Montag, 2. Dezember 2019

"Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun." Richard Wagner (angeblich)

Dieses populärste Richard-Wagner-Zitat ist im Jahrzehnt nach seinem Tod durch Verkürzung eines Satzes aus Richard Wagners Schrift "Deutsche Kunst und Deutsche Politik" entstanden.

Richard Wagner feiert in dieser Schrift das Erwachen des deutschen Geistes im 18. Jahrhundert und die Wiederbelebung der klassischen Antike durch Winckelmann, Lessing, Wieland und Goethe (S. 123f. Link).

 Richard Wagner, 1868:

  • "Hier [im 18. Jahrhundert]  kam es zum Bewußtsein und erhielt seinen bestimmten Ausdruck, was Deutsch sei, nämlich: die Sache, die man treibt, um ihrer selbst und der Freude an ihr willen treiben; wogegen das Nützlichkeitswesen, d. h. das Prinzip, nach welchem eine Sache des außerhalb liegenden persönlichen Zweckes wegen betrieben wird, sich als undeutsch herausstellte. Die hierin ausgesprochene Tugend des Deutschen fiel daher mit dem durch sie erkannten höchsten Prinzipe der Ästhetik zusammen, nach welchem nur das Zwecklose schön ist, weil es, indem es sich selbst Zweck ist, seine über alles Gemeine erhöhte Natur, somit das, für dessen Anblick und Erkenntnis es sich überhaupt der Mühe verlohnt Zwecke des Lebens zu verfolgen, enthüllt; wogegen das Zweckdienliche häßlich ist ..."

    Richard Wagner: "Deutsche Kunst und Deutsche Politik". (1868) Gesammelte Schriften und Dichtungen. Verlag E. W. Fritzsch, Leinpzig: 1873, Band 8, S. 124 (Link)
Zehn Jahre später erklärt Richard Wagner noch einmal seine Interpretation von Kants Formel vom "interesselosen Wohlgefallen" des Schönen (zum Unterschied vom bloß Angenehmen) zur typisch deutschen Eigenschaft:

Richard Wagner, 1878: 

  •  "Als Goethes »Götz« erschien, jubelte es auf: »das ist deutsch!« Und der sich erkennende Deutsche verstand es nun auch, sich und der Welt zu zeigen, was Shakespeare sei, den sein eigenes Volk nicht verstand; er entdeckte der Welt, was die Antike sei [...] Und dieses Bewußtsein sagte ihm, was er zum ersten Male der Welt verkünden konnte, daß das Schöne und Edle nicht um des Vorteils, ja selbst nicht um des Ruhmes und der Anerkennung willen in die Welt tritt: und Alles, was im Sinne dieser Lehre gewirkt wird, ist »deutsch«, und deshalb ist der Deutsche groß ..."

    Richard Wagner: "Was ist deutsch?" Bayreuter Blätter, redigiert von Hans von Wolzogen, Erster Jahrgang 1878, S. 38 (Link);  (Link) 

Elf Jahre nach dem Tod Richard Wagners taucht die Kurzfassung des Zitats erstmals in den digitalisierten Texten auf:

 1894:

  •  "Wagner sagt: 'Deutsch sein heißt eine Sache um ihrer selbst willen treiben.'"

    Ostdeutsche Rundschau, 15. Februar 1894, Außerordentliche Beilage (ohne Seitenzahl) (Link)
Diese Kurzform des Zitats bekommt bald Flügel und wird zum Beispiel auch von Stefan Zweig in einem Brief an Romain Rolland im Jahr 1915 zitiert:

Stefan Zweig, 1915:

  • "Was Wagner für den Deutschen sagte: 'Deutsch sein heißt eine Sache um ihrer selbst willen tun', gilt für alle Menschen aller Nationen."

    Stefan Zweig an Romain Rolland, Wien, 23. August 1915 (Link)
Bei Nationalsozialisten ist das Zitat dann ohne jede Beziehung auf den ursprünglichen idealistischen Weimarer Kontext als nationalistischer Slogan so weit verbreitet, dass Theodor W. Adorno später das verkürzte  Wagner-Zitat "als berühmteste Formel des deutschen kollektiven Narzißmus" bezeichnet: "Unleugbar die Selbstgerechtigkeit des Satzes, auch der imperialistische Oberton, der den reinen Willen der Deutschen dem vorgeblichen Krämergeist zumal der Angelsachsen kontrastiert. (Link)"

Artikel in Arbeit.

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Quellen:
Richard Wagner: "Deutsche Kunst und Deutsche Politik". (1868) Gesammelte Schriften und Dichtungen. Verlag E. W. Fritzsch, Leinpzig: 1873, Band 8, S. 124 (Link)
Richard Wagner: "Was ist deutsch?" Bayreuter Blätter, redigiert von Hans von Wolzogen, Erster Jahrgang 1878, S. 38 (Link);  (Link) 
Ostdeutsche Rundschau, 15. Februar 1894, Außerordentliche Beilage (ohne Seitenzahl) (Link)
Wolfgang Bergem: Identitätsformationen in Deutschland. Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden: 2005, S. 10  books.google  
wikiquote.org/wiki/Diskussion  
universal_lexikon
(Link)
(Link)