Samstag, 13. März 2021

"Ich glaube jedem, der die Wahrheit sucht. Ich glaube keinem der sie gefunden hat." Kurt Tucholsky (angeblich)

Pseudo-Kurt-Tucholsky-Zitat.
 

Dieses Pseudo-Kurt-Tucholsky-Zitat ist wohl aus einem berühmten Satz des französischen Autors André Gide entstanden, den zum Beispiel auch der österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky gerne zitierte:


  • "Glaube denen, die die Wahrheit suchen und zweifle an denen, die sie gefunden haben."
    "Croyez ceux qui cherchent la vérité, doutez de ceux qui la trouvent."

Erstausgabe: 1952.

Der weise Ratschlag steht in André Gides autobiographischem Essay "Ainsi soit-il ou Les jeux sont faits", den er in seinen letzten zwei Lebensjahren verfasst hat und der kurz nach seinem Tod erstmals im Jahr 1952 und später als Anhang zu seinen Tagebüchern publiziert wurde.
 
  • André Gide: " Journal 1939-1949. Souvenirs." Librairie Gallimard, Paris: 1954, S. 1233
    (archive.org).

  • "Ich bringe keine Lehre; ich lehne es ab, Ratschläge zu geben, und in einer Diskussion ziehe ich mich schnell zurück. Aber ich weiß, dass heute viele zaghaft ihren Weg suchen und nicht wissen, wem sie vertrauen sollen. Glaube denen, die die Wahrheit suchen, und zweifle an denen, die sie gefunden haben; zweifle an allem, aber zweifle nicht an dir. In den Worten Christi ist mehr Licht als in jedem anderen menschlichen Wort. Dies scheint nicht genug zu sein, um ein Christ zu sein: darüber hinaus muss man glauben. Nun, ich glaube nicht. Nachdem ich das gesagt habe, bin ich dein Bruder."
    André Gide; "Ainsi soit-il ou Les jeux sont faits " (1952) "So Sei Es oder Die Würfel sind gefallen." (1953)

 

Varianten des André Gide-Zitats:

 
  • "Vertrauen Sie denen, die nach der Wahrheit suchen, und misstrauen sie denen, die sie gefunden haben.
  • "Glaube denen, die die Wahrheit suchen, und zweifle an denen, die sie gefunden haben."
  • "vertraue (nur) denen die nach der wahrheit suchen"
  • "Man soll denen vertrauen, die Wahrheit suchen,  aber denen misstrauen, die sie gefunden haben."
  • "Traue jedem, der die Wahrheit sucht. Mißtraue jedem, der die Wahrheit gefunden hat!"
  • "Believe those who are seeking the truth; doubt those who find it."  

 

Kurt Tucholsky wurde der Satz etwas verändert erst im 21. Jahrhundert untergeschoben und ist in seinen Werken nicht zu finden, worauf  Friedhelm Greis, ein anerkannter Kenner von Tucholskys Werken, in seinem Sudelblog aufmerksam gemacht hat.

 Das Kuckuckszitat taucht in diesem Wortlaut erstmals 2006 als Motto in einem Buch über die "Optimale Besteuerung riskanter Einkünfte" (Link) auf und wird seit 2009 in den sozialen Medien und seit 2010 in Zeitungen  verbreitet.

Inzwischen gilt der Satz in einigen Online-Zitate-Sammlungen als Kurt-Tucholsky-Zitat und wird auch in Texten gegen Fake-News, also in Texten, die wissenschaftliche Redlichkeit verteidigen wollen, Kurt Tucholsky unterschoben (Link).

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Dass die Suche nach der Wahrheit mehr wert ist als ihr Besitz, hat Gotthold Ephraim Lessing einmal postuliert, und Albert Einstein, Goethe, Kierkegaard sowie Hannah Arendt haben ihm zugestimmt.


Gotthold Ephraim Lessing: "Eine Duplik", 1778

  •  "Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Werth des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz –.

    Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: 'Wähle!' ich fiele ihm mit Demuth in seine Linke und sagte: 'Vater gieb! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!'"

    G. E. Lessing: "Über die Wahrheit" (Gutenberg)

 

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Quellen: 

Google  

(archive.org) 

André Gide: "Ainsi soit-il ou Les jeux sont faits " (1952) in:  André Gide: "Journal 1939-1949. Souvenirs." Librairie Gallimard, Paris: 1954, S. 1233 (archive.org).
Friedhelm Greis: "Angebliche Tucholsky-Zitate"  (Sudelblog)
Garson O'Toole: "Believe Those Who Are Seeking the Truth; Doubt Those Who Find It: Václav Havel? André Gide? François Truffaut? Marcel Proust? John Dingell Sr.? Luis Buñuel? Amanda Palmer? Voltaire? Anonymous?", 2013 (quoteinvestigator.com)
Gotthold E. Lessing: "Eine Duplik." (Erstdruck 1778) In: Lessing's sämmtliche Werke, herausgegeben von Richard Gosche, G. Grote'sche Verlagsbuchhandlung, Berlin: 1882, Siebenter Band, S. 286f.
G. E. Lessing: "Über die Wahrheit"(Gutenberg) 
G.K.:  "Die Suche nach Wahrheit ist köstlicher als deren gesicherter Besitz." 2013 (Link)
.wikiquote.org/wiki/Diskussion  [Noch keine Quelle für das Gide-Zitat gefunden.]
 
Beispiele für falsche Zuschreibungen: 

2006: Dirk Schindler: "Optimale Besteuerung riskanter Einkünfte: Das Konzept der Triple Income Tax" Mohr Siebeck, Tübingen 2006, S. 1 (Link) [Das ist die früheste falsche Zuschreibung laut chronologischen Suchen in den digitalisierten Texten. Wie der Autor auf dieses Kuckuckszitat gekommen ist, weiss ich nicht.]
2009: Twitter, 6. Mai 2009 7:30 nachm. (Link)
2010: Kölner Stadt-Anzeiger, Leserforum, 23. Juni 2010 (Link)
2020: Peter Johannes Meier: "Verschwörungsmythen: Das Denken der Anderen", Beobachter, 5. Juni 2020 (beobachter.ch)
 
 
 
 Artikel in Arbeit.
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Dank:
Ich danke Friedhelm Greis für seine Dokumenation falscher Kurt-Tucholsky-Zitate auf seinem auch sonst lesenswerten Sudelblog, Garson O'Toole für seinen gründlichen Artikel zu diesem Zitat und Ralf Bülow für seine Recherchen und seinen Hinweis auf Lessing.
 

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Anhang


  • "Der Umgang mit Wahrheit und Verschwörung reisst offenbar Gräben durch die Gesellschaft. Dagegen hilft vielleicht der Rat des Schriftstellers Kurt Tucholsky (1890–1935): «Ich glaube jedem, der die Wahrheit sucht. Ich glaube keinem, der sie gefunden hat.»"
    Peter Johannes Meier: "Verschwörungsmythen: Das Denken der Anderen" (beobachter.ch)