Freitag, 26. März 2021

"Manchmal wollen die Menschen die Wahrheit nicht hören, weil sie nicht wollen, dass ihre Illusionen zerstört werden." Friedrich Nietzsche (angeblich)

Pseudo-Friedrich-Nietzsche-Zitat.

Diese Lebensweisheit stammt aus einem Roman des amerikanischen Thriller-Autors William Diehl  und kommt weder so noch so ähnlich in einem Text Friedrich Nietzsches vor.

William Diehl:

1992

  • " 'Right, m’boy,' the Judge answered. 'I’ve also said that sometimes people don’t want to hear the truth because they don’t want their illusions destroyed'."
    William Diehl: "Primal Fear" (EA: 1992) Mandarin,  London: 1993, S. 262  (archive.org)

Ein Jahrzehnt später wird dieser Satz eines Richters aus William Diehls Roman "Primal Fear" in den Sozialen Medien Friedrich Nietzsche untergeschoben, zuerst auf Englisch, 2011 erstmals auf Spanisch, und in den folgenden Jahren auch auf Italienisch, Französisch und Deutsch.

Pseudo-Friedrich-Nietzsche-Zitat.

Chronologie der frühesten falschen Zuschreibungen des Zitats an Friedrich Nietzsche auf Twitter:

2009, Englisch

  • "Sometimes people don’t want to hear the truth because they don’t want their illusions destroyed." (Link)

2011, Spanisch

  • "Alguna gente no quiere escuchar la verdad porque no quiere que se destruyan sus ilusiones"  (Link)

 2012, Italienisch

  • A volte le persone non vogliono sentire la verità, perché non vogliono che le loro illusioni vengano distrutte.  (Link)

2013, Französisch

  • ''Parfois, les gens ne veulent pas entendre la vérité parce qu'ils ne veulent pas que leurs illusions détruites " (Link)

 2014, Deutsch

  • "Menschen wollen die Wahrheit nicht hören, weil sie nicht wollen dass ihre Illusionen zerstört werden."  (Link)

 

Pseudo-Friedrich-Nietzsche-Zitat.
Friedrich Nietzsche hat in seiner Moralkritik die Funktion von Illusionen analysiert, auch das Vergnügen daran, Illusionen zu zerstören, aber die simple Konstatierung, dass Menschen ihre Illusionen lieber sind als eine unangenehme Wahrheit, stammt nicht von ihm.

Man kann sich sicher sein, dass dieses beliebte angebliche Nietzsche-Zitat ein Kuckuckszitat ist, da Nietzsches Werke mehrfach digitalisiert sind und schon einige Leute, auch Experten, vergeblich nach diesem Zitat in seinen Schriften gesucht haben und das Zitat auch in den relevanten Nachschlagwerken nicht verzeichnet ist.

 

Artikel in Arbeit.

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 Quellen:

William Diehl: "Primal Fear" (EA: 1992) Mandarin,  London: 1993, S. 262  (archive.org)
Friedrich Nietzsche: Digitale Kritische Gesamtausgabe der Werke und Briefe, basierend auf der Ausgabe von G. Colli und M. Montinari, Berlin/New York, de Gruyter: 1967ff., hrsg. von Paolo D’Iorio  (nietzschesource.org) 
"Did Nietzsche actually say or write, 'Sometimes people don't want to hear the truth because they don't want their illusions destroyed', Dezember 2017 (philosophy.stackexchange.com/questions) 
dpa-Faktencheck: "Es gibt keinen Beleg dafür, dass die Worte von Nietzsche stammen", 11. Oktober 2019  (presseportal.de)   
Wikiquote: Unsourced 

 
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Dank:
Dank an Zitante Christa für Ihren Hinweis.

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 Anhang

 


Friedrich Nietzsche:

  • "Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen." 

    Friedrich Nietzsche: "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne: § 1, 1873 (Link)

Daraus entsteht der Hang nicht in der Lüge zu leben: Beseitigung aller Illusionen. Aber er wird aus einem Netz in’s andere gejagt. Der gute Mensch will nun auch wahr sein und glaubt an die Wahrheit aller Dinge. 

Ich hatte die Lust an den Illusionen satt. Selbst in der Natur verdross es mich, einen Berg als ein Gemüths-factum zu sehen. — Endlich sah ich ein, dass auch unsre Lust an der Wahrheit auf der Lust der Illusion ruht.


Zerstören der Illusionen. — Die Illusionen sind gewiss kostspielige Vergnügungen: aber das Zerstören der Illusionen ist noch kostspieliger — als Vergnügen betrachtet, was es unleugbar für manchen Menschen ist.  

Die Illusionen haben den Menschen auch Bedürfnisse angezüchtet, welche die Wahrheit nicht befriedigen kann.  

„Illusionen sind nöthig, nicht nur zum Glück, sondern zur Erhaltung und Erhöhung des Menschen: insonderheit ist gar kein Handeln möglich ohne Illusion. 

Unsere Menschen wollen hart, fatalistisch, Zerstörer der Illusionen sein — Begierde schwacher und zärtlicher Menschen, welche das Formlose, Barbarische, Form-Zerstörenden goutiren (z.B. die „unendliche“ Melodie — Raffinement der deutschen Musiker)  

Es ist naiv zu glauben, daß wir je aus diesem Meer der Illusion herauskommen könnten. Die Erkenntniß ist völlig unpraktisch. 

Die Verlogenheit und Illusion, in der der Mensch lebt. Die Lüge und die Wahrheitsrede — Mythus Poesie. Die Fundamente alles Großen und Lebendigen ruhen auf der Illusion. Das Wahrheitspathos führt zum Untergang.   

 

(Bibliographische Angaben folgen.) 

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Montag, 22. März 2021

"Eine Lüge ist bereits dreimal um die Erde gelaufen, bevor sich die Wahrheit die Schuhe anzieht." Mark Twain (angeblich)

Pseudo-Mark-Twain-Zitat.

 Diesen Aphorismus hat noch niemand so oder so ähnlich in einem Text von Mark Twain gefunden, obwohl schon viele Experten danach gesucht haben (quoteinvestigator).

Die Erkenntnis, dass sich Gerüchte und Lügen viel schneller verbreiten als jene Wahrheit, die sie widerlegt, ist schon alt, und wurde von dem irischen Satiriker Jonathan Swift in einem Essay über Lügen in der Politik vor 300 Jahren mit folgenden Worten formuliert: 


Jonathan Swift, 1710:

  • "Die Lüge fliegt, und die Wahrheit humpelt ihr hinterher".
  • "Falsehood flies, and the Truth comes limping after it". (Link)

Die Metapher von der zu langsamen Wahrheit, die sich erst die Stiefel anziehen muss, ist am Anfang des 19. Jahrhunderts in Amerika entstanden und gelangte in den 1880er Jahren in den deutschen Sprachraum. 

Pseudo-Winston-Chuchill-Zitat.

 Alle Zuschreibungen der Metapher an Mark Twain, Thomas Jefferson oder Winston Churchill lassen sich nicht belegen, sind also falsch (quoteinvestigator).

Pseudo-Winston-Chuchill-Zitat.

1882

  • " 'Die Lüge', so meint einmal ein englischer Schriftsteller, 'hat bereits die Reise um die Welt gemacht, ehe die Wahrheit die Stiefel angezogen hat'."
    Eduard Marcour: "War Maria Stuart Gattenmörderin?"  1882, S. 209/21  (Link)

 

1885

  • "Die Lüge geht durch die halbe Stadt,
    ehe die Wahrheit die Stiefel anhat.
    G.W"

    Fliegende Blätter, Band LXXXIII, Nr. 2084-2109, 1885, S. 110   (Link)

Die erste falsche Zuschreibung an  Mark Twain auf Deutsch stammt aus der Übersetzung des journalismuskritischen Buches "Der Sündenlohn: eine Studie über den Journalismus" von Upton Sinclair; Mark Twain war 1921 schon 11 Jahre tot.

In Amerika wurde Mark Twain das Zitat neun Jahre nach seinem Tod erstmals untergeschoben (quoteinvestigator).

1921

  • "Von Mark Twain, glaube ich, stammt das Wort, daß eine Lüge rund um die Erde rennen kann, während die Wahrheit in ihren Schuhen steckt."
    Upton Sinclair: "Der Sündenlohn: eine Studie über den Journalismus", Verlag Der Neue Geist / Dr. Peter Reinhold Leipzig: 1921, S. 55 (Link)

In der Mitte des 20. Jahrhunderts war die Metapher anscheinend auch im deutschen Sprachraum schon so weit verbreitet, dass sie dem Volksmund zugeschrieben wurde.

1942 

  • "Es geht ihr, wie es im Volksmund heißt: Ehe die Wahrheit die Stiefel angezogen hat, ist die Lüge schon dreimal um die Welt gelaufen."
    Peter Ketter: "Die Apokalypse" 1942, S. 192 (Link)

Garson O'Toole hat die Entwicklung des Zitats in Amerika mit vielen Varianten dokumentiert (quoteinvestigator)

Die Lügen fliegen in dem Spruch zuerst von Maine nach Georgia, dann eine Meile, auch hundert Meilen, schließlich um die halbe oder um die ganze Erde und am Ende drei Mal um die Erde.

1820

  • "for falsehood will fly from Maine to Georgia, while truth is pulling her boots on". (Link)

1842

  • "It is said that Falshood runs off, while truth is pulling on its boots". (Link)

1854

  • "On the principle of the popular saying, that 'falsehood will travel a hundred miles while truth is pulling on its boots,’ holders will have entered and taken possession of the new Territories" (Link)

1856

  • "It is said that a lie will go a mile while truth is pulling on his boots".  (Link)

1857

  • "It is well said in the old proverb, 'A lie will go round the world while truth is pulling its boots on.'" (Link)

1895

  • "'A lie will travel round the world while truth is pulling on its boots' is a saying which gives an advantage to the lie." (Link)

 

Pseudo-Mark-Twain-Zitate im 21. Jahrhundert:


  • "Eine Lüge kann den halben Erdball umrunden, während sich die Wahrheit noch die Schuhe zubindet."
  • "Eine Lüge ist bereits dreimal um die Erde gelaufen, bevor sich die Wahrheit die Schuhe anzieht." 
  • "Eine Lüge reist einmal um die Erde, während sich die Wahrheit die Schuhe anzieht."
  • "Eine Lüge ist bereits dreimal um die Erde gelaufen, bevor sich die Wahrheit die Schuhe anzieht."
  • "Die Lüge ist dreimal um die Welt gereist, die Wahrheit bindet sich noch die Schuhe."
  • "Die Wahrheit schnürt sich noch die Schuhe während die Lüge bereits einmal um den Globus ist".
  • "Eine Lüge ist bereits dreimal um die Welt gelaufen, bevor sich die Wahrheit die Schuhe anzieht."
Pseudo-Mark-Twain-Zitat.

     

   

 

 

Artikel in Arbeit

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Quellen: 

 "The Yale Book of Quotations". Edited by Fred R. Shapiro. Foreword by Joseph Epstein, Yale University Press, New Haven and London: 2006, S. 615/168
Ralph Keyes: "The Quote Verifier: Who Said What, Where, and When." St. Martin's Griffin, New York: 2006, S. 121 (Link)
Richard Langworth:  Pseudo-Winston-Churchill-Zitate (richardlangworth.com)
Jonathan Swift: [Artikel ohne Titel] in: The Examiner, Number 15, 2.-9. November 1710, London: 1770, S. 2 (Link)
Jonathan Swift: "Über die Kunst der politischen Lüge", (1710) in: Das Blättchen, 27. Oktober 2014 (Link)
Garson O'Toole: "A Lie Can Travel Halfway Around the World While the Truth Is Putting On Its Shoes: Mark Twain? Jonathan Swift? Thomas Francklin? Fisher Ames? Thomas Jefferson? John Randolph? Charles Haddon Spurgeon? Winston Churchill? Terry Pratchett? Anonymous?" 2014 (quoteinvestigator)
1882: Eduard Marcour: "War Maria Stuart Gattenmörderin?" S. 21, in: Frankfurter zeitgemäße Broschüren, hrsg. von Paul Haffner, Band III, Verlag von A. Foesser, Frankfurt a. M.: 1882, S. 209/21  (Link)
1885: Fliegende Blätter, Band LXXXIII, Nr. 2084-2109, 1885, S. 110   (Link)
1942: Peter Ketter: "Die Apokalypse" Herders Bibelkommentar. Die Heilige Schrift für das Leben erklärt 16/2, Herder, Freiburg in Breisgau: 1942, S. 192 (Link)

 Beispiele für falsche Zuschreibungen an Mark Twain:

Upton Sinclair: "Der Sündenlohn: eine Studie über den Journalismus", Verlag Der Neue Geist / Dr. Peter Reinhold, Leipzig: 1921, S. 55 (Link)
"Harenberg Lexikon der Sprichwörter u. Zitate: mit 50000 Einträgen das umfassendste Werk in deutscher Sprache." (1997) 3. Auflage 2002, Harenberg Verlag, Dortmund: 2002, S. 808
Ingo Reichardt, Anne Reichardt: "Treffende Worte: 3000 Zitate für Führungskräfte." Linde Verlag, Wien: 2003, S. 105 (Link)
Henriette Kuhrt 12.11.2020 (bellevue.nzz.ch)
Imre Grimm 20.02.202 (rnd.de)

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Dank:

Ich danke wieder einmal Garson O'Toole (quoteinvestigator) für seine gründliche Arbeit und dem Historiker Richard Langworth für seine Sammlung falscher Churchill-Zitate (richardlangworth.com).

Samstag, 20. März 2021

"Glück besteht aus einem hübschen Bankkonto, einer guten Köchin und einer tadellosen Verdauung." Jean-Jacques Rousseau (angeblich)


Pseudo-Jean-Jacques-Rousseau-Zitat.

Dieses Bonmot wird dem 1712 in Genf geborenen Philosophen Jean-Jacques Rousseau auf Englisch seit über 100 Jahren unterschoben und auf Deutsch seit etwa 60 Jahren.

In Rousseaus Werken ("Menschen, seid menschlich, das ist eure vornehmste Aufgabe") ist das humoristische Biedermeier-Bonmot, das Rousseaus Vorstellungen von einem glücklichen Leben fernab der besseren Gesellschaft völlig widerspricht, nicht zu finden.

Entstanden ist das Kuckuckszitat offensichtlich durch eine Verwechslung.

In einem amerikanischen Zeitschriften-Artikel mit mehreren Aphorismen zum Begriff "Happiness" taucht das Zitat 1882 das erste Mal auf und wird - direkt nach einem Rousseau-Zitat - dem französischen Autor Edmond About zugeschrieben:


 1882

  • "Freedom from the tyranny of kings and vices: J. J. Rousseau. — A good bank-account, a good cook, and a good digestion: Edmond About."
Happiness, Popular science monthly, 1882, S. 403  (archive.org)

Vier Jahre danach wird dasselbe Zitat in einer anderen amerikanischen Aphorismus-Sammlung nicht mehr Edmond About zugeschrieben, sondern Rousseau, dessen Namen direkt vor dem Zitat stand. Eine Verwechslung.

1886

 
"Tools Of Speech", 1886, S. 203 (archive.org)
 Und seit dieser offenbar irrtümlich falschen Zuschreibung ohne Quellennachweis gilt das Zitat in vielen amerikanischen Zitatesammlungen als Rousseau-Zitat.

Jahrzehnte danach taucht das Kuckuckszitat auch in deutschsprachigen Zitatesammlungen auf und im 21. Jahrhundert sogar in französischen, inzwischen auch in italienischen und spanischen, allerdings nirgendwo in seriösen.


Varianten des falschen Rousseau-Zitats: 

 

  • "Happiness: a good bank-account, a good cook, and a good digestion."
  • "Glück: ein gutes Bankkonto, eine gute Köchin und eine gute Verdauung."
  • "Glück: ein volles Bankkonto, eine hervorragende Köchin und eine gute Verdauung." 
  • "Glück besteht aus einem soliden Bankkonto, einer guten Köchin und einer tadellosen Verdauung."
  • "Glück besteht aus einem hübschen Bankkonto, einer guten Köchin und einer tadellosen Verdauung." 
  • "Le bonheur c'est un bon compte en banque, une bonne cuisinière et une bonne digestion." 
  • "La felicità: un bel conto in banca, un bravo cuoco e una buona digestione. "
  • "Felicidad: una buena cuenta bancaria, un buen cocinero y una buena digestión."
  1. Pseudo-Jean-Jacques-Rousseau-Zitat.

     
    Pseudo-Jean-Jacques-Rousseau-Zitat.


    Pseudo-Jean-Jacques-Rousseau-Zitat.

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Quellen:
 

Popular science monthly, D. Aplleton an Company, New York: 1882, Vol. XXI, May to October 1882, S. 403  (archive.org) 
Isabella Seiger: "J. -J. Rousseau auf der Suche nach dem Glück", Diplomarbeit, Graz: 2009 (pdf) 
 
Beispiele für falsche Zuschreibungen:
Maturin M. Ballou: "Tools Of Speech", Ticknor and Company, Boston: 1886, S. 203 (archive.org)
Egon Jameson: "ABC der klügsten Sätze" Rowohlt, Reinbek bei Hamburg: 1963, S. 80 (books.google) 
Welttag des Glücks: Die Welt, 20. März 2017 (welt.de)
Welttag des Glücks: ZDF, 20. März 2019 (zdf.de)
Weltglückstag: Deutsche Welle, 20. März 2021 (dw.com)


Artikel in Arbeit.

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Dank:

Ich danke Oliver Weber für seinen Hinweis auf das Falschzitat.

Dienstag, 16. März 2021

"Das Leben hat an und für sich nur Nachteile." Thomas Bernhard (angeblich)

Thomas Bernhard hat in einem Gespräch mit dem ORF-Redakteur Kurt Hofmann nicht gesagt, das Leben habe "nur" Nachteile, sondern das Leben an und für sich habe "lauter" Nachteile, was nicht dasselbe ist.  

 

Thomas Bernhard:

  •  "Ich mein', das Leben hat an und für sich lauter Nachteile. Weil in der Jugend ist es scheußlich, und man ist angegriffen, überall, und man hat keinen Halt, und wenn man einen hat, wird einem die Hand sofort abgehackt."

    Kurt Hofmann: "Aus Gesprächen mit Thomas Bernhard", mit Fotos von Sepp Dreissinger und Emil Fabjan (EA: Löcker Verlag: 1988), Erweiterte Ausgabe,  Deutscher Taschenbuch Verlag, München: 1991, S. 40   (Snippet-Link) ; pdf  S. 13 (Link)

 

 

Artikel in Arbeit.

Sonntag, 14. März 2021

"Der Sturm wird immer stärker. Das macht nichts, ich auch!" Pippi Langstrumpf, Astrid Lindgren (angeblich)

 

Pseudo-Astrid-Lindgren-Zitat?

 

Dieses angebliche Pippi-Langstrumpf-Zitat ist anscheinend erst ein paar Jahre alt und vor dem Jahr 2015 in keinem digitalisierten Text zu finden.

Bei einer chronologischen Suche durch die Digitalisate taucht das Zitat im Jahr 2016 erstmals in den sozialen Medien auf, zwei Jahre später auch in Zeitungen und erst seit dem Jahr 2020 auch in Büchern  (Link).


Pseudo-Astrid-Lindgren-Zitat.

Da das Zitat in den digitalisierten Werken Astrid Lindgrens weder auf Deutsch, noch auf Schwedisch oder Englisch zu finden ist und von Beginn an ohne seriösen Quellenangabe verbreitet wurde, ist dieses Zitat mit großer Wahrscheinlichkeit ein Kuckuckszitat. Wer es geprägt hat, ist unbekannt.


Artikel in Arbeit.

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Quellen:

23. November 2016 (Twitter) [Früheste Erwähnung des Zitats auf Twitter.]
Lisa Harmann, Katharina Nachtsheim: "WOW MOM: Der Mama-Mutmacher für mehr Ich in all dem Wir"  Fischer ebook, Frankfurt o.J. (2020) (Link) 

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Dank:

Ich danke Martin Anton Müller für die Aufdeckung dieses Kuckuckszitats.

Samstag, 13. März 2021

"Ich glaube jedem, der die Wahrheit sucht. Ich glaube keinem der sie gefunden hat." Kurt Tucholsky (angeblich)

Pseudo-Kurt-Tucholsky-Zitat.
 

Dieses Pseudo-Kurt-Tucholsky-Zitat ist wohl aus einem berühmten Satz des französischen Autors André Gide entstanden, den zum Beispiel auch der österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky gerne zitierte:


  • "Glaube denen, die die Wahrheit suchen und zweifle an denen, die sie gefunden haben."
    "Croyez ceux qui cherchent la vérité, doutez de ceux qui la trouvent."

Erstausgabe: 1952.

Der weise Ratschlag steht in André Gides autobiographischem Essay "Ainsi soit-il ou Les jeux sont faits", den er in seinen letzten zwei Lebensjahren verfasst hat und der kurz nach seinem Tod erstmals im Jahr 1952 und später als Anhang zu seinen Tagebüchern publiziert wurde.
 
  • André Gide: " Journal 1939-1949. Souvenirs." Librairie Gallimard, Paris: 1954, S. 1233
    (archive.org).

  • "Ich bringe keine Lehre; ich lehne es ab, Ratschläge zu geben, und in einer Diskussion ziehe ich mich schnell zurück. Aber ich weiß, dass heute viele zaghaft ihren Weg suchen und nicht wissen, wem sie vertrauen sollen. Glaube denen, die die Wahrheit suchen, und zweifle an denen, die sie gefunden haben; zweifle an allem, aber zweifle nicht an dir. In den Worten Christi ist mehr Licht als in jedem anderen menschlichen Wort. Dies scheint nicht genug zu sein, um ein Christ zu sein: darüber hinaus muss man glauben. Nun, ich glaube nicht. Nachdem ich das gesagt habe, bin ich dein Bruder."
    André Gide; "Ainsi soit-il ou Les jeux sont faits " (1952) "So Sei Es oder Die Würfel sind gefallen." (1953)

 

Varianten des André Gide-Zitats:

 
  • "Vertrauen Sie denen, die nach der Wahrheit suchen, und misstrauen sie denen, die sie gefunden haben.
  • "Glaube denen, die die Wahrheit suchen, und zweifle an denen, die sie gefunden haben."
  • "vertraue (nur) denen die nach der wahrheit suchen"
  • "Man soll denen vertrauen, die Wahrheit suchen,  aber denen misstrauen, die sie gefunden haben."
  • "Traue jedem, der die Wahrheit sucht. Mißtraue jedem, der die Wahrheit gefunden hat!"
  • "Believe those who are seeking the truth; doubt those who find it."  

 

Kurt Tucholsky wurde der Satz etwas verändert erst im 21. Jahrhundert untergeschoben und ist in seinen Werken nicht zu finden, worauf  Friedhelm Greis, ein anerkannter Kenner von Tucholskys Werken, in seinem Sudelblog aufmerksam gemacht hat.

 Das Kuckuckszitat taucht in diesem Wortlaut erstmals 2006 als Motto in einem Buch über die "Optimale Besteuerung riskanter Einkünfte" (Link) auf und wird seit 2009 in den sozialen Medien und seit 2010 in Zeitungen  verbreitet.

Inzwischen gilt der Satz in einigen Online-Zitate-Sammlungen als Kurt-Tucholsky-Zitat und wird auch in Texten gegen Fake-News, also in Texten, die wissenschaftliche Redlichkeit verteidigen wollen, Kurt Tucholsky unterschoben (Link).

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Dass die Suche nach der Wahrheit mehr wert ist als ihr Besitz, hat Gotthold Ephraim Lessing einmal postuliert, und Albert Einstein, Goethe, Kierkegaard sowie Hannah Arendt haben ihm zugestimmt.


Gotthold Ephraim Lessing: "Eine Duplik", 1778

  •  "Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Werth des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz –.

    Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: 'Wähle!' ich fiele ihm mit Demuth in seine Linke und sagte: 'Vater gieb! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!'"

    G. E. Lessing: "Über die Wahrheit" (Gutenberg)

 

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Quellen: 

Google  

(archive.org) 

André Gide: "Ainsi soit-il ou Les jeux sont faits " (1952) in:  André Gide: "Journal 1939-1949. Souvenirs." Librairie Gallimard, Paris: 1954, S. 1233 (archive.org).
Friedhelm Greis: "Angebliche Tucholsky-Zitate"  (Sudelblog)
Garson O'Toole: "Believe Those Who Are Seeking the Truth; Doubt Those Who Find It: Václav Havel? André Gide? François Truffaut? Marcel Proust? John Dingell Sr.? Luis Buñuel? Amanda Palmer? Voltaire? Anonymous?", 2013 (quoteinvestigator.com)
Gotthold E. Lessing: "Eine Duplik." (Erstdruck 1778) In: Lessing's sämmtliche Werke, herausgegeben von Richard Gosche, G. Grote'sche Verlagsbuchhandlung, Berlin: 1882, Siebenter Band, S. 286f.
G. E. Lessing: "Über die Wahrheit"(Gutenberg) 
G.K.:  "Die Suche nach Wahrheit ist köstlicher als deren gesicherter Besitz." 2013 (Link)
.wikiquote.org/wiki/Diskussion  [Noch keine Quelle für das Gide-Zitat gefunden.]
 
Beispiele für falsche Zuschreibungen: 

2006: Dirk Schindler: "Optimale Besteuerung riskanter Einkünfte: Das Konzept der Triple Income Tax" Mohr Siebeck, Tübingen 2006, S. 1 (Link) [Das ist die früheste falsche Zuschreibung laut chronologischen Suchen in den digitalisierten Texten. Wie der Autor auf dieses Kuckuckszitat gekommen ist, weiss ich nicht.]
2009: Twitter, 6. Mai 2009 7:30 nachm. (Link)
2010: Kölner Stadt-Anzeiger, Leserforum, 23. Juni 2010 (Link)
2020: Peter Johannes Meier: "Verschwörungsmythen: Das Denken der Anderen", Beobachter, 5. Juni 2020 (beobachter.ch)
 
 
 
 Artikel in Arbeit.
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Dank:
Ich danke Friedhelm Greis für seine Dokumenation falscher Kurt-Tucholsky-Zitate auf seinem auch sonst lesenswerten Sudelblog, Garson O'Toole für seinen gründlichen Artikel zu diesem Zitat und Ralf Bülow für seine Recherchen und seinen Hinweis auf Lessing.
 

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Anhang


  • "Der Umgang mit Wahrheit und Verschwörung reisst offenbar Gräben durch die Gesellschaft. Dagegen hilft vielleicht der Rat des Schriftstellers Kurt Tucholsky (1890–1935): «Ich glaube jedem, der die Wahrheit sucht. Ich glaube keinem, der sie gefunden hat.»"
    Peter Johannes Meier: "Verschwörungsmythen: Das Denken der Anderen" (beobachter.ch)

Dienstag, 23. Februar 2021

"Was nicht trifft, trifft auch nicht zu." Elazar Benyoëtz (Fälschlich oft Karl Kraus zugeschrieben.)

Der Aphorismus "Was nicht trifft, trifft auch nicht zu" stammt von dem österreichisch-israelischen Lyriker und Aphoristiker Elazar Benyoëtz, wie Bernd-Christoph Kämper und M. Wollmann herausgefunden haben.

Mit der falschen Zuschreibung an Karl Kraus hat anscheinend Sozialwissenschaftler  Oskar Negt begonnendie Journalisten Henryk M. Broder und Jan Fleischhauer bevorzugen eine krassere Fassung des falschen Karl-Kraus-Zitats: "Was trifft, trifft auch zu"

Das inzwischen beliebte angebliche Karl-Kraus-Zitat ist weder so noch so ähnlich in den Schriften von Karl Kraus zu finden.

 

Kurze Geschichte des Kuckuckszitats:

Elazar Benyoëtz hat das Zitat in seinem Buch "Worthaltung. Sätze und Gegensätze" 1977 im Münchner Carl Hanser Verlag veröffentlicht: 

1977
  • "Was nicht trifft, trifft auch nicht zu." 
    Elazar Benyoëtz: "Worthaltung. Sätze und Gegensätze." 
    Hanser, München: 1977, S. 9 (Link)
Hans Weigel rezensierte dieses Buch Elazar Benyoëtzs in der FAZ
1977 mit einem Hinweis auf Karl Kraus:
  • "Von naheliegender Beeinflussung durch Karl Kraus (den er gewiß kennt) hält er sich weitgehend fern. Nur ganz wenige seiner Sätze könnten von Kraus sein ('Was nicht trifft, trifft auch nicht zu')." (Link)
Die Feststellung von Hans Weigel in der FAZ, der Aphorismus könnte von Karl Kraus sein, hat vielleicht dazu geführt, dass Oskar Negt und einige andere später irrtümlich meinten, der Aphorismus sei tatsächlich von Karl Kraus. 

Schon ein Jahr nach der Publikation des Aphorismus wird er fälschlich Karl Kraus zugeschrieben:

1978

  • "Karl Kraus hat einmal gesagt: 'Was nicht trifft, trifft auch nicht zu.' Die polemische Schärfe der Kritik ist es nicht, die mich bedrückt."
    "Arbeiterbildung: soziologische Phantasie u. exemplarisches Lernen in Theorie, Kritik u. Praxis." Hrsg. von Oskar Negt, Hans-Dieter Müller und Adolf Brock, Rowohlt, rororo Sachbuch, Reinbek bei Hamburg: 1978, S. 84  (Link)

1984

  • "Wenn Karl Kraus sagt: 'Was nicht trifft, trifft auch nicht zu', dann meint er genau diese durch parteilichen Eingriff in die Verhältnisse vermittelte Wahrheitsfindung."
    Oskar Negt: "Lebendige Arbeit, enteignete Zeit: politische und kulturelle Dimensionen des Kampfes um die Arbeitszeit" Campus Verlag, Frankfurt /New York: 1984, S. 14 (Link)

1987

  • "Dem Satz von Karl Kraus: 'Was nicht trifft , trifft auch nicht zu', gebe ich einen hohen Erkenntniswert."
    Das Argument, Band 29, 1987, Nr. 164-166, S. 495 (Link)

1993 behauptete Oskar Negt in einer Laudatio im SPIEGEL, Rudolf Augstein sei ein "Geistesverwandter" von Karl Kraus und beiden gemeinsam sei das von Kraus formulierte Prinzip: "Was nicht trifft, trifft auch nicht zu". (Link)

 1995

  • "Karl Krauss (!), gewiß einer der schärfsten Zuspitzer und galligsten Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft , hat einmal gesagt: 'Was nicht trifft , trifft auch nicht zu.'" S. 134 (Link)

2007 verteidigt Henryk M. Broder mit diesem Pseudo-Karl-Kraus-Zitat die Moderatorin Eva Herman, allerdings in der Variante: "Was trifft, trifft auch zu" -, und 2010 verteidigt er damit Thilo Sarrazin im SPIEGEL gegen den Vorwurf, rassistisch zu argumentieren.

Den Angestellten des vielgerühmten SPIEGEL-Archivs fällt weder auf, dass der SPIEGEL im Abstand von 14 Jahren zwei verschiedene Versionen des angeblichen Kraus-Zitats druckte, noch, dass beide Versionen in den Schriften von Karl Kraus nicht zu finden sind.

Pseudo-Karl-Kraus-Zitat.

 


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Quellen:
Elazar Benyoëtz: "Worthaltung. Sätze und Gegensätze." Hanser, München: 1977 (Link)
Markus M. Ronner: "Neue treffende Pointen. Ott Verlag, Thun: 1978, S. 272  (Link) [zitiert nach M. Wollmann]
Arbeiterbildung: soziologische Phantasie u. exemplarisches Lernen in Theorie, Kritik u. Praxis. Hrsg. von Oskar Negt, Hans-Dieter Müller und Adolf Brock, Rowohlt, rororo Sachbuch, Reinbek bei Hamburg: 1978, S. 84  (Link)
Oskar Negt: "Lebendige Arbeit, enteignete Zeit: politische und kulturelle Dimensionen des Kampfes um die Arbeitszeit" Campus Verlag, Frankfurt /New York: 1984, S. 14 (Link) 
Das Argument, Band 29, 1987, Nr. 164-166, S. 495 (Link)
Oskar Negt: "Von Menschen und Nachrichten" Der Spiegel 6/1993,  1. November 1993  (Link)
Henryk M. Broder: "Alvin Rosenfeld: Aus kritischer Distanz" 3. März 2007 (henryk-broder.com)
Henryk M. Broder: "Thilo und die Gene. Streitfall Sarrazin: Haben eigentlich alle dasselbe Zeug gekifft?" Der Spiegel, 36/2010, 6. September 2010 (SPIEGEL)
Jan Fleischhauer: "Der Schwarze Kanal: Was Sie schon immer von Linken ahnten, aber nicht zu sagen wagten." Rowohlt, Reinbek bei Hamburg: 2012, digitalbuch (Link)
Henryk M. Broder: "Nehmt Euch in Acht vor den Propagandamedien!"  4. Mai 2016  (achgut.com) 

WikiMANNia



 

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Dank:

Tobias Blanken und Michael Gunzcy verdanke ich den Twitter-Hinweis auf dieses Falschzitat, M. Wollmann und Bernd-Christoph Kämper den Hinweis auf Elazar Benyoëtz.

 

Artikel in Arbeit. Geändert:  15/3 2021; 15/12/2022 (Zusatz Benyoëtz).