Dienstag, 4. Februar 2020

"Kinder, die sexuell stimuliert werden, sind nicht mehr erziehungsfähig. Die Zerstörung der Scham bewirkt eine Enthemmung auf allen anderen Gebieten, eine Brutalität und Missachtung der Persönlichkeit der Mitmenschen." Sigmund Freud (angeblich)

Dieses bei Gegnern von Sexualunterricht in Schulen und in rechtsextremen Kreisen beliebte Freud-Zitat wird Sigmund Freud seit dem Jahr 1983 unterschoben. In den Schriften Sigmund Freuds hat das Zitat noch niemand gefunden, obwohl schon viele danach gesucht haben.

Alle im Internet dargebotenen Quellenangaben für dieses angebliche Freud-Zitat haben sich als falsch oder zu ungenau herausgestellt (Link).


Der Wiener Psychoanalytiker Stephan Doering wies bei einer Frage (Link) von dpa-Faktencheckern nach diesem Falschzitat auf das Paradox hin, dass Gegner der sexuellen Aufklärung sich auf Sigmund Freud berufen, obwohl Freud explizit für die sexuelle Aufklärung von Kindern plädierte, am ausführlichsten in seinem 1907 publizierten 'Offenen Brief an Dr. M. Fürst' mit dem Titel: "Zur sexuellen Aufklärung der Kinder" (Link).

Verbreitet wird dieses peinlich falsche Sigmund-Freud-Zitat von Beginn an von Rechtsextremen:
Exemplar der Wiener Universitätsbibliothek; anonymer Bleistiftkommentar: "Nazis im grünen Heimatgewand".

  • "Freuds sicher zutreffende Erkenntis, »die Abwesenheit von Schamgefühl ist ein sicheres Kennzeichen von Schwachsinn«, verbannte man aus seiner Lehre, wie auch seine folgende Äußerung nicht mehr beachtet wurde: 'Kinder, die sexuell  stimuliert werden, sind nicht mehr erziehungsfähig. Die Zerstörung der Scham bewirkt eine Enthemmung auf allen anderen Gebieten, eine Brutalität und Missachtung der Persönlichkeit der Mitmenschen.' zit. in Illies, 1983, S. 169"

    Rudolf Künast: Umweltzerstörung und Ideologie. Die Frankfurter Schule: Fakten - Fehler - Folgen. Grabert Verlag, Tübingen: 1983, S. 150 (Link)
Doch geprägt hat das Zitat  nicht dieser Autor Rudolf Künast (ein Pseudonym des rechtsextremen Ideologen und Politikers Rolf Kosiek), sondern anscheinend der theologisch interessierte Biologe Joachim Illies , auf den Künast am Ende seines Falschzitats verweist.

Sein posthum 1983 herausgegebenes, Online nicht verfügbares Buch "Der Jahrhundert-Irrtum. Würdigung und Kritik des Darwinismus" habe ich durchgeblättert.  Das Zitat steht in Illies Buch auf Seite 169 genau so, wie es Rolf Kosiek zitiert hat, allerdings mit der unbrauchbaren Quellenangabe: Freud, "Gesammelte Werke, Bd. 5".

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Entstanden ist der erste Teil des Falschzitats vielleicht aus einer Fehlerinnerung eines längeren Satzes Sigmund Freuds aus dem Jahr 1905, in dem er auf die verkehrte Annahme zeitgenössischer Erzieher hinweist, "daß die sexuelle Betätigung das Kind unerziehbar" mache (Link).

Sigmund Freud redet in dieser Studie zur infantilen Sexualität über die "sexueller Betätigung" von Kindern wie Masturbation, die von damaligen Erziehern als "Laster" verurteilt und bestraft wurden.

Im Falschzitat steht "sexuell stimuliert" und nicht "sexuelle Betätigung", also ein völlig anderer Sachverhalt.

Sigmund Freud, 1905:

  •  "Die Erzieher benehmen sich, insofern sie überhaupt der Kindersexualität Aufmerksamkeit schenken, genauso, als teilten sie unsere Ansichten über die Bildung der moralischen Abwehrmächte auf Kosten der Sexualität und als wüßten sie, daß sexuelle Betätigung das Kind unerziehbar macht, denn sie verfolgen alle sexuellen Äußerungen des Kindes als »Laster«, ohne viel gegen sie ausrichten zu können. Wir aber haben allen Grund, diesen von der Erziehung gefürchteten Phänomenen Interesse zuzuwenden, denn wir erwarten von ihnen den Aufschluß über die ursprüngliche Gestaltung des Geschlechtstriebs."

    Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. II. Die infantile Sexualität. 1905, S. 35 (Link),

 Artikel in Arbeit.
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Quellen:
Sigmund Freud: Zur sexuellen Aufklärung der Kinder (Offener Brief an Dr. M. Fürst) (1907) in: Studienausgabe Band V, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main: 1982, S. 159-168; auch in: Gesammelte Werke, Band VII, Hrsg. von Anna Freud,  Imago Publishing, London: 1941, S. 20-27 
Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien: 1905, S. 35 (Link), auch in:  Gesammelte Werke, Band V, Hrsg. von Anna Freud,  Imago Publishing, London: 1942, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main: 1968, S. 80
Joachim Illies: Der Jahrhundert-Irrtum. Würdigung und Kritik des Darwinismus. Umschau Verlag, Franfurt am Main: 1983, S. 169
Rudolf Künast: Umweltzerstörung und Ideologie. Die Frankfurter Schule: Fakten - Fehler - Folgen. Grabert Verlag, Tübingen: 1983, S. 150 (Link)
komm-heim-new-sturmer/295 
dpa-Faktencheck: "Experten über falsches Freud-Zitat: widerspricht seinen Positionen", 29.11.2019  presseportal.de/pm/133833/4453871 

freud-online.de/Texte/PDF/freud_werke_alle_bd.pdf

Beispiele für falsche Zuschreibungen mit erfundenen Seitenangaben:

sexualerziehung.at (angebliche Quelle in Freuds Werken: "Gesamtwerke Bd. 5, S. 159")
aktion-kig.eu  (angebliche Quelle in Freuds Werken: "Gesamtwerke Bd. 5, S. 159")
katholisches.info/2017/03/25  (angebliche Quelle in Freuds Werken: "Gesammelt Werke, Bd. 7, S. 149")
PEGIDA Nürnberg facebook.com (angebliche Quelle in Freuds Werken: "Sigmund Freud (1905) Ges. Werke VII, S. 149") 
[Weder in der zehnbändigen Frankfurter Studienausgabe, noch in der siebzehnbändigen Londoner Ausgabe von Freuds Werken ist in den Bänden V und VII das Zitat auf Seite 159 oder Seite 149 enthalten. Ich habe nicht nur die angegebenen Seiten durchsucht, sondern auch Digitalisate der Gesammelten Werke. Auch ich habe das Zitat weder so noch so ähnlich in einem Text Sigmund Freuds gefunden. GK]
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  • Prof. Dr. Hans Schieser, 2011:
    "Sigmund Freud, auf den man sich ja immer wieder beruft, hat immer wieder ausdrücklich betont, daß man diese Latenz nicht verfrüht „wecken“ darf, weil es sonst zu negativen Verhaltensstörungen (nicht im Bereich der Sexualität, sondern im allgemeinen Verhalten) führt: „Der Verlust des Schamgefühls ist das erste Zeichen von Schwachsinn… Kinder, die sexuell stimuliert werden, sind nicht mehr erziehungsfähig; die Zerstörung der Scham bewirkt eine Enthemmung auf allen anderen Gebieten, eine Brutalität und Mißachtung der Persönlichkeit des Mitmenschen“."
    familien-schutz.de/2011/08/23/
 science-blog.at/2019/06/
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Dank:
 
Ich danke Wofgang Gruber sehr für seinen Hinweis auf dieses Kuckuckszitat auf und Lucia Gerber für den Hinweis auf Freuds Studie zur infantilen Sexualität.

Korrigierte Fassung: 6/3 2020