquote.org/wiki/Diskussion  
universal_lexikon
(Link)
(Link) 

Freitag, 29. November 2019

"Politik ist angewandte Liebe zur Welt." Hannah Arendt (angeblich)

Dieses Lieblingszitat des deutschen Bundespräsidenten Johannes Rau und des SPD-Vizekanzlers Franz Müntefering ist in Hannah Arendts Schriften in diesem Wortlaut nicht zu finden.  
Ulrich Rosenbaum: "Rudolf Scharping" Ullstein Verlag: 1993, Online: ulrichrosenbaum.de
 Julius Langbehn: Rembrandt als Erzieher. Hirschfeld, Leipzig; 1890, S. 251 (Link)
Friedrich Wilhelm Foerster: "Jugendseele, Jugendbewegung, Jugendziel". Rotapfel-Verlag, Erlenbach-Zürich: 1923, S. 147  (Link)
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Dank:
Ich danke Tobias Blanken für den Hinweis auf dieses Kuckuckzitat und Ralf Bülow für Korrekturen und den Hinweis auf den Ursprung des Zitats bei Klaus Naumann. Der Redaktion der Zeitschrift "Hannaharendt.net" danke ich für die Dokumentation der Verwendung dieses Zitats von Juni 1993 bis ins Jahr 2005.

Dienstag, 26. November 2019

"Werde, der du bist." Friedrich Nietzsche (angeblich)

Die Maxime des griechischen Dichters Pindar, "génoi' oíos essí mathón", hat Friedrich Nietzsche mit den Worten, "Werde der, der du bist", und, "Werde, der du bist", übersetzt.

Der Übersetzer ist nicht der Urheber eines Spruchs. Dieses Pindar-Zitat wird manchmal auch irrtümlich Johann Wolfgang Goethe oder dem Philosophen Schelling unterschoben.

Friedrich Nietzsche unterschobenes Pindar-Zitat.

Pindar, Zweite Pythische Ode:

  • "Werde der, der du bist!" Übersetzt von Friedrich Nietzsche.
  • "Komm zur Kenntnis, von welcher Art du bist!" Übersetzt von Dieter Bremer.
  • "Beginne zu erkennen, wer du bist." Übersetzt von Eugen Dönt.
  • "Werde welcher du bist erfahren". Übersetzt von Friedrich Hölderlin.
  • Become such as you are, having learned what that is.
  • Be what you know you are.
  • Become the one thou art. 
    Become who you are!
  • Be true to thyself now that thou hast learnt what manner of man thou art.
  • Having learned, become who you are.
  • Deviens celui que tu es!

In Friedrich Nietzsches Schriften und Briefen kommt diese Maxime Pindars siebenmal in leicht verschiedenen Versionen vor.

Auch der Untertitel von Nietzsches letztem Werk, "Ecce homo. Wie man wird was man ist", spielt auf diesen Pindarschen Imperativ an.


Friedrich Nietzsche:


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Quellen:
Pindar: "Siegeslieder" Griechisch - Deutsch,  Übers.: Dieter Bremer, Sammlung Tusculum, Patmos Verlag, Düsseldorf / Zürich: 2003, Zweite Pythische Ode, S. 124/72; 125 (Link)
Pindar: "Oden", übersetzt und hrsg. von Eugen Dönt, Reclam, Stuttgart: 1986, S. 99
Friedrich Hölderlin: Pindar, in: Friedrich Hölderlin: Sämmtliche Werke,  Band 15, hrsg. von D. E. Sattler, Stroemfeld/Stern, Frankfurt am Main: 1987, S. 219, Z. 131 (Link)
Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente Oktober–Dezember 1876
 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente Frühjahr–Herbst 1881
Friedrich Nietzsche: Brief an Lou von Salomé: vermutlich 10. Juni 1882
Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft: § 270. Erste Veröff. 1882
Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra IV: Das Honig-Opfer. 1885  
Timo Hoyer: "Nietzsche und die Pädagogik: Werk, Biografie und Rezeption", Königshausen u. Neumann, Würzburg: 2002, S. 418  (Link) 
Andreas Urs Sommer: "Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben, Nietzsche contra Wagner",  Nietzsche-Kommentar 6/2, De Gruyter, Berlin/ Boston: 2013, S. 354 (Link)

Beispiele für falsche Zuschreibung an Goethe:
1985 books.google
facebook
twitter

Beispiele für falsche Zuschreibung an Nietzsche:
spruchwelt.com
Süddeutsche Zeitung, 24. /25. November 2018, S. 12 (Link):
Nietzsche unterschobenes Pindar-Zitat.



(Korrigierte Fassung. In Arbeit.)

Montag, 25. November 2019

"Die größte Ehre, die man einem Menschen antun kann, ist die, daß man Vertrauen zu ihm habe." Matthias Claudius (angeblich)

Pseudo-Matthias-Claudius-Zitat.
Dieser Satz wird Matthias Claudius seit kaum 10 Jahren und Martin Luther seit etwa 60 Jahren unterschoben.

Die Zuschreibung an den Dichter Matthias Claudius ist völlig unbegründet, da meines Wissens kein Satz von Matthias Claudius so oder so ähnlich in seinen Schriften überliefert ist.

Die Zuschreibung an Martin Luther hingegen ist nicht völlig falsch, sondern kann als Paraphrase einer Stelle aus Luthers Schrift: "Von der Freiheit des Christenmenschen", verstanden werden.


Martin Luther: Von der Freiheit des Christenmenschen, 1520

 

  • "Zum 11.: Weiter ist es mit dem Glauben so, dass wer einem anderen glaubt, der glaubt ihm darum, weil er ihn als einen vertrauenswürdigen, wahrhaftigen Mann achtet, welches die größte Ehre ist, die ein Mensch einem anderen erweisen kann; wie es umgekehrt die größte Schmach ist, wenn er ihn für einen unzuverlässigen, lügenhaften, leichtfertigen Mann achtet."
    Martin Luther: "Von der Freiheit des Christenmenschen", Fassung von 2017  (pdf)
  • "... weiter ists mit dem Glauben also gethan, daß, welcher dem andern glaubt, der glaubt ihm darum, daß er ihn für einen frommen, wahrhaftigen Mann achtet, welches die größte Ehre ist, die ein Mensch dem andern thun kann."

    Martin Luther: "Von der Freiheit des Christenmenschen", Fassung von 1844 (Link)

Der Gedanke Luthers, es sei die größte Ehre, von anderen Menschen als fromm und wahrhaftig geachtet zu werden, wird seit 1965 manchmal etwas verändert wiedergegeben:

  • "Doktor Martin Luther hat einmal gesagt, die größte Ehre, die man einem Menschen antun könne, sei die, daß man Vertrauen zu ihm habe."
    Allgemeine Forstzeitschrift, Band 20, 1965, S. 657 (Link)


Entstelltes Martin-Luther-Zitat.
Artikel in Arbeit.
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Googlebooks Claudius
Martin Luther: Von der Freiheit des Christenmenschen, 1520 (Link); Digitale Edition von freiheit2017.net

Frühe Zuschreibung an Matthias Claudius:
2010 - rkz-forum.de/forum-rkz/forum/, 12. März 2010, 10:13

Frühe Zuschreibung an Martin Luther:
1965 -  Allgemeine Forstzeitschrift, Band 20, 1965, S. 657 (Link)



"Drei Dinge helfen, die Mühseligkeiten des Lebens zu tragen: Die Hoffnung, der Schlaf und das Lachen." Immanuel Kant (angeblich)

Der Satz: "Der Himmel hat den Menschen als Gegengewicht zu den vielen Mühseligkeiten des Lebens drei Dinge gegeben: Die Hoffnung, den Schlaf und das Lachen",  ist eine verkürzte, aber nicht sinnentstellende Wiedergabe eines Gedankens aus Immanuel Kants "Kritik der Urteilskraft":

Immanuel Kant, 1790:


  • "Voltaire sagte, der Himmel habe uns zum Gegengewicht gegen die vielen Mühseligkeiten des Lebens zwei Dinge gegeben: die Hoffnung und den Schlaf. Er hätte noch das Lachen dazu rechnen können; wenn die Mittel es bei Vernünftigen zu erregen nur so leicht bei der Hand wären, und der Witz oder die Originalität der Laune, die dazu erforderlich sind, nicht ebenso selten wären, als häufig das Talent ist, kopfbrechend, wie mystische Grübler, halsbrechend, wie Genies, oder herzbrechend, wie empfindsame Romanschreiber (auch wohl dergleichen Moralisten), zu dichten."

    Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 54 Anmerkung, S. 203 (Link);  /Link)

Voltaire hat den großen Wert von Schlaf und Hoffnung für die geplagte Menschheit in seinem Epos über Heinrich IV. (Le Henriade) gefeiert:

Voltaire, Le Henriade, 1728

  • "Gott, dessen Macht und Huld uns aus dem Nichts gerissen, 
    Hat, um die Pilgrimschaft des Lebens zu versüssen,
    Dis Rund mit Zweyerley zur Linderung begabt,
    Des glücklicher Besitz den Mensch beständig labt,
    Als Stütze bey der Müh, als Schatz, im Mangel offen;
    Dis ist der süsse Schlaf, das andre ist das Hoffen."

    Voltaire: "Heldengesang auf Heinrich dem Vierdten, König in Frankreich", übersetzt von Friedrich Heinrich von Schönberg, 1751, S. 108f.; französisch, S. 95: (Link)

Schon ein paar Jahre nach der Erstveröffentlichung der "Kritik der Urteilskraft" wurde der Gedanke Kants ohne Hinweis auf dessen Ursprung bei Voltaire zitiert:

  • "Hoffnung, Schlaf und Lachen sind, wie Kant sagt, die drei specifischsten Mittel, uns die Uebel der Welt vergessen zu machen, und die Wiener, ohne Kant zu kennen, wenden diese Mittel an."

    Carl L. Fernow, 1794 (Link)

Verkürztes Immanuel-Kant-Zitat.


Artikel in Arbeit.
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Quellen:
Google
Immanuel Kant: "Kritik der Urteilskraft." Mit Einleitung und Bibliographie herausgegeben von Heiner F. Klemme und Anmerkungen von Piero Giordanetti. Felix Meiner Verlag, Hamburg: 2009, S. 458 (Anmerkung zu Voltaire) [Druckfehler: Huls statt Huld]  (Link)
Voltaire: "Le Henriade" (1728, London) Les frères Perisse, Lyon: 1807, S. 95 (Link)
Voltaire: "Heldengesang auf Heinrich dem Vierdten, König in Frankreich". Übersetzt von Friedrich Heinrich von Schönberg auf Zschaiten, Druckts Johann Christoph Krause, Dresden: 1751 S. 108f.
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"Trunkenheit, Hofnung und Schlaf. wodurch Menschen sich selbst gegen die Übel bewafnen"
Notiz von Immanuel Kant, etwa 1770 (Link)

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Dank:
Ich danke Michael Oberst für den Hinweis auf dieses verkürzte Zitat.