Montag, 21. Januar 2019

"Die meisten Menschen wollen die Freiheit nicht wirklich, weil Freiheit Annahme von Verantwortung bedeutet, die meisten Menschen zittern vor solcher Annahme." Sigmund Freud (angeblich)

Pseudo-Sigmund-Freud-Zitat.
  • "Most people do not really want freedom, because freedom involves responsibility, and most people are frightened of responsibility."

 Dieses Zitat wird erst seit etwa 25 Jahren Sigmund Freud untergeschoben und ist in seinen digitalisierten Texten unauffindbar.

Die Vermutung, Menschen fürchteten sich wegen der damit verbundenen Verantwortung vor der Freiheit, hat der irische Dramatiker George Bernard Shaw 1903 in der Komödie "Mensch und Übermensch" durch die fiktive Figur "John Tanner" in aphoristische Form gebracht:

 

George Bernard Shaw:

  • "Freiheit bedeutet Verantwortlichkeit, das ist der Grund, weshalb die meisten Menschen sich vor ihr fürchten."

    George Bernard Shaw: Mensch und Übermensch; übersetzt von Siegfried Trebitsch, 1911 (Link)


Wie die Rechercheure vom Shimer College herausfanden, wurde der fragliche Satz erstmals 1973 in der Karl-Popper-Studie von Bryan Magee in Zusammenhang mit Sigmund Freud gebracht:

 

1973

  • Near the centre of Popper's explanation of the appeal of totalitarianism is a socio-psychological concept which he calls 'the strain of civilization' -- a concept related, as he acknowledges, to that formulated by Freud in Civiliation and its Discontents. We often hear it asserted that most people do not really want freedom, because freedom involves responsibility, and most people are frightened of responsibility. Whether or not this applies to 'most people' there is, I am sure, a vital element of truth in it.
    Bryan Magee: "Popper", (1973) Frank Cass, Abingdon: 1974, S. 87. (Link)

1998 wurde dann in einer Fußnote eines Essays zu Karl Popper irrtümlich behauptet, der Satz aus Bryan Magees Popper-Studie stamme aus Sigmund Freuds Schrift "Das Unbehagen in der Kultur".

Seit 2003 wird das Zitat als Sigmund-Freud-Zitat ohne Hinweis auf dessen Ursprung in einer Karl-Popper-Studie auf Englisch verbreitet.

Pseudo-Sigmund-Freud-Zitat.

Auf Deutsch wird dieses Kuckuckszitat erst seit etwa 2014 Sigmund Freud zugeschrieben.

Pseudo-Sigmund-Freud-Zitat.


Die Behauptung, dieses Zitat über Freiheit und Verantwortung stünde in Sigmunds Freuds 1929  erschienenem Essay "Das Unbehagen in der Kultur" stimmt nicht:

Der Satz ist in dieser Schrift so wenig zu finden wie in irgendeinem anderen digitalisierten Text von Sigmund Freud
(pdf ).


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 Quellen:
George Bernard Shaw: Man and superman. A comedy and a philosophy, Appendix: John Tanner: "The Revolutionist's Handbook and Pocket Companion", Maxims for Revolutionists, Abschnitt: "Liberty and Equality",  (1903) Penguin Books, Middlesex: 1946, S. 273 (Link)
Bryan Magee: "Popper", (1973) Frank Cass, Abingdon: 1974, S. 87. (Link)
Fake Quotes Project des Shimer College: "Freud / Most people do not really want freedom " (Link)

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Sigmund Freud: Studienausgabe, 10 Bände, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main: 1982 
Sigmund Freud: Gesammelte Werke in siebzehn Bänden. Hrsg. von Anna Freud,  Imago Publishing, London: 1941ff., pdf: 


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Dank:
Ich danke den Leuten vom Fake Quotes Project des Shimer College, deren Recherchen ich hier übernehmen konnte.

In Arbeit.

 

Letzte Änderungen: 6/5 2023

"Es gibt Dinge, die wir lernen müssen, bevor wir sie tun können. Und wir lernen sie, indem wir sie tun." Aristoteles

Dieser Aphorismus stammt aus der berühmten Stelle der Nikomachischen Ethik von Aristoteles, in der er erklärt, dass wir gerecht, besonnen und tapfer zu leben genau so erlernen müssen wie ein Handwerk oder eine Kunst: indem wir oft üben. Nur die Regeln zu studieren sei zu wenig.

Für Aristoteles sind Leute, die über Ethik nur groß reden, aber nicht gerecht und besonnen handeln, Pseudophilosophen, wie Kranke, die dem Arzt nur aufmerksam zuhören, aber seine Rezepte nicht befolgen (1105b).

Der Pädagogikkonzept und die Devise "Learning by doing" gehen über den tschechischen Philosophen Comenius auf den Athener Philosophen Aristoteles zurück, wie der Erziehungshistoriker Michael Knoll in seiner Studie zu John Dewey, dem dieser Slogan oft zugeschrieben wird, belegen konnte.

Aristoteles: 

  • "ἃ γὰρ δεῖ μαθόντας ποιεῖν, ταῦτα ποιοῦντες μανθάνομεν"

    Übersetzungsvarianten:

     

  • Denn was wir durch Lernen zu tun fähig werden sollen, das lernen wir eben, indem wir es tun
  • Denn was man erst lernen muß, bevor man es ausführen kann, das lernt man, indem man es ausführt
  • Denn was wir tun müssen, nachdem wir es gelernt haben, das lernen wir, indem wir es tun
  • Denn was wir hervorbringen müssen, nachdem wir es gelernt haben, das lernen wir, indem wir es hervorbringen  
  • For the things we have to learn before we can do them, we learn by doing them
  • Es gibt Dinge, die wir lernen müssen, bevor wir sie tun können. Und wir lernen sie, indem wir sie tun.
 

Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1103a 33 (Link) : (Link)


  • Die Tugenden dagegen erwerben wir, indem wir sie zuerst ausüben, wie es auch für sonstige Fertigkeiten gilt.

    Denn was wir durch Lernen zu tun fähig werden sollen, das lernen wir eben, indem wir es tun: durch Bauen werden wir Baumeister und durch Kithraspielen Kitharisten. Ebenso werden wir gerecht, indem wir gerecht handeln, besonnen durch besonnenes und tapfer durch tapferes Handeln."
    Aristoteles, Nikomachische Ethik, II. Buch, 1 1103a33-1103b1, übersetzt von Olof Gigon

  • ἃ γὰρ δεῖ μαθόντας ποιεῖν, ταῦτα ποιοῦντες μανθάνομεν, οἷον οἰκοδομοῦντες οἰκοδόμοι γίνονται καὶ κιθαρίζοντες κιθαρισταί·[1103b] (1) οὕτω δὴ καὶ τὰ μὲν δίκαια πράττοντες δίκαιοι γινόμεθα, τὰ δὲ σώφρονα σώφρονες, τὰ δ᾽ ἀνδρεῖα ἀνδρεῖοι.
    (Link)

  • For the things we have to learn before we can do them, we learn by doing them, e.g. men become builders by building and lyreplayers by playing the lyre; so too we become just by doing just acts, temperate by doing temperate acts, brave by doing brave acts.
    (Link)

  • Die Tugenden dagegen erlangen wie nach vorausgegangener Tätigkeit, wie dies auch bei den Künsten der Fall ist.
    Denn was wir tun müssen, nachdem wir es gelernt haben, das lernen wir, indem wir es tun. So wird man durch Bauen ein Baumeister und durch Citherspielen ein Citherspieler. Ebenso werden wir aber (1103b) auch durch gerechtes Handeln gerecht, durch Beobachtung der Mäßigkeit mäßig, durch Werke des Starkmuths starkmüthig.
    Übersetzung: Eugen Rolfes (Link)  (Link)
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  • Es ist also richtig gesprochen, daß man durch Handlungen der Gerechtigkeit ein gerechter und durch Handlungen der Mäßigkeit ein mäßiger Mann wird. Niemand aber, der sie nicht verrichtet, ist auch nur auf den Wege, tugendhaft zu werden. Aber der große Haufe gibt sich damit nicht ab, sondern man glaubt schon, wenn man nur hohe Worte redet, ein Philosoph zu sein und so ein braver Mann zu werden. Und so macht man es wie die Kranken, die den Arzt zwar aufmerksam anhören, aber von seinen Anordnungen nichts befolgen. Sowenig also jene bei solchem Heilverfahren körperlich wohl fahren können, können diese es geistig, wenn das ihre Philosophie ist.
    Aristoteles, Nikomachische Ethik (1105b).
 In Arbeit.
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Quellen:
Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. Griechisch-Deutsch, Sammlung Tusculum, übersetzt von Olof Gigon, neu herausgegeben von Rainer Nickel, Patmos Verlag, Artemis u. Winkler, Düseldorf (2001) 2. Auflage 2007  S. 57  (Link)
Nikomachische Ethik, Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung, hrsg. von Hellmut Flashar,  Band 6, übersetzt und kommentiert von Franz Dirlmeier, Akademie Verlag, Berlin: 10. Auflage 1999 (Link)
Michael Knoll: "Von Aristoteles zu Dewey. Zum Ursprung der Maxime "learning by doing""., 2017 (Link)

Andere Übersetzungen:  (Link);   (Link)

Sonntag, 20. Januar 2019

"Eine Woche ist eine lange Zeit in der Politik." Harold Wilson

Harold Wilson konnte sich bei einer Frage nach diesem Zitat im Jahr 1977 - nach seinem Rücktritt als Premierminister - nicht mehr genau erinnern, wann er diesen Satz gesagt hat, aber er bestritt nicht, ihn gesagt zu haben.

Der englische Zitate-Experte Nigel Rees hat den ehemaligen Labour-Premierminister damals befragt und vermutet, dieses schon in den 1970er Jahren weit verbreitete Harold-Wilson-Zitat könnte aus der Zeit der Pfund Sterling Krise im Jahr 1964 stammen.

Nigel Rees weist in seinem Artikel dazu im "Cassell Companion to Quotation" auch auf Vorläufer dieses Spruchs hin:

1866, Joseph Chamberlain:

  • "In Politics there is no use of looking  beyond the next fortnight."
    (Link)

1948, Winston Churchill:

  • "But in war seven months is a long time." (Link)
Wie weit Harold Wilson die Sätze Joseph Chamberlains oder Winston Churchills im Gedächtnis hatte, wissen wir nicht.

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Quellen:
Nigel Rees: Cassell Companion to Quotations, Cassell, London: 1996, S. 575f.
Elizabeth Knowles: "What They Didn't Say: A Book of Misquotations", Oxford University Press, Oxford:  2006,  S. 123 /books.google
Oxford Dictionary of Quotations. Edited by Elizabeth Knowles. Sixth edition. Oxford University Press, New York: 2004, S. 206 (Chamberlain)
Winston S. Churchill: The Second World War, Volume 1, The gathering storm, Cassell u. Co. Ltd, London etc: (1948), 3rd edition 1950, S. 522

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Dank:
Ich danke Tobias Blanken für den Hinweis auf das Wilson-Zitat und Joe Paul Kroll für den Hinweis auf das Churchill-Zitat.

Samstag, 19. Januar 2019

"Der Computer ist die Lösung. Was wir brauchen, ist das Problem." Steve Jobs (angeblich)

Dieser Satz wird nur auf Deutsch Steve Jobs unterschoben, auf Englisch ist dieses angebliche Steve-Jobs-Zitat nicht zu finden. Es ist also wahrscheinlich ein Kuckuckszitat.

1992 wird das Zitat noch so ähnlich dem technologiekritischen Informatiker Joseph Weizenbaum zugeschrieben, seit 1997 manchmal dem Apple-Gründer Steve Jobs.

Joseph Weizenbaum meinte 1982 in einem Interview über die Rolle von Computern in Schulen, seit 20 Jahren denke man nicht ernsthaft über Ausbildung oder Motivation nach, sondern man folge der Einstellung: Wir haben die Lösung, den Computer, und suchen dazu ein Problem (in der Ausbildung).

Joseph Weizenbaum, 1982

  •  "It was a prime example of the general tendency we see in our world (particulary in respect to computers) of having a solution in hand and then looking for the problem."
  • "It's still a solution looking for a problem."
    (Über den Einsatz von Computern in der Pädagogik)
    Interview mit Joseph Weizenbaum, 1982 (Link)

Beispiel für das Kuckuckszitat:

  • "'Der Computer ist die Lösung. Was wir brauchen, ist ein Problem.' So überheblich dieser Satz ist – er stammt vom 2011 verstorbenen Steve Jobs –, so viel Wahrheit liegt in ihm." tagesspiegel.de/, 16. Januar 2019

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Quellen:
Interview mit Joseph Weizenbaum von David Needle, Part II, in: InfoWorld, The Nesweekly for Microcomputer Users, Volume 4, Number 13, 19. April 1982, S. 16 u. 18;  18 (Link)
Konstantin Sakkas: "Die Maschine ist unser Schicksal. Heil oder Unheil? Die Philosophen Franklin Foer und Martin Burckhard streiten über das Wesen der Digitalisierung", Der Tagesspiegel, 16. Januar 2019 tagesspiegel.de
heise.de/tp/features/Der-Philosoph-sollte-Altgriechisch-und-Programmieren-lernen, 19. August 2018
 google.

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Dank:
Ich danke Ralf Bülow sehr für seine Recherchen und den Hinweis auf das Weizenbaum-Interview.


In Arbeit.

Freitag, 18. Januar 2019

"Logik bringt Dich von A nach B. Phantasie überall hin." Albert Einstein (angeblich)

Dieser weit verbreitete Aphorismus wird auf Englisch seit etwa 25 Jahren Albert Einstein  unterschoben, auf Deutsch seit kaum 10 Jahren.
 
In Alice Calaprices Standardwerk "The Ultimate Quotable Einstein" steht dieses Zitat, das 1994 im Usenet aufgetaucht ist, in der Rubrik "Probably Not by Einstein" (auf Seite 481).

Da seit 10 Jahren vergeblich nach einer Quelle für dieses Zitat in den Schriften und Interviews Albert Einstein gesucht wurde, kann man sich inzwischen ziemlich sicher sein, dass dieses angebliche Einstein-Zitat - so wie Dutzende andere - ihm fälschlich zugeschrieben wird.

Das falsche Zitat hat sich wahrscheinlich aus einem Lob der Phantasie Albert Einsteins entwickelt, das in einem Interview Einsteins aus dem Jahr 1929 überliefert ist:

Albert Einstein, 1929:

  •  "Imagination is more important than knowledge. Knowledge is limited. Imagination encircles the world." 
 
Albert Einstein in einem Interview mit George Sylvester Viereck, 1929 (pdf).
George Sylvester Viereck: "What Life Means to Einstein." Ein Interview mit Albert Einstein, in: The Saturday Evening Post, 26. Oktober 1929, S. 117 (pdf) 

 



 Varianten des Pseudo-Albert-Einstein-Zitats:

 

Pseudo-Albert-Einstein quote.
  • "Logic will get you from A to B. Imagination will take you everywhere."
 
Pseudo-Albert-Einstein-Zitat.

  • "Logik bringt Dich von A nach B. Phantasie überall hin."
  • "die logik bringt dich von a nach b, die vorstellungskraft bringt dich überall hin."
  • "Logic can get you from A to B, imagination will bring you anywhere."

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Quellen:
Alice Calaprice: "The Ultimate Quotable Einstein", Foreword: Freeman Dyson, Princeton University Press, Princeton and Oxford: 2011, S. 12; 481
George Sylvester Viereck: "What Life Means to Einstein." Ein Interview mit Albert Einstein, in: The Saturday Evening Post, Indianapolis, 26 October 1929, S. 117 (pdf) 
Garson O'Toole:  "Imagination Is More Important Than Knowledge:  Albert Einstein? Apocryphal?",  2013 quoteinvestigator.com/2013
wikiversity.org/wiki/Talk:Albert_Einstein_quote 
 hoaxes.org/
 
Frühe Erwähnungen des Falschzitats:
1994: groups.google
1998: groups.google
Weitere Beispiele für falsche Zuschreibungen:
zitatezumnachdenken.com/albert-einstein/10474
euronews.com/2017/05/30
goodreads.com/quotes/7767384
gutezitate.com/zitat/149732
bbc.co.uk/
Twitter
Google

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Dank:
Ich danke Zitante Christa für den Hinweis auf dieses Falschzitat.