Zu diesem Resultat kamen die Expertinnen und Experten von 'Hannah.Arendt.net', der 'Zeitschrift für politisches Denken', in ihrem Artikel: "'Arme Hannah' oder Die Karriere eines Unzitats" vom Februar 2005 (Link).
Erstmals Hannah Arendt zugeschrieben wurde dieser Satz (allerdings ohne Anführungszeichen) anscheinend von Klaus Naumann im April 1993 in der ZEIT:
2. April 1993
- "Was also ist Politik? Angewandte Liebe zur Welt, könnte man mit Hannah
Arendt antworten. Und Welt ist, was zwischen den Menschen entsteht. 'Wo immer Menschen zusammenkommen, schiebt sich Welt zwischen sie, und es ist in diesem Zwischen-Raum, daß alle menschlichen Angelegenheiten sich abspielen.' "
Klaus Naumann: "Ein prekäres Gut." DIE ZEIT 14/1993, 2. April 1993 (Link)
Hannah Arendt:
- "Jedenfalls ist das Motiv, die Last des irdisch Politischen auf sich zu nehmen, die Liebe zum Nächsten und nicht die Furcht vor ihm."
Hannah Arendt: Was ist Politik? Herausgegeben und kommentiert von Ursula Ludz. Vorwort von Kurt Sontheimer. Piper Verlag, München: 1993, S. 64 (Link)
Zwei Monate nach dem Erscheinen des ZEIT-Artikels zu Hannah Arendt, beim Essener Sonderparteitag am 25. Juni 1993, erklärt Johannes Rau Klaus Naumanns angebliches Hannah-Arendt-Zitat zu einem Grundsatz seiner Politik, wie der Journalist Ulrich Rosenbaum in seiner Biographie Rudolf Scharpings berichtet hat:
25. Juni 1993
- "Rau, der
Interimsvorsitzende seit dem Rücktritt von Engholm, mahnt an, daß die
SPD 'Schutzmacht der kleinen Leute' bleiben müsse. 'Wir tun', sagt er,
'unsere Arbeit nicht um unserer Programme willen und auch nicht um
unserer Karrieren willen, sondern wir tun sie, weil wir den Alltag der
Menschen zum Besseren verändern wollen.' Und er zitiert Hannah Arendt:
'Politik ist angewandte Liebe zur Welt.' Sicher eine Idealvorstellung,
das Sonntagsbild von einem Politiker, aber auch bewußt als Meßlatte für
den künftigen Parteichef gesetzt.
"Ulrich Rosenbaum: "Rudolf Scharping" Ullstein Verlag: 1993, Online: ulrichrosenbaum.de
Johannes Rau:
2006- "Da habe ich gelernt, daß Politik, wie das
Hannah Arendt immer gesagt hat, angewandte Liebe zur Welt ist. Also
nicht eigene Karriere, sondern Ziele haben, vorgeben, durchsetzen, dabei
die Menschen mitnehmen - das war immer mein Prinzip."
"Politik ist angewandte Liebe zur Welt", Letztes Interview von Johannes Rau mit dem Rundfunk-Sender Radio Wuppertal, Welt am Sonntag, 29. Januar 2006 (Link)
Auch Franz Münetefering hat dieses Zitat in einer etwas veränderten Variante gerne in einigen Reden verwendet und erklärt, warum dieses Zitat seine Auffassung von verantwortungsbewusster Politik besonders gut ausdrückt:
Franz Münetefering:
2008
- "Hannah Arendt hat zur Politik
das Schönste formuliert, was ich dazu kenne: Politik ist
angewandte Liebe zum Leben. Gut, da schwingt viel Enthusiasmus mit.
Liebe zum gelungenen Leben. (Es kann ja auch ziemlich elend sein.) Aber
im Kern hat Hannah Arendt recht. Tatsächlich ist Politik die plausible
Antwort auf die Verantwortung, die wir Menschen für uns selbst und für
das Ganze haben. Ist Lust aufs Gestalten, damit Gutes daraus wird.
Politik nicht zwingend als Beruf, aber als Engagement in der
Gesellschaft – für sich selbst und für die Gesellschaft. Beides."
Franz Müntefering: "»Das hat mir gutgetan«: Eine Antwort auf viele Zuschriften – und ein Lob der Politik", Die ZEIT 04/2008, 16. Januar 2008 (Link)
Friedrich Wilhelm Foerster, 1923:
- "So weltfremd es klingen mag (alles Aufbauende klingt heute weltfremd!), es bleibt doch wahr: Echte Politik ist angewandte Liebe, ist die Kunst, eigenes und fremdes Leben dadurch zu verknüpfen, daß man heraustritt aus dem bloßen Einzelinteresse, die Brücken vom Ich zum Du schlägt, sich mit weitblickendem Opfersinne fremder Lebensmöglichkeiten annimmt, sich über fremde Schwierigkeiten den Kopf zerbricht, sich fremdem Geltungsdrange hilfreich erweist und dadurch allein eine Zusammenordnung von Gegensätzen möglich machst."
Friedrich Wilhelm Foerster: "Jugendseele, Jugendbewegung, Jugendziel". Rotapfel-Verlag, Erlenbach-Zürich: 1923, S. 147 (Link)
Der heute vergessene deutsche Philosoph Friedrich Wilhelm Foerster war 1933 bei nationalsozialistischen Ideologen als "undeutscher Geist" so verhasst wie Sigmund Freud, Heinrich Mann, Karl Marx, Alfred Kerr und Kurt Tucholsky.
Bücher Foersters wurden mit der einfältigen Parole: "Gegen Gesinnungslumperei und politischen Verrat, Für Hingabe in Volk und Staat! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Heinrich Friedhelm Förster", am 10. Mai 1933 auf einem Nazi-Scheiterhaufen vor Joseph Goebbels und fanatisierten Studenten in Berlin verbrannt (Link).
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Quellen:
Klaus Naumann: "Ein prekäres Gut." DIE ZEIT 14/1993, 2. April 1993 (Link)
[Klaus Naumann rezensiert 3 Bücher:
Hannah Arendt: Was ist Politik? Herausgegeben und kommentiert von Ursula Ludz. Vorwort von Kurt Sontheimer. Piper Verlag, München: 1993
Wolfgang Heuer: Persönliche Integrität und politisches Handeln. Eine Rekonstruktion des politischen Humanismus. Akademie Verlag, Berlin: 1992
Die Zukunft des Politischen: Ausblicke auf Hannah Arendt. Hrsg. von Peter Kemper. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main: 1993]
[Klaus Naumann rezensiert 3 Bücher:
Hannah Arendt: Was ist Politik? Herausgegeben und kommentiert von Ursula Ludz. Vorwort von Kurt Sontheimer. Piper Verlag, München: 1993
Wolfgang Heuer: Persönliche Integrität und politisches Handeln. Eine Rekonstruktion des politischen Humanismus. Akademie Verlag, Berlin: 1992
Die Zukunft des Politischen: Ausblicke auf Hannah Arendt. Hrsg. von Peter Kemper. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main: 1993]
"'Arme Hannah' oder Die Karriere eines Unzitats", Februar 2005, Redaktion von hannaharendt.net
(In diesem Artikel werden noch weitere Belege für das angebliche Arendt-Zitat dokumentiert.)
www.treffpunkt-meilen.de/spdbv.html
"Politik ist angewandte Liebe zur Welt", Letztes Interview von Johannes Rau mit dem Rundfunk-Sender Radio Wuppertal, Welt am Sonntag, 29. Januar 2006 (Link)
"Politik ist angewandte Liebe zur Welt", Letztes Interview von Johannes Rau mit dem Rundfunk-Sender Radio Wuppertal, Welt am Sonntag, 29. Januar 2006 (Link)
Franz Müntefering: "»Das hat
mir gutgetan«: Eine Antwort auf viele Zuschriften – und ein Lob der
Politik", Die ZEIT 04/2008, 16. Januar 2008 (Link)
Julius Langbehn: Rembrandt als Erzieher. Hirschfeld, Leipzig; 1890, S. 251 (Link)
Friedrich Wilhelm Foerster: "Jugendseele, Jugendbewegung, Jugendziel". Rotapfel-Verlag, Erlenbach-Zürich: 1923, S. 147 (Link)
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Dank:
Ich danke Tobias Blanken für den Hinweis auf dieses Kuckuckzitat und Ralf Bülow für Korrekturen und den Hinweis auf den Ursprung des Zitats bei Klaus Naumann. Der Redaktion der Zeitschrift "Hannaharendt.net" danke ich für die Dokumentation der Verwendung dieses Zitats von Juni 1993 bis ins Jahr 2005.