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Montag, 6. Juli 2020

"Derjenige, der zum ersten Mal an Stelle eines Speeres ein Schimpfwort benutzte, war der Begründer der Zivilisation." Sigmund Freud (angeblich)


Pseudo-Sigmund-Freud-Zitat.
In einem Vortrag am 11. Januar 1893 zitiert der 36jährige Sigmund Freud einen englischen Autor, der meinte, dass "derjenige, welcher dem Feinde statt des Pfeiles ein Schimpfwort entgegenschleuderte [...] der Begründer der Zivilisation" war.



Sigmund Freud, 1893

  • "Ein Mensch erfahre eine Beleidigung, einen Schlag oder dergleichen, so ist das psychische Trauma mit einer Steigerung der Erregungssumme des Nervensystemes verbunden. Es entsteht dann instinktiv die Neigung, diese gesteigerte Erregung sofort zu vermindern, er schlägt zurück, und nun ist ihm leichter, er hat vielleicht adäquat reagiert, d. h. er hat so viel abgeführt, als ihm zugeführt wurde. "

  • "Nun gibt es verschie­dene Arten dieser Reaktion. Für ganz leichte Erregungssteigerungen genügen vielleicht Veränderungen des eigenen Körpers, Weinen, Schimpfen, Toben und dergleichen. Je intensiver das psychische Trauma, desto größer ist die adäquate Reaktion. Die adäquateste Reaktion ist aber immer die Tat."

  • "Aber, wie ein englischer Autor geistreich bemerkte, derjenige, welcher dem Feinde statt des Pfeiles ein Schimpfwort entgegenschleuderte, war der Begründer der Zivilisation (1), so ist das Wort der Ersatz für die Tat und unter Umständen der einzige Ersatz (Beichte). Es gibt also neben der adäquaten Reaktion eine minder adäquate."

    Sigmud Freud: "Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene", Vortrag, gehalten von Dr. Sigm. Freud in der Sitzung des »Wiener med. Club« am 11. Januar 1893. Vom Vortr. revidiertes Original-Stenogramm der Wiener Med. Presse.1893 (Link); (Textlog.de)

Diese Paraphrase eines Aphorismus eines englischen Autors wurde später in verschiedenen Variationen dem Gründer der Psychoanalyse selbst zugeschrieben, obwohl Freud ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass er diesen Aphorismus nicht selbst geprägt hat.

Die Variante mit dem "Speer" stammt offenbar aus einer Rückübersetzung aus dem Englischen.


  • "But, as an English writer has wittily remarked, the man who first flung a word of abuse at his enemy instead of a spear was the founder of civilization. Thus words are substitutes for deeds, and in some circumstances (e.g. in Confession) the only substitutes."

    Sigmund Freud, übersetzt von [...] google.books

Der von Sigmund Freud genannte geistreiche englische Autor könnte Henry Cockton gewesen sein, dessen Bonmot, "he who was the first to abuse his fellow man, instead of knocking out his brains without a word, laid thereby the basis of civilization", später leicht verändert öfters in englischen medizinischen Zeitschriften zitiert wurde.

Das Bonmot des englischen Autors könnte Sigmund Freud also in einer englischen medizinischen Zeitschrift gelesen haben, und die Pfeil-Metapher im Bonmot könnte in der deutschen Paraphrase des Zitats von Sigmund Freud selbst stammen.




1840

  • "If he who was the first to abuse his fellow man, instead of knocking out his brains without a word, laid thereby the basis of civilization, it as naturally as possible follows, that the more Inighly civilised we become , the more bitterly abusive we must be ..."
    Henry Cockton: "The Life and Adventures of Valentine Vox, the Ventriloquist",  Wiloughby and Co., London: o.J. (1840), S. 299 (google.books)

1879
The Toledo Medical and Surgical Journal, 1879, S. 424 (google.books)


Beispiele für das Falschzitat:


1983
  • "Wenn man Freud zustimmen kann, daß derjenige, der als erster an Stelle eines Speeres ein Schimpfwort benutzte, der eigentliche Begründer der menschlichen Zivilisation war - ..." (Link)
 2012
  • "Derjenige, der zum erstenmal an Stelle eines Speeres ein Schimpfwort benutzte, war der Begründer der Zivilisation. - Sigmund Freud"  (google.books)

2013
  • "Derjenige, welcher dem Feinde statt eines Pfeiles ein Schimpfwort entgegenschleuderte, war der Begründer der Zivilisation. - Sigmund Freud" (google.books)

2013
  • "Mit Worten zu kämpfen ist eine zivilisatorische Errungenschaft, wie Sigmund Freud Anfang des 20. Jahrhunderts treffend zusammenfasste: 'Derjenige, der zum ersten Mal an Stelle eines Speeres ein Schimpfwort benutzte, war der Begründer der Zivilisation.' " (google.books)



Artikel in Arbeit.

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Anmerkung:

Anmerkung (1): "[Wie Andersson (1962, S, 109-10) nachgewiesen hat, ist diese eine Anspielung auf einen Satz von Hughlings Jacksons.]" Freud, Studienausgabe, S. 22

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Quellen:
Sigmud Freud: "Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene", Erstveröffentlichung: Wiener medizinische Presse, Bd. 34 (4), 1893, S. 121-26 und (5), S. 165-67 ["Das Deutsche Original beginnt mit der Zeile: 'Von Dr.  Josef Breuer und Dr. Sigm. Freud in Wien.": Studienausgabe, Band VI, S. 11]  in:
Sigmund Freud: Studienausgabe, Band VI, Hysterie und Angst,  Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main: 1982, S. 22 (Textlog.de)
Henry Cockton: "The Life and Adventures of Valentine Vox, the Ventriloquist",  Wiloughby a. Co., London: o.J. (1840), S. 299 (google.books)
Garson O'Toole: "The Man Who First Flung a Word of Abuse at His Enemy Instead of a Spear Was the Founder of Civilization - Sigmund Freud? An English Writer? Walt Menninger? Joyce Brothers? Robert Byrne? Apocryphal?", 2015 (quoteinvestigator.com)
Garson O'Toole: (listserv.linguistlist.org)
Joel Schwartz: "Freud and Freedom of Speech." The American Political Science Review, vol. 80, no. 4, 1986, pp. 1227–1248, S. 1238, JSTOR, www.jstor.org/stable/1960865. Accessed 6 July 2020.

The Toledo Medical and Surgical Journal, Volume III, Medical Press Association, Toledo: 1879, S. 424 (google.books)

Freud - Jackson (google.books)

Insulting practices: (google.books)


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Dank:
Dank an  aphorismen.de, Garson O'Toole und besonders an Ralf Bülow, der mich auf die Spur von Jackson und Cockton aufmerksam gemacht hat.

Donnerstag, 7. Mai 2020

"Wir streben mehr danach, Schmerz zu vermeiden als Freude zu gewinnen." Sigmund Freud (angeblich)

Pseudo-Sigmund-Freud-Zitat.

Dieses angebliche Sigmund-Freud-Zitat taucht bei chronologischen Suchen erst im Jahr 2001 in den digitalisierten Texten auf, aber nicht in einem Fachbuch mit Quellenangabe, sondern in der Signatur eines Postings in einem Science Fiction Forum.

 2001
  • "Wir streben mehr danach, Schmerz zu vermeiden als Freude zu gewinnen. (Sigmund Freud)" .scifi-forum.de,


Jahrzehnte nach dem Tod einer Autorität tauchen im Usenet und in Foren auf diese Art viele Kuckuckszitate auf und es gibt nach dieser Quellenlage keinen vernünftigen Grund, dieses Zitat im Ernst dem Gründer der Psychoanalyse zuzuschreiben, auch wenn es seit 10 Jahren  auch in Zeitungen und  Büchern Sigmund Freud unterschoben wird.

Entstanden könnte das Sigmund Freud unterschobene Zitat durch  die Verallgemeinerung einer oft zitierten aristotelischen  Maxime aus der Nikomachischen Ethik sein:


Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1152b


  •  ἔτι ὁ φρόνιμος τὸ ἄλυπον διώκει, οὐ τὸ ἡδύ.
    eti ho phronimos to alupon diōkei, ou to hēdu.

  • Ferner, der Kluge trachte nach Schmerzlosigkeit, nicht nach Lust. (Link)
  • Ferner, der Kluge trachte nach Schmerzlosigkeit, nicht nach Ergötzung.
  • The prudent man pursues freedom from pain, not pleasure. (Link)

In den 17 Bänden der gesammelten Werke Sigmund Freuds ist das im Internet durch Online-Zitatsammlungen weit verbreitete Zitat nicht enthalten. Da die Briefe von Sigmund Freud noch nicht vollständig digitalisiert sind, kann man nicht gänzlich auschließen, dass das Kuckuckszitat doch  noch in einem Brief Sigmunds Freud gefunden werden wird, auch wenn es sehr unwahrscheinlich ist.

Twitter, 2020:


  
 


Artikel in Arbeit.


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Quellen:
Google
Sigmund Freud: Studienausgabe, 10 Bände, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main: 1982 
Sigmund Freud: Gesammelte Werke in siebzehn Bänden. Hrsg. von Anna Freud,  Imago Publishing, London: 1941ff.
 freud-edition.net
 freud-edition.net/ueber-projekt
freud-online.de/ 
freud-online.de/Texte/PDF/freud_werke_alle_bd.pdf
Andreas Woyke: Eudämonistik und Willensverneinung: Zwei Seiten der Ethik Arthur Schopenhauers. recenseo, Texte zu Kunst und Philosophie  (Link)
Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1152b (Link)
projekt-gutenberg.org/aristote/nikomach/
perseus.tufts.edu


Beispiele für falsche Zuschreibungen:
scifi-forum.de, 14.12.2001, 17:53, Akira (frühe falsche Zuschreibung)
zeit.de/2011/47/C-Coach
zitate.eu - 29490

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Dank:
Ich danke Wolfgang Gruber für die Aufdeckung des Kuckuckszitats, Marius Fränzel für den Hinweis auf das Aristoteles-Zitat und auch Ralf Bülow für seine Recherchen.

Sonntag, 5. April 2020

"Liebe ist das probateste Mittel, das Schamgefühl zu überwinden." Sigmund Freud (angeblich)

Pseudo-Sigmund-Freud-Zitat.
 Dieser Satz wird laut einer chronologischen Google-Books-Suche Sigmund Freud vier Jahrzehnte nach seinem Tod erstmals zugeschrieben.

In Freuds digitalisierten Werken ist weder die Wendung "das probateste Mittel" noch der ganze Satz zu finden.

Erstmals taucht das Zitat im Jahr 1980 in einer Aphorismensammlung von Lothar Schmidt auf (Link).

Da es  auch in den folgenden Jahren immer ohne Quellenangabe zitiert wird und in der digitalisierten psychoanalytischen Fachliteratur nicht vorkommt, ist es wahrscheinlich so wie viele andere angeblichen Sigmund-Freud-Zitate ein Kuckuckszitat.

Sicher kann man erst sein, wenn auch andere vergeblich nach dem Zitat gesucht haben. Ohne Quellenangabe sollte es jedenfalls nicht mehr Sigmund Freud zugeschrieben werden.


 ___________
Quellen:
Google
Sigmund Freud: Studienausgabe, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main: 1982
Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Hrsg. von Anna Freud,  Imago Publishing, London: 1941ff.
freud-online.de/Texte/PDF/freud_werke_alle_bd.pdf


Lothar Schmidt: Aphorismen von A-Z: das grosse Handbuch geflügelter Definitionen, Drei Lilien Verlag, Wiesbaden: 1980, S. 272 (Link)
 (Link)
aphorismen.de
Rezension spektrum.de

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Dank:
Ich danke Ralf Bülow für seine Recherchen.

Donnerstag, 6. Februar 2020

"Der Verlust der Scham ist das erste Zeichen von Schwachsinn." Sigmund Freud (angeblich)

Pseudo-Sigmund-Freud-Zitat.
Diese Aussage wird Sigmund Freud seit etwa 60 Jahren unterschoben und ist in seinen digitalisierten Schriften weder so noch so ähnlich zu finden. 

Der Psychotherapeut Wolfgang Gruber hat auf Twitter eine Wette angeboten: Wer das angebliche Freud-Zitat in  einem Text Sigmund Freuds nachweisen kann, bekommt von Gruber die siebzehnbändige Ausgabe der Gesammelten Werke Sigmund Freuds (Link) geschenkt.

Die Diagnose, der Verlust des Schamgefühls sei ein Symptom des Idiotismus, war schon zu einer Zeit verbreitet, als der 1856 geborene Sigmund Freud noch kein einziges Wort publiziert hat:


 1877
  • "Hier liegt ein eclatanter Fall von Verlust des Schamgefühls vor, ein Symptom des Idiotismus."

    Musikalisches Wochenblatt, 9. Februar 1877, S. 6 (Link)
1871 war in einem deutsch-nationalistischen Pamphlet zu lesen, der "Verlust des Schamgefühls" wäre typisch für die französische Nation:
  • "Wie endlich der Verlust des Schamgefühls, des Gefühls für Anstand, Zucht und Sitte, für Recht und wahre Ehre so häufig eine Folge von Geistesstörung ist, so haben wir auch dieses Symptom an der französischen Nation zu constatiren."
    (Link)
1910 wird von manchen Psychopathologen der Verlust des Schamgefühls als "sicheres Anzeichen von Schwachsinn oder Entartung" diagnostiziert, aber nicht von Sigmund Freud:

  • "Der beste Schutz vor den Gefahren der Sexualität ist die Schamhaftigkeit, und die Psychopathologie lehrt, daß der Verlust des Schamgefühls ein sicheres Anzeichen von Schwachsinn oder Entartung ist."
    "Die Deutsche Schule", Band 14, S. 796 (Link)

In den 1920er Jahren warnte der profaschistische "Ärzte- und Volksbund für Gesellschaftsethik" vor den Gefahren des Nacktbadens und moderner Theaterinszenierungen mit den Worten: "eines der frühestenen Anzeichen mancher Geisteskrankheiten" ist "der Verlust des Schamgefühls":

1927
  • "Die Gefahren der Nacktkultur.
    ... Ärzte- und Volksbund für Gesellschaftsethik .... In einer Vorstandsitzung des Bundes wurde die Nacktkultur und die Entwicklung unseres Theaterwesens erörtert und darauf hingewiesen, daß eines der frühestenen Anzeichen mancher Geisteskrankheiten der Verlust des Schamgefühls ist."

    Salzburger Volksblatt, 18. August 1927, S. 4 (Link); NWJ (Link)
 
books.google
Zwei Jahrzehnte nach dem Tod Sigmund Freuds wurde ihm anscheinend das erste Mal ein Satz über den "Verlust der Scham" zugeschrieben.

Der Technikhistoriker Ralf Bülow hat herausgefunden (Link), dass die früheste Zuschreibung dieses Zitats an Sigmund Freud aus dem 1959 erschienen Buch "Die Geister scheiden sich" des bekennenden Nationalsozialisten und Kämpfers "gegen die entartete Linke" Kurt Ziesel stammen könnte. 

Heinrich Böll erwähnte das angebliche Sigmund-Freud-Zitat aus Ziesels Buch in seiner Polemik gegen diesen inzwischen wohl zu Recht vergessenen Journalisten und Autor Kurt Ziesel am 16. März 1962 in der ZEIT (Link).

Seit damals ist das Kuckuckszitat in verschiedenen Varianten sehr weit verbreitet.
  

Varianten des Pseudo-Sigmund-Freud-Zitats:

  • "Der Verlust des Schamgefühls ist das erste Zeichen von Schwachsinn."
  • "Die Abwesenheit von Schamgefühl ist ein sicheres Kennzeichen von Schwachsinn." 
  • "Der Verlust der Scham ist der Beginn der Idiotie."
  • "Der Verlust von Scham ist das erste Zeichen des Schwachsinns."
  • "Der Verlust der Scham, ist der Beginn der Verblödung." 
  • "Der Verlust der Scham ist der Beginn der Barbarei".
  • "Der Verlust der Scham ist das sicherste Indiz der Dummheit."
  • "Der Verlust der Scham zählte nach Freud zu den sicheren Merkmalen des Wahnsinns."
  • "The first indication of stupidity is a complete lack of shame."
Pseudo-Sigmund-Freud quote.


1964
  • "'Der Verlust der Scham ist das erste Zeichen von Schwachsinn.' Sie[!]gmund Freud"

    Fritz Kempe: Fetisch des Jahrhunderts: ein Lesebuch für Fotofreunde,Econ Verlag,  Düsseldorf, Wien: 1964, S. 176
    (Link) 

Seit 1983 wird dieses Zitat besonders in rechtsextremen Kreisen oft zusammen mit einem anderen Freud-Kuckuckszitat verbreitet:

  • "Freuds sicher zutreffende Erkenntis, »die Abwesenheit von Schamgefühl ist ein sicheres Kennzeichen von Schwachsinn«, verbannte man aus seiner Lehre, wie auch seine folgende Äußerung nicht mehr beachtet wurde: »Kinder, die sexuell  stimuliert werden, sind nicht mehr erziehungsfähig. Die Zerstörung der Scham bewirkt eine Enthemmung auf allen anderen Gebieten, eine Brutalität und Missachtung der Persönlichkeit der Mitmenschen. zit. in Illies, 1983, S. 169»

    Rudolf Künast: Umweltzerstörung und Ideologie. Die Frankfurter Schule: Fakten - Fehler - Folgen. Grabert Verlag, Tübingen: 1983, S. 150 (Link)

1986
  • "Nach langer psychotherapeutischer Erfahrung sagte Freud, der Verlust von Scham sei das erste Zeichen von Schwachsinn. Scham konstituiert also den geistig gesunden Menschen, auf welchen Stufen sie auch praktiziert wird".
    Bruno Moser (Link)

1993
Spiegel (Link)


2015
(Link)

Artikel in Arbeit.
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Quellen:
Google: "Verlust der Scham"
Google: "Verlust von Scham" 
Heinrich Böll: Der Schriftsteller und Zeitkritiker Kurt Ziesel, DIE ZEIT, 16. März 1962 (Link)
Kurt Ziesel: Die Geister scheiden sich. Dokumente zum Echo auf das Buch 'Das verlorene Gewissen+. J.F. Lehmanns Verlag: 1959 [noch nicht kollationiert]
Sigmund Freud: Zur sexuellen Aufklärung der Kinder (Offener Brief an Dr. M. Fürst) (1907) in: Studienausgabe Band V, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main: 1982, S. 159-168; auch in: Gesammelte Werke, Band VII, Hrsg. von Anna Freud,  Imago Publishing, London: 1941,, S. 20-27
freud-online.de/Texte/PDF/freud_werke_alle_bd.pdf 
Musikalisches Wochenblatt, 9. Februar 1877, S. 6 (Link)
Salzburger Volksblatt, 18. August 1927, S. 4 (Link); NWJ (Link)
Joachim Illies: Der Jahrhundert-Irrtum. Würdigung und Kritik des Darwinismus. Umschau Verlag, Franfurt am Main: 1983, S. 169
Rudolf Künast: Umweltzerstörung und Ideologie. Die Frankfurter Schule: Fakten - Fehler - Folgen. Grabert Verlag, Tübingen: 1983, S. 150 (Link)
Wolfgang Gruber, Twitter (Link)
Ralf Bülow, Twitter (Link)
  
dpa-Faktencheck: "Experten über falsches Freud-Zitat: widerspricht seinen Positionen", 29. November 2019  presseportal.de/pm/133833/4453871 

freud-online.de/Texte/PDF/freud_werke_alle_bd.pdf

Beispiele für das Falschzitat:
Markus M. Ronner: "Die Treffende Pointe: humoristisch-satirische Geistesblitze des 20. Jahrhunderts nach Stichwörtern alphabetisch geordnet." Ott Verlag, Thun: 1974,  S. 251 (Link)
bild.de 21. April 2018
tichyseinblick.de  3. Januar 2020
zitate.eu 27735
gutezitate.com/zitat/262703



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Dank:
Ich danke Wolfgang Gruber für die Aufdeckung und Ralf Bülow für seine Recherchen zum Ursprung dieses Falschzitats.

Dienstag, 4. Februar 2020

"Kinder, die sexuell stimuliert werden, sind nicht mehr erziehungsfähig. Die Zerstörung der Scham bewirkt eine Enthemmung auf allen anderen Gebieten, eine Brutalität und Missachtung der Persönlichkeit der Mitmenschen." Sigmund Freud (angeblich)

Dieses bei Gegnern von Sexualunterricht in Schulen und in rechtsextremen Kreisen beliebte Freud-Zitat wird Sigmund Freud seit dem Jahr 1983 unterschoben. In den Schriften Sigmund Freuds hat das Zitat noch niemand gefunden, obwohl schon viele danach gesucht haben.

Alle im Internet dargebotenen Quellenangaben für dieses angebliche Freud-Zitat haben sich als falsch oder zu ungenau herausgestellt (Link).


Der Wiener Psychoanalytiker Stephan Doering wies bei einer Frage (Link) von dpa-Faktencheckern nach diesem Falschzitat auf das Paradox hin, dass Gegner der sexuellen Aufklärung sich auf Sigmund Freud berufen, obwohl Freud explizit für die sexuelle Aufklärung von Kindern plädierte, am ausführlichsten in seinem 1907 publizierten 'Offenen Brief an Dr. M. Fürst' mit dem Titel: "Zur sexuellen Aufklärung der Kinder" (Link).

Verbreitet wird dieses peinlich falsche Sigmund-Freud-Zitat von Beginn an von Rechtsextremen:
Exemplar der Wiener Universitätsbibliothek; anonymer Bleistiftkommentar: "Nazis im grünen Heimatgewand".

  • "Freuds sicher zutreffende Erkenntis, »die Abwesenheit von Schamgefühl ist ein sicheres Kennzeichen von Schwachsinn«, verbannte man aus seiner Lehre, wie auch seine folgende Äußerung nicht mehr beachtet wurde: 'Kinder, die sexuell  stimuliert werden, sind nicht mehr erziehungsfähig. Die Zerstörung der Scham bewirkt eine Enthemmung auf allen anderen Gebieten, eine Brutalität und Missachtung der Persönlichkeit der Mitmenschen.' zit. in Illies, 1983, S. 169"

    Rudolf Künast: Umweltzerstörung und Ideologie. Die Frankfurter Schule: Fakten - Fehler - Folgen. Grabert Verlag, Tübingen: 1983, S. 150 (Link)
Doch geprägt hat das Zitat  nicht dieser Autor Rudolf Künast (ein Pseudonym des rechtsextremen Ideologen und Politikers Rolf Kosiek), sondern anscheinend der theologisch interessierte Biologe Joachim Illies , auf den Künast am Ende seines Falschzitats verweist.

Sein posthum 1983 herausgegebenes, Online nicht verfügbares Buch "Der Jahrhundert-Irrtum. Würdigung und Kritik des Darwinismus" habe ich durchgeblättert.  Das Zitat steht in Illies Buch auf Seite 169 genau so, wie es Rolf Kosiek zitiert hat, allerdings mit der unbrauchbaren Quellenangabe: Freud, "Gesammelte Werke, Bd. 5".

-
Entstanden ist der erste Teil des Falschzitats vielleicht aus einer Fehlerinnerung eines längeren Satzes Sigmund Freuds aus dem Jahr 1905, in dem er auf die verkehrte Annahme zeitgenössischer Erzieher hinweist, "daß die sexuelle Betätigung das Kind unerziehbar" mache (Link).

Sigmund Freud redet in dieser Studie zur infantilen Sexualität über die "sexueller Betätigung" von Kindern wie Masturbation, die von damaligen Erziehern als "Laster" verurteilt und bestraft wurden.

Im Falschzitat steht "sexuell stimuliert" und nicht "sexuelle Betätigung", also ein völlig anderer Sachverhalt.

Sigmund Freud, 1905:

  •  "Die Erzieher benehmen sich, insofern sie überhaupt der Kindersexualität Aufmerksamkeit schenken, genauso, als teilten sie unsere Ansichten über die Bildung der moralischen Abwehrmächte auf Kosten der Sexualität und als wüßten sie, daß sexuelle Betätigung das Kind unerziehbar macht, denn sie verfolgen alle sexuellen Äußerungen des Kindes als »Laster«, ohne viel gegen sie ausrichten zu können. Wir aber haben allen Grund, diesen von der Erziehung gefürchteten Phänomenen Interesse zuzuwenden, denn wir erwarten von ihnen den Aufschluß über die ursprüngliche Gestaltung des Geschlechtstriebs."

    Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. II. Die infantile Sexualität. 1905, S. 35 (Link),

 Artikel in Arbeit.
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Quellen:
Sigmund Freud: Zur sexuellen Aufklärung der Kinder (Offener Brief an Dr. M. Fürst) (1907) in: Studienausgabe Band V, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main: 1982, S. 159-168; auch in: Gesammelte Werke, Band VII, Hrsg. von Anna Freud,  Imago Publishing, London: 1941, S. 20-27 
Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien: 1905, S. 35 (Link), auch in:  Gesammelte Werke, Band V, Hrsg. von Anna Freud,  Imago Publishing, London: 1942, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main: 1968, S. 80
Joachim Illies: Der Jahrhundert-Irrtum. Würdigung und Kritik des Darwinismus. Umschau Verlag, Franfurt am Main: 1983, S. 169
Rudolf Künast: Umweltzerstörung und Ideologie. Die Frankfurter Schule: Fakten - Fehler - Folgen. Grabert Verlag, Tübingen: 1983, S. 150 (Link)
komm-heim-new-sturmer/295 
dpa-Faktencheck: "Experten über falsches Freud-Zitat: widerspricht seinen Positionen", 29.11.2019  presseportal.de/pm/133833/4453871 

freud-online.de/Texte/PDF/freud_werke_alle_bd.pdf

Beispiele für falsche Zuschreibungen mit erfundenen Seitenangaben:

sexualerziehung.at (angebliche Quelle in Freuds Werken: "Gesamtwerke Bd. 5, S. 159")
aktion-kig.eu  (angebliche Quelle in Freuds Werken: "Gesamtwerke Bd. 5, S. 159")
katholisches.info/2017/03/25  (angebliche Quelle in Freuds Werken: "Gesammelt Werke, Bd. 7, S. 149")
PEGIDA Nürnberg facebook.com (angebliche Quelle in Freuds Werken: "Sigmund Freud (1905) Ges. Werke VII, S. 149") 
[Weder in der zehnbändigen Frankfurter Studienausgabe, noch in der siebzehnbändigen Londoner Ausgabe von Freuds Werken ist in den Bänden V und VII das Zitat auf Seite 159 oder Seite 149 enthalten. Ich habe nicht nur die angegebenen Seiten durchsucht, sondern auch Digitalisate der Gesammelten Werke. Auch ich habe das Zitat weder so noch so ähnlich in einem Text Sigmund Freuds gefunden. GK]
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  • Prof. Dr. Hans Schieser, 2011:
    "Sigmund Freud, auf den man sich ja immer wieder beruft, hat immer wieder ausdrücklich betont, daß man diese Latenz nicht verfrüht „wecken“ darf, weil es sonst zu negativen Verhaltensstörungen (nicht im Bereich der Sexualität, sondern im allgemeinen Verhalten) führt: „Der Verlust des Schamgefühls ist das erste Zeichen von Schwachsinn… Kinder, die sexuell stimuliert werden, sind nicht mehr erziehungsfähig; die Zerstörung der Scham bewirkt eine Enthemmung auf allen anderen Gebieten, eine Brutalität und Mißachtung der Persönlichkeit des Mitmenschen“."
    familien-schutz.de/2011/08/23/
 science-blog.at/2019/06/
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Dank:
 
Ich danke Wofgang Gruber sehr für seinen Hinweis auf dieses Kuckuckszitat auf und Lucia Gerber für den Hinweis auf Freuds Studie zur infantilen Sexualität.

Korrigierte Fassung: 6/3 2020

Sonntag, 3. November 2019

"Hinter jeder starken Frau versteckt sich ein tyrannischer Vater." Sigmund Freud (angeblich)

Pseudo-Sigmund-Freud-Zitat.
Dieses Kuckuckszitat ist noch keine 10 Jahre alt und weder in den digitalisierten Werken Sigmund Freuds noch in seriösen Nachschlagwerken so oder so ähnlich zu finden.

Das von einer unbekannten Person geprägte Zitat ist wohl als Abwandlung des Sprichworts: "Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine starke Frau" entstanden.

Klassiker-Zitate, die im 21. Jahrhundert in den Sozialen Medien ohne Quellennachweis erstmals auftauchen und in der digitalisierten Fachliteratur nicht nachweisbar sind, sind meistens unterschobene oder entstellte Zitate.

Varianten des Kuckuckszitats:

  • "Hinter jeder starken Frau steht ein tyrannischer Vater."
  • "Hinter jeder starken Frau versteckt sich ein tyrannischer Vater."

 Früheste Erwähnung auf Twitter, 2013:

 




Artikel in Arbeit.

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Quellen:
Google

Montag, 21. Januar 2019

"Die meisten Menschen wollen die Freiheit nicht wirklich, weil Freiheit Annahme von Verantwortung bedeutet, die meisten Menschen zittern vor solcher Annahme." Sigmund Freud (angeblich)

Pseudo-Sigmund-Freud-Zitat.
  • "Most people do not really want freedom, because freedom involves responsibility, and most people are frightened of responsibility."

 Dieses Zitat wird erst seit etwa 25 Jahren Sigmund Freud untergeschoben und ist in seinen digitalisierten Texten unauffindbar.

Die Vermutung, Menschen fürchteten sich wegen der damit verbundenen Verantwortung vor der Freiheit, hat der irische Dramatiker George Bernard Shaw 1903 in der Komödie "Mensch und Übermensch" durch die fiktive Figur "John Tanner" in aphoristische Form gebracht:

 

George Bernard Shaw:

  • "Freiheit bedeutet Verantwortlichkeit, das ist der Grund, weshalb die meisten Menschen sich vor ihr fürchten."

    George Bernard Shaw: Mensch und Übermensch; übersetzt von Siegfried Trebitsch, 1911 (Link)


Wie die Rechercheure vom Shimer College herausfanden, wurde der fragliche Satz erstmals 1973 in der Karl-Popper-Studie von Bryan Magee in Zusammenhang mit Sigmund Freud gebracht:

 

1973

  • Near the centre of Popper's explanation of the appeal of totalitarianism is a socio-psychological concept which he calls 'the strain of civilization' -- a concept related, as he acknowledges, to that formulated by Freud in Civiliation and its Discontents. We often hear it asserted that most people do not really want freedom, because freedom involves responsibility, and most people are frightened of responsibility. Whether or not this applies to 'most people' there is, I am sure, a vital element of truth in it.
    Bryan Magee: "Popper", (1973) Frank Cass, Abingdon: 1974, S. 87. (Link)

1998 wurde dann in einer Fußnote eines Essays zu Karl Popper irrtümlich behauptet, der Satz aus Bryan Magees Popper-Studie stamme aus Sigmund Freuds Schrift "Das Unbehagen in der Kultur".

Seit 2003 wird das Zitat als Sigmund-Freud-Zitat ohne Hinweis auf dessen Ursprung in einer Karl-Popper-Studie auf Englisch verbreitet.

Pseudo-Sigmund-Freud-Zitat.

Auf Deutsch wird dieses Kuckuckszitat erst seit etwa 2014 Sigmund Freud zugeschrieben.

Pseudo-Sigmund-Freud-Zitat.


Die Behauptung, dieses Zitat über Freiheit und Verantwortung stünde in Sigmunds Freuds 1929  erschienenem Essay "Das Unbehagen in der Kultur" stimmt nicht:

Der Satz ist in dieser Schrift so wenig zu finden wie in irgendeinem anderen digitalisierten Text von Sigmund Freud
(pdf ).


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 Quellen:
George Bernard Shaw: Man and superman. A comedy and a philosophy, Appendix: John Tanner: "The Revolutionist's Handbook and Pocket Companion", Maxims for Revolutionists, Abschnitt: "Liberty and Equality",  (1903) Penguin Books, Middlesex: 1946, S. 273 (Link)
Bryan Magee: "Popper", (1973) Frank Cass, Abingdon: 1974, S. 87. (Link)
Fake Quotes Project des Shimer College: "Freud / Most people do not really want freedom " (Link)

Twitter  

Sigmund Freud: Studienausgabe, 10 Bände, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main: 1982 
Sigmund Freud: Gesammelte Werke in siebzehn Bänden. Hrsg. von Anna Freud,  Imago Publishing, London: 1941ff., pdf: 


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Dank:
Ich danke den Leuten vom Fake Quotes Project des Shimer College, deren Recherchen ich hier übernehmen konnte.

In Arbeit.

 

Letzte Änderungen: 6/5 2023