Mittwoch, 24. Mai 2017

"Kultur beginnt im Herzen jedes einzelnen." Johann Nestroy (angeblich)


Pseudo-Nestroy quote.
Dieses Pseudo-Nestroy-Bonmot ist zu unwitzig und entschieden zu wenig boshaft, um von Nestroy stammen zu können.

 Es ist erst ungefähr zehn Jahre alt, aber durch die Erwähnungen in vielen Online-Zitasammlungen ziemlich erfolgreich.

Das erste Mal taucht es anscheinend 2007 im Ruhrpott auf; ob es dort geprägt oder aus einer anderen Quelle übernommen wurde, kann ich nicht sagen.

In den Schriften Nestroys ist es so wenig zu finden wie in irgendeinem anderen Text vor dem 21. Jahrhundert. Der Autor oder die Autorin des Spruchs ist unbekannt.

  • 2007: "Ruhr-Guide", Online-Magazin für das Ruhrgebiet:
    "Kultur beginnt im Herzen jedes Einzelnen"
    Ruhrpott - Essen, Kulturhauptstadt 2010 - da stellte sich für die Macher der Pottgestalten zwangsläufig die Frage: Was ist Kultur? Jan Bahrenberg: "Unserer Meinung nach hat jeder Mensch seine eigene Kultur, die einem stetigen Wandel unterliegt. In jedem Fall wird Kultur von Menschen gestaltet. Kultur ist was jeder Einzelne von uns jeden Tag denkt, fühlt, macht und wünscht. Deshalb auch die Konzentration auf den 'Wunsch' als individuelle Zielvorstellung. Aufgrund dieser Überlegungen fanden wir das Zitat von Nestroy sehr passend." (Link)


Um an den originalen Sound von Nestroys Sprache zu erinnern, seien hier noch drei Sätze des Satirikers und Dramatikers Nestroy zur Kultur, die wirklich von ihm sind, zitiert:



  • "wir müssen allein seyn, wir sind Liebende; wo noch gar keine Cultur is, dort is es für uns am Schönsten."
  • J.N. Nestroy: "Heimliches Geld, heimliche Liebe", 1853

  • "Wien zum Beyspiel war vor 2000 Jahren eine kleine römische Stadt, hatte wohl römische Kultur aber noch keine Vorstädte;"
    J.N. Nestroy: "Die schlimmen Buben in der Schule", 1847


  • "Wenn der Urwald der Unwissenheit noch durch keine Axt der Kultur gelichtet, die Prärie der Geistesflachheit noch durch keine Ansiedlung von Wissenschaft unterbrochen ist, wenn auf den starren Felsen der Albernheit die Gedanken wie Steinböck’ herumhupfen und das Ganze von keiner augenblendenden Aufklärungssonne bestrahlt, sondern nur von dem Mondlicht der Liebe ein wenig bemagischt wird – das wird doch, hoff’ ich, unbändig romantisch sein!"
    J.N. Nestroy: "Heimliches Geld, heimliche Liebe", 1853
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Quellen:
Google-Statistik: "Ungefähr 1 140 Ergebnisse"
"Ruhr-Guide", Online-Magazin für das Ruhrgebiet: "pottgestalten.net", 2007 (?) (Link)
Johann Nestroy: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Deuticke, Jugend und Volk, Wien:  1977-2003 (Link)
Johann Nestroy: "Heimliches Geld, heimliche Liebe", 1853 (Stücke 32, 5/1–102/27)
Johann Nestroy: "Die schlimmen Buben in der Schule", 1847 (Stücke 25/I, 5/1–47/37)

Samstag, 20. Mai 2017

"Wo, wenn nicht in der Politik, dürfen wir Wunder erwarten?" Hannah Arendt (angeblich)

Pseudo-Hannah-Arendt quote.
Ministerpräsident Wienfried Kretschmann meinte, Hannah Arendt habe immer gesagt, "Wo, wenn nicht in der Politik, dürfen wir Wunder erwarten?" (Link), und der ehemalige österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel hat dieses Zitat als Motto für sein Buch, "Das Jahrhundert wird heller", erwählt. Das ist ein stark verkürztes, entstelltes Zitat, das den wichtigen Teil des Satzes von Hannah Arendt über die Freiheit als notwendige Bedingung für politische Wunder unterschlägt.
Hannah Arendt, "Was ist Politik?", S. 35
  • „Wenn der Sinn von Politik Freiheit ist, so heißt dies, dass wir in diesem Raum – und in keinem anderen –  in der Tat das Recht haben, Wunder zu erwarten. Nicht weil wir wundergläubig wären, sondern weil die Menschen, solange sie handeln können, das Unwahrscheinliche und Unerrechenbare zu leisten imstande sind und dauernd leisten, ob sie es wissen oder nicht.“
    Hannah Arendt, "Was ist Politik?", S. 35
  • „Das  Wunder  der  Freiheit  liegt  in  diesem  Anfangen-Können  beschlossen,  das  seinerseits   wiederum  in  dem  Faktum  beschlossen  liegt,  dass  jeder  Mensch,  sofern  er  durch  Geburt  in  die  Welt   gekommen ist, die vor ihm da war und nach ihm weitergeht, selber ein neuer Anfang ist.“
    Hannah Arendt, "Was ist Politik?", S. 24

  • Bild-Zeitung, 1. September 2011:
    "Hannah-Arendt-Expertin Antonia Grunenberg (63) ist beeindruckt, dass ein Ministerpräsident so kenntnisreich über die Philosophin spricht. Die Professorin zu BILD: „Sie ist sein intellektueller Jungbrunnen. Mit ihr versucht er, das übliche Verwaltungs-Deutsch eines Politikers zu durchbrechen.“  Der MP versuche, mit einfacher Sprache Arendt allen verständlich zu machen.  Denn, was viele nicht wissen: Das Zitat mit den Wundern in der Politik (s.o.) stammt so gar nicht von Arendt ..."
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Quellen:
Markus Decker: "Was ich dir immer schon mal sagen wollte: Ost-West-Gespräche." Ch. Links Verlag, Berlin: 2015,  Gespräch mit Kretschmann
Silke Walter: "BILD erklärt die Autorin Hannah Arendt. Die Muse des MP Kretschmann." Bild-Zeitung Regional, Stuttgart: 1. September 2011 (Link)
Wolfgang Schüssel: "Das Jahrhundert wird heller. Begegnungen und Betrachtungen." Amalthea, Wien:  2015
Seyla Benhabib: "Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne." Suhrkamp, stw1797, Frankfurt am Main: 2006
Hannah Arendt: "Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass." Hrsg. von Ursula Lutz. Piper, München / Zürich: 1993
Otfried Höffe: "Politische  Ethik im Gespräch mit Hannah  Arendt." In: "Die Zukunft des Politischen. Ausblicke  auf Hannah Arendt." Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt: 1993
Annette Schavan: „Der Sinn von Politik ist Freiheit.“ Hannah-Arendt-Tage 2006, Hannover: 14. Oktober 2006  (pdf)
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Ich danke Frank Richter Thomas Stern und Ralf Bülow für ihre Hinweise auf Twitter.

Foto: GK

"Wenn sie kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen essen." Marie Antoinette (angeblich)

Dieser berühmte Zynismus wurde der französischen Königin Marie Antoinette 50 Jahre nach ihrem Tod erstmals unterschoben.

Erstmals notiert hat den Spruch Jean-Jacques Rousseau in dem Abschnitt "1737-1741" seiner 1769 fertig gestellten Autobiographie "Les Confessions":
  • "Endlich erinnerte ich mich des Auskunftsmittels einer großen Prinzessin, der man sagte, die Bauern hätten kein Brot, und die antwortete: »Sie können ja Kuchen essen.«"

    Jean-Jacques Rousseau: Bekenntnisse, Erster Theil, Kapitel 11, übersetzt von H. Denhardt (Link)

Da Marie-Antoinette, die Tochter Kaiserin Maria Theresias, erst 1755 geboren wurde, kann sie mit "dieser großen Prinzessin" von Rousseau nicht gemeint gewesen sein.

In Russland gilt Katharina die Große als Rousseaus geheimnisvolle "große Prinzessin".

Varianten:

  • "Enfin je me rappelai le pis-aller d’une grande princesse à qui l’on disait que les paysans n’avaient pas de pain, et qui répondit: Qu’ils mangent de la brioche." 1769
  • "Endlich erinnerte ich mich des Auskunftsmittels einer großen Prinzessin, der man sagte, die Bauern hätten kein Brot, und die antwortete: »Sie können ja Kuchen essen.«
  • "Let them eat cake."
  • "Qu'ils mangent de la brioche."

Marie Antoinette hat diesen Ausspruch nie getan; erstmals unterschoben wurde er ihr von Alphonse Karr in seiner satirischen Zeitschrift "Les guêpes" ("Die Wespen") im März 1843, S. 85f. (pdf)

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 Quellen:
Véronique Campion-Vincent, Christine Shojaei Kaw: "Marie-Antoinette et son célèbre dire: deux scénographies et deux siècles de désordres, trois niveaux de communication et trois modes accusatoires", Annales historiques de la Révolution française, Paris: 2002, S. 29-56 (pdf)
"Rousseaus Bekenntnisse", 1. Teil, übersetzt von H. Denhardt, Reclam, Leipzig: 1948, Abschnitt "1737-1741",  (Gutenberg)
Wikipedia: "Let them eat cake."
Habsburger.net: Martin Mutschlechner: "Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie doch Kuchen essen!"

"Wenn du zum Weibe gehst, vergiss die Peitsche nicht!" Friedrich Nietzsche (angeblich)

Lou Andreas-Salomé mit Peitsche, Paul Rée und Friedrich Nietzsche als Pferde; Foto: Jules Bonnet, Luzern:1882.

Dieser Ratschlag ist wahrscheinlich der bekannteste Satz von Friedrich Nietzsche, und wird von misogynen Männern, die nie ein Buch von Friedrich Nietzsche gelesen haben, gerne zitiert. Dieser Satz, der etwas anders in Nietzsches "Also sprach Zarathustra" steht, ist Rollenprosa, drückt also nicht die Meinung des Autors aus, sondern die einer Figur in einer Dichtung, hier die einer alten Frau (einem "alten Weiblein"), die Zarathustras Gedanken über Frauen lobt und am Ende ihres Treffens ihm noch den Ratschlag mit auf den Weg gibt: "Du gehst zu Frauen? Vergiß die Peitsche nicht!–"
Korrekt zitiert müsste das Zitat also lauten:
  • "Du gehst zu Frauen? Vergiß die Peitsche nicht! –"
    'Altes Weiblein' zu 'Zarathustra', in: Friedrich Nietzsche: 'Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen', Teil 1, 'Von alten und jungen Weiblein'".
Diese Szene lebt von privaten und literarischen Anspielungen, die einer plump misogynen Interpretation widersprechen. Die mittelalterliche Fabel, wie der alte Aristoteles von einer jungen Frau namens Phyllis, in die er närrisch verliebt ist, gedemütigt wird, war wahrscheinlich der Hintergrund für die Inszenierung des berühmten Fotos von Friedrich Nietzsche mit der damals 21-jährigen genialischen Freundin Lou Andreas-Salomé und der Peitsche in ihrer Hand.

In der Fabel wird Aristoteles von seiner Angebeteten überredet, sich wie ein Pferd satteln zu lassen. Der große Philosoph hofft, dadurch die Frau seinen sexuellen Wünschen gefügig zu machen und ahnt nicht, dass er beobachtet und von Phyllis zum Gespött am Hof gemacht wird. Die junge Frau hat dem weisen Aristoteles bewiesen, dass er selbst nicht auf der Höhe seiner weisen Ratschläge für Verliebte zu leben vermag.

Die  Geschichte der Entlarvung des weisen Aristoteles durch Phillis als liebestollen Narren ist seit dem Mittelalter  in mehreren Varianten überliefert und war auch der Stoff von Émile Pessard Opéra-comique "Le Char", die vier Jahre vor dem Foto Nietzsches mit der peitschenschwingenden Lou Andreas-Salomé uraufgeführt wurde.
Das Plakat zur Pariser Uraufführung der Opéra-comique "Le Char" von Émile Pessard könnte ein Vorbild für das Foto von Lou Andreas-Salomé mit Paul Rée und Friedrich Nietzsche gewesen sein.
Aristoteles als Zugpferd auf einem Plakat zur Uraufführung der Opéra-comique "Le Char" von Émile Pessard, Paris, 1878.

Lucas van Leyden: "Aristoteles und Phyllis", 1520, kolorierter Holzschnitt.


Hans Baldung Grien: "Weibermacht",  Phyllis reitet auf Aristoteles, Holzschnitt, 1513.
In der Luzerner Fotoinszenierung von 1882 spielen Nietzsche und sein Freund Rée ein Pferdegespann, das unter der Peitsche der gar nicht bedrohlich wirkenden jungen Frau steht, in die beide Männer tatsächlich sehr verliebt sind.

Im Fotatelier von Jules Bonnet kümmert sich Nietzsche  "in übermütiger Stimmung"  (Lou Andreas-Salomé) um jedes Detail und schmückt zum Beispiel die Peitsche mit einem (auf dem Foto nicht erkennbaren) Fliederzweig.

Als Nietzsche den ersten Teil von Zarathustra schreibt, ist es mit der Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft mit Lou Salomé vorbei, und in seiner Dichtung gibt Friedrich Nietzsche die Peitsche keiner Frau mehr in die Hand, sondern lässt eine alte Frau dem einsamen Berg-Eremiten Zarathustra den Ratschlag geben, sich vor einer Begegnung mit Frauen mit diesem Dressurwerkzeug zu wappnen. Der alten Frau legt Nietzsche eine Neufassung des mittelalterlichen florentinischen Sprichworts: "buona femmina e mala femmina vuol bastone" (Gute Frauen und schlechte Frauen brauchen den Stock) in den Mund.

Nietzsches Schwester Elisabeth erkennt sich später selbst in der Figur des "alten Weibleins" karikiert, weil sie ihrem Bruder auch einmal den Rat gab, strenger gegen "in Trieben und Charakteren ungebändigte Frauen" zu sein und metaphorisch von der "Peitsche" sprach, die "nicht tugendhafte" Frauen nötig hätten.

In der Nietzsche-Forschung wird Elisabeth Förster-Nietzsches Erinnerung skeptisch betrachtet, weil sie das Foto mit Lou Andreas-Salomé unterschlägt.
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Anmerkung:
Zur Fotografie Nietzsches mit Lou Andreas-Salomé wurde schon viel Unsinn geschrieben, zum Beispiel von Bazon Brock:
  • "Sie zeigt die Studio-Inszenierung eines lebenden Bildes, in der Lou Andreas Salomé als peitschende Lenkerin ihrer beiden Zugpferde, Nietzsche und Paul Rée, erscheint – eine karikierende Anspielung auf Helios und die Rosse des Sonnenwagens; die Sonne ist bekanntlich im Deutschen weiblich. Andererseits ist nicht zu übersehen, daß die Inszenierung auf das seinerzeit populäre Thema für lebende Bilder „Frauen bändigen die unbändige Lust der Männer, indem sie sie unter das Zugtierjoch spannen“ anspielt. Gerade die Differenz von strahlendem Sonnenwagen der Liebe und dem Ehegespann im Alltagstrott, von himmelhochjauchzend und den Mühen der Ebene, eröffnete einen weiten Spielraum der Interpretation, ohne das Risiko, jemanden unmittelbar zu kränken." (Link)
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Quellen:
Friedrich Nietzsche: "Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen." 1883–1885,  Zeno.org
 Lou Andreas-Salomé: "Lebensrückblick – Grundriß einiger Lebenserinnerungen." Aus dem Nachlaß hg. v. Ernst Pfeiffer, Niehans, Zürich: 1951; Nachdruck: Severus Verlag, Hamburg: 2013, S. 100 (Link)
Walter Kaufmann: "Nietzsche: Philosopher, Psychologist, Antichrist." Princeton University Press, Princton: 1974 
Ludger Lütkehaus: "Geschlechterwirren. «Vergiss die Peitsche nicht!»", in: Neue Zürcher Zeitung,  10. Mai 2013  (Link)
Curt Paul Janz: "Friedrich Nietzsche. Biographie". Band 1: "Kindheit, Jugend, die Basler Jahre"; Band 2: "Die zehn Jahre des freien Philosophen"; Band 3: "Die Jahre des Siechtums. Dokumente, Quellen und Register", Carl Hanser-Verlag, München: 1978–1979.
Bazon Brock: "Lustmarsch durchs Theoriegelände – Musealisiert Euch!" 2008 (Link)
Elisabeth Förster-Nietzsche: "Friedrich Nietzsche und die Frauen seiner Zeit", (EA 1935) Servus Verlag, Hamburg: 2014, S. 10ff. (Link) 
Carol Diethe: "Vergiss die Peitsche. Nietzsche und die Frauen", Europa Verlag, Hamburg/ Wien: 2000
Mario Leis: "Frauen um Nietzsche", Rowohlt Verlag, Reinbek: 2000, S. 7, 75, 162

Letzte Änderung: 28/9 2018

"Ich trinke, um meinen Kummer zu ertränken, aber jetzt hat er das Schwimmen gelernt." Frida Kahlo (angeblich)

Frida Kahlo attributed this joke to her friend, the poet José Frías.
Frida Kahlo schreibt diesen Satz 1938 an Ella Wolfe, aber ihr Biograf Hayden Herrera, der diesen Brief zitiert, sagt in einer Anmerkung seiner 1983 erschienen Biographie, dass Frida Kahlo den Spruch von ihrem Freund, dem Dichter José Frías, gehört habe.
  • "Ich trinke, um meinen Kummer zu ertränken, aber jetzt hat er das Schwimmen gelernt."
  • “I drank because I wanted to drown my sorrows. But now the damned things have learned to swim."
  • “I drank because I wanted to drown my sorrows. But now the damned things have learned to swim, and now decency and good behavior weary me.”
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Quellen:
Hayden Herrera: "Frida: A Biography of Frida Kahlo", 1983, S. 197 (zitiert nach Wikquote)
Wikiquote: Frida Kahlo
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Ich danke Xoph da Prof für den Hinweis.

"Der Skandal fängt da an, wo die Polizei ihm ein Ende macht." Karl Kraus (angeblich)

Das ist die Version eines Satzes von Karl Kraus, die Henryk M. Broder in seinem Buch "Vergesst Auschwitz!: Der deutsche Erinnerungswahn und die Endlösung der Israel-Frage" in diesem Wortlaut gebracht hat (Link).

Er hat ein Wort dazu gegeben und eines verändert: "da" ist neu und statt "wo" gehört "wenn". Karl Kraus hat auch wegen eines fehlenden Kommas von Zeitungen Berichtigungen verlangt, er  wäre also auch mit dieser schlampigen Wiedergabe seines Aphorismus nicht zufrieden.

Korrekt lautet das Zitat: 
  • "Der Skandal fängt an, wenn die Polizei ihm ein Ende macht."
    Karl Kraus: Sprüche und Widersprüche, Erstausgabe, 1909

Die allererste Version des Aphorismus steht in dem Essay "Prozeß Veith." (1908) :
  • "Die Unsittlichkeit lebt so lange in Frieden, bis es dem Neid gefällt, die Moral auf sie aufmerksam zu machen, und der Skandal beginnt immer erst dann, wenn »die Polizei ihm ein Ende bereitet«."
    Karl Kraus, 1908

Dieses Zitat wurde schon öfters zum Problem. 1921 findet Karl Kraus folgende Stelle in der "Wiener Allgemeine Zeitung":
  •  »Und in anderem Sinne als der Ausspruch ursprünglich gemeint war, erinnert man sich der Worte Bahrs: »Der Skandal beginnt erst, wenn ihm die Polizei ein Ende macht.«

 Karl Kraus verlangt und bekommt folgende Berichtigung nach § 19 Preßgesetz:
  •  "Es ist unwahr, daß dieser Ausspruch Worte Bahrs sind. Wahr ist vielmehr, daß dieser Ausspruch von Karl Kraus stammt, in dessen Buch »Sprüche und Widersprüche (Kapitel »Moral und Christentum«, S. 50) der folgende Satz steht: »Der Skandal fängt an, wenn die Polizei ihm ein Ende macht.« Karl Kraus."

Die "Wiener Allgemeine Zeitung" bringt diese Berichtigung, allerdings mit der Erklärung, das Zitat sei zwar nicht von Hermann Bahr, aber ursprünglich von Ludwig Thoma, in dessen 1908 publizierter Komödie "Moral" folgender Satz stünde:  »Vergessen Sie nie, daß der Skandal sehr oft erst dann beginnt, wenn ihm die Polizei ein Ende bereitet

Karl Kraus verlangt neuerlich eine Berichtigung, weil Ludwig Thoma seine Erlaubnis hatte, diesen Aphorismus in seine Komödie einzubauen und die Prioritätsfrage durch die Publikationsdaten eindeutig sei.  Nachzulesen ist die unterhaltsame Glosse zu diesem Falschzitat-Casus in der "Fackel" Nr. 561, 1921, S. 73-77.
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Quellen:
"Die Fackel" Online, Österreichische Akademie der Wissenschaften
Karl Kraus: "Die Fackel", 1921, Nr. 561, S. 73-77
Karl Kraus: Sprüche und Widersprüche, Erstausgabe, 1909 
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(Artikel in Arbeit)

"Es gibt Dinge, die so falsch sind, dass nicht einmal das Gegenteil wahr ist." Karl Kraus (angeblich)

Die Wendung, etwas sei so falsch oder so verlogen, "dass nicht einmal das Gegenteil wahr ist", war in Österreich schon vor dem Ersten Weltkrieg in politischen Debatten verbreitet. 

Der Wiener Autor Friedrich Torberg hat diese Wendung in der Formulierung des ungarischen Schriftstellers Ferenc Molnár über einen problematischen Journalisten, der so lüge, "daß nicht einmal das Gegenteil wahr ist" (Link), weiter erzählt und später auch variiert.

Auch in einem Essay Kurt Tucholskys taucht 1927 die Wendung auf: Ein Minister habe "so schlecht gelogen, dass nicht einmal das Gegenteil von dem wahr war, was er sagte." (Link)

1920 schreibt Karl Kraus von Notlügen, "von denen nicht einmal das Gegenteil wahr ist", aber die  ihm zugeschriebene Verallgemeinerung, "Es gibt Dinge, die so falsch sind, dass nicht einmal das Gegenteil wahr ist", stammt nicht von Karl Kraus, sondern wurde ihm seit 1976 (ursprünglich von
Henryk M. Broder) unterschoben.


 1915, Unbekannt
  • "Nach den Lügen des 'Temps', von denen wenigstens das Gegenteil wahr ist, seien jetzt einige andere Lügen vorgeführt, die so dreist sind, daß nicht einmal ihr Gegenteil wahr sein kann."
    "Ein Tag des Weltkrieges" ("Von unserem militärischen Mitarbeiter), Pester Llyod, 11. Mai 1915, S. 3 (Link)


1920, Karl Kraus
  • "Dankbar bin ich keinem dafür, des kann er versichert sein, und die Idee, daß ich auf solche Beute lauere oder das Druckbild einer schändlichen Zeit durchwühle, um michsatirisch zu befriedigen und mit Zeitungspapier mir warm zu machen, gehört zu jenen armseligen Notlügen einer durch meinen Blick beengten Gegenwart, von denen nicht einmal das Gegenteil wahr ist."
    Karl Kraus, 1920

1925, Karl Kraus
  • "Aber im Fall des Herrn Otto Ernst, den ich nie gekannt habe und der nie ein mir bekanntes Wort gegen mich geschrieben hat, ist nicht einmal das Gegenteil wahr."
    Karl Kraus, 1925

1927, Kurt Tucholsky
  • Wenn Ihr Junge in der Schule nicht versetzt wird, dann darf er mit Ihnen nicht ins Theater gehen. Wenn ein Minister seine Aufgabe bis zum blamablen Zusammenbruch verfehlt hat, Fehler auf Fehler gehäuft, gelogen, aber schlecht gelogen, so schlecht gelogen, dass nicht einmal das Gegenteil von dem wahr war, was er sagte, geschoben, aber dumm geschoben, getäuscht, aber unvollkommen getäuscht –: dann geschieht was? Dann fährt er, unwiderruflich, liebe Frau, ins Ausland. Zur Erholung, liebe Frau.
    Kurt Tucholsky (Ignaz Wrobel): "Was soll er denn einmal werden?" Die Weltbühne, 10. Juli 1928, Nr. 28, S. 60 (Link)
 1956, Friedrich Torberg zitiert Ferenc Molnár
  • "Von einem Journalisten, der mit der Wahrheit besonders wüst und willkürlich umsprang, sagte er: 'Ein unverläßlicher Mensch. Er lügt so, daß nicht einmal das Gegenteil wahr ist'."
    Der Monat, Band 9, 1956, S. 62 (Link)
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Quellen:
Google
Pester Llyod, 11. Mai 1915, S. 3 (Link)
Friedrich Torberg, Der Monat, Band 9, 1956, S. 62 (Link)
Kurt Tucholsky (Ignaz Wrobel): "Was soll er denn einmal werden?" Die Weltbühne, 10. Juli 1928, Nr. 28, S. 60 (Link)
Karl Kraus: Die Fackel Nr. 554-556, 1920, S. 47
Karl Kraus: Die Fackel Nr. 686-690, 1925, S. 88
Kurt Tucholsky (Ignaz Wrobel): "Was soll er denn einmal werden?" Die Weltbühne, 10. Juli 1928, Nr. 28, S. 60 (Link)
Henryk M. Broder hat dieses Pseudo-Karl-Kraus-Zitat 1976 unter die Leute gebracht, und später - zum Beispiel 2009 - in einem Interview mit Dominik Betz und Gregor Haschni wiederholt.


(Artikel in Arbeit)