Mittwoch, 10. Juni 2020

"Politik ist das Bohren von dicken Brettern." Max Weber (angeblich)

Max Weber sprach in seinem berühmten Vortrag "Politik als Beruf" nicht von "dicken" Brettern, wie oft behauptet wird, sondern von "harten" Brettern, die in der Politik stark und langsam durchbohrt werden müssen.

 

Max Weber: "Politik als Beruf", 1919:



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Quellen:
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Max Weber: "Wissenschaft als Beruf, 1917/1919; Politik als Beruf, 1919", Studienausgabe der Max Weber-Gesamtausgabe, Teil 1, Band 17, herausgegeben von Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schluchter, J.C.B. Mohr, Tübingen: 1994, S. 88 (Link)


Donnerstag, 4. Juni 2020

"Gedacht ist nicht gesagt, gesagt ist nicht gehört, gehört ist nicht verstanden, verstanden ist nicht ..." Konrad Lorenz (angeblich)


Pseudo-Konrad-Lorenz-Zitat  (Link).

 

Dieses in der Kommunikationswissenschaft und bei Kommunikationstrainern beliebte Schema ist seit den 1980er Jahren nachweisbar und wird dem Verhaltensforscher Konrad Lorenz, dem Verkaufstrainer Heinz Goldmann und seit kurzem auch dem Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick zugeschrieben.

  • "Gedacht ist nicht gesagt, gesagt ist nicht gehört, gehört ist nicht verstanden, verstanden ist nicht gewollt, gewollt ist nicht gekonnt, gekonnt und gewollt ist nicht getan und getan ist nicht beibehalten."

Das Schema scheint in Wien im Jahr 1986, vielleicht unter Mitwirkung des Physikers Herbert Pietschmann, entstanden zu sein, wobei der ursprüngliche Wortlaut im Laufe der Jahre öfters verändert wurde.

Bei einer chronologischen Google-Books-Suche taucht das Zitat das erste Mal im Jahr 1986 ohne Zuschreibung an einen Autor als "Regel für Führungspersonen" in der österreichischen Zeitschrift "Erziehung und Unterricht" auf:

1986
  • "Als richtige Regel für Führungspersonen wurde fogendes einfache Schema entwickelt:
    Gesagt ist nicht gehört / gehört ist nicht verstanden / verstanden ist nicht einverstanden / einverstanden ist nicht behalten / behalten ist nicht getan /
    getan ist nicht richtig/immer getan."

    "Erziehung und Unterricht: Österreichische Pädagogische Zeitschrift", 136. Jg,  Heft 9, November 1986,  Österreichischer Bundesverlag, Wien: 1986, S. 622  " (Link);  (Link) 
Fünf Jahre danach wird das etwas veränderte Zitat in derselben Zeitschrift "Dr. H. Pietschmann" zugeschrieben.

Der Wiener Physiker Herbert Pietschmann hat mir per E-Mail bestätigt, dass er das Zitat vor Jahrzehnten verwendet, vielleicht sogar geprägt hat, aber nach drei Jahrzehnten könne er die Autorschaft nicht mehr mit Sicherheit beanspruchen.

1991
  • "Gesagt ist noch nicht gehört, gehört ist noch nicht verstanden, verstanden ist noch nicht einverstanden, einverstanden ist noch nicht ausgeführt, ausgeführt ist noch nicht richtig ausgeführt. (Dr. H. Pietschmann)"  

    "Erziehung und Unterricht: Österreichische Pädagogische Zeitschrift", 141. Jg,  Heft 2, Februar 1991,  Österreichischer Bundesverlag, Wien: 1991, S. 129 (Link)

 Weitere Entwicklung des Zitats:


1991
  • "Warum es so schwierig ist, zu einer Verhaltensänderung zu kommen, veranschaulicht folgende Aussage: - Gesagt ist nicht gehört, gehört ist nicht verstanden, verstanden ist nicht akzeptiert, akzeptiert ist nicht gehandelt und gehandelt ist nicht beibehalten." [Anonym] (Link)

Etwa ein Jahrzehnt, nachdem die Maxime geprägt wurde, wurde sie Konrad Lorenz ohne Quellenangabe unterschoben:

1998
  • "Gesagt ist nicht gehört, gehört ist nicht verstanden, verstanden ist nicht einverstanden , einverstanden ist nicht angewendet angewendet ist noch lange nicht eingehalten. / Konrad Lorenz"

    Nikolaus B. Enkelmann: "Mit Freude erfolgreich sein: Motivieren - Begeistern - Überzeugen. Arbeitsbuch zur Persönlichkeitsbildung." mvg Verlag, München: (1998) 2013, S. 200 (Link)

2000
  • "Die nachfolgende Aussage von Konrad Lorenz, einem der großen deutschen Verhaltensforscher, möchte ich Ihnen in diesem Zusammenhang gerne vorstellen: »Gesagt ist nicht gehört, gehört ist nicht verstanden, verstanden ist nicht ..." (Link)

2001
  • "Gehört ist noch nicht verstanden ! Verstanden ist noch nicht einverstanden ! Einverstanden ist noch nicht getan ! Getan ist noch nicht selbstverständlich ! " (Link)
2006: Konrad Lorenz  (Link) 

2009
  • " 'Gesagt ist nicht gehört,
    gehört ist nicht verstanden,

    verstanden ist nicht einverstanden,

    einverstanden ist nicht getan,

    getan ist nicht richtig getan.'
    ... Das Zitat wird dem österreichischen Verhaltensforscher Konrad Lorenz (1903-1989) zugeschrieben." (Link)
2012

  •  "I recently came across the following, which was attributed to Konrad Lorenz. It’s quite profound, and is itself a wonderful example of clear and concise communication.
  1. What is thought is not said
  2. What is said is not heard
  3. What is heard is not understood
  4. What is understood is not believed
  5. What is believed is not yet advocated
  6. What is advocated is not yet acted on
  7. What is acted on is not yet completed"

    Jack Malcolm: "Why Communication Is a Hard Skill", 2012  (Link)



Pseudo-Konrad-Lorenz-Zitat (Link)


 2014
  • "Gesagt ist nicht gehört, gehört ist nicht verstanden, verstanden ist nicht begriffen, begriffen ist nicht getan." (Link)
 

2019 

  •  "Paul Watzlawick, der sich ebenfalls Gedanken zu diesem Kommunikationsmodell [dem Sender-Empfänger-Modell] machte und treffend formulierte:

    'Gedacht ist nicht gesagt, gesagt ist nicht gehört, gehört ist nicht verstanden, verstanden ist nicht gewollt, gewollt ist nicht gekonnt, gekonnt und gewollt ist nicht getan und getan ist nicht beibehalten.' "


    Andreas Werner, Christine Arlt-Palmer: "Leadership: Bewährte und aktuelle Aspekte der Führung." Kohlhammer, Stuttgart: 2019 ebook (Link)


Nach der derzeitigen Quellenlage gibt es keinen guten Grund, dieses Zitat Konrad Lorenz oder gar Paul Watzlawick zuzuschreiben.

Das Zitat wird manchmal auch dem Verkaufstrainer und Bestsellerautor Heinz Goldmann zugeschrieben, der es 10 Jahre nachdem es nachweislich geprägt wurde, in einem 1996 erschienenen Buch anscheinend zitiert hat. (Link)

 

Artikel in Arbeit.
 

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Quellen:
Google
Twitter
E-Mail von Herbert Pietschmann vom 4. Juni 2020
"Erziehung und Unterricht: Österreichische Pädagogische Zeitschrift", 136. Jg,  Heft 9, November 1986,  Österreichischer Bundesverlag, Wien: 1986, S. 622  " (Link);  (Link) 
"Erziehung und Unterricht: Österreichische Pädagogische Zeitschrift", 141. Jg,  Heft 2, Februar 1991,  Österreichischer Bundesverlag, Wien: 1991, S. 129 (Link)
Nikolaus B. Enkelmann: "Mit Freude erfolgreich sein: Motivieren - Begeistern - Überzeugen. Arbeitsbuch zur Persönlichkeitsbildung." mvg Verlag, München: (1998) 2013, S. 200 (Link)
 Jack Malcolm: "Why Communication Is a Hard Skill", 2012  (Link)
 Andreas Werner, Christine Arlt-Palmer: "Leadership: Bewährte und aktuelle Aspekte der Führung." Kohlhammer, Stuttgart: 2019 ebook (Link)
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Dank: Ich danke Oliver Claves für die Frage nach diesem Kuckuckszitat und Herbert Pietschmann für seine Antwort auf meine Frage.


Sonntag, 31. Mai 2020

"Der Pfingsttag kennt keinen Abend, denn seine Sonne, die Liebe, geht nie unter." Theodor Fontane (angeblich)


Pseudo-Theodor-Fontane-Zitat.
Dieses im Internet äußerst beliebte angebliche Fontane-Zitat wird Theodor Fontane erst im 21. Jahrhundert zugeschrieben und stammt von dem Würzburger Theologen Hermann Schell, der es in seinem 1906 erschienenen Buch "Christus: das Evangelium und seine weltgeschichtliche Bedeutung" geprägt hat.


 1906

  • "Solange und soweit die Werke der Barmherzigkeit im Geiste Christi wirken und sich an Not und Widerstand zu neuer Glut und Kraft entzünden: so lange dauert der Pfingsttag und mit ihm die Kraft des Lebens Jesu fort! Der Pfingsttag kennt keinen Abend, denn seine Sonne, die Liebe, kennt keinen Untergang."

    Herman Schell: "Christus: das Evangelium und seine weltgeschichtliche Bedeutung" Verlag von Kirchheim, Mainz: 1906, S. 199 (Link)

Theologen im 20. Jahrhundert waren sich einig, dass der Spruch, der zum Beispiel ein Fenster des Wiener Stephandoms schmückt, von Hermann Schell stammt und nicht von Theodor Fontane.


2008
  • "Herman Schell, über den ich meine Dissertation geschrieben habe, greift einen Gedanken des byzantinischen Mystikers Symeon (des Theologen, † 1022 ) auf und sagt: 'Der Pfingsttag kennt keinen Abend, denn seine Sonne, die Liebe kennt  kennt keinen Untergang.'"
    Theodor Schneier: "Miteinander glauben: Erinnerung an Weggefährten" (Link)
 1997

  • Er kannte das Wort des Theologen Hermann Schell auf dem Tabernakel der Kreuzfahrerstätte Mariental bei Wesel: 'Unser Pfingsttag kennt keinen Abend, denn seine Sonne, die Liebe, kennt keinen Untergang.' google.books

Twitter, Pfingsten 2020:

 

(Pseudo-Theodor-Fontane-Zitat.)


 Artikel in Arbeit.
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Quellen:
Google
Twitter 
Herman Schell: "Christus: das Evangelium und seine weltgeschichtliche Bedeutung" Verlag von Kirchheim, Mainz: 1906, S. 199 (Link)
  Zu Schell :theologie.uni-wuerzburg.de

Frühe falsche Zuschreibungen an Theodor Fontane:
2010 gedichte-garten.de - Forum

2015  (Link)


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Dank:
Ich danke holio für den Hinweis auf dieses Kuckuckszitat.




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Pseudo-Theodor-Fontane-Zitat.

Samstag, 30. Mai 2020

"Über Plagiate sollte man sich nicht ärgern. Sie sind wahrscheinlich die aufrichtigsten aller Komplimente." Theodor Fontane (angeblich)

Dieser Aphorismus wird Theodor Fontane seit 1976 - immer ohne Quellenangabe - zugeschrieben und ist in seinen Schriften und Briefen nicht zu finden, wie mir auch der Literaturwissenschaftler Klaus-Peter Möller vom Theodor-Fontane-Archiv in Potsdam per E-Mail bestätigt hat.

Der Aphorismus ist also ein beliebtes Kuckuckszitat und könnte sich aus einem Ausspruch Mark Twains entwickelt haben, in dem er das Plagiat als das "allerhöchste Kompliment", das ein Autor bekommen kann, bezeichnet:
 

Mark Twain, 1890:


  • "I laugh every time I hear the idiots jackassing in a charge of plagiarism against somebody or other.
    Why, to repeat another man’s thoughts is to pay him the highest compliment you can. It shows what a grip his mind has taken on yours. I never charge any one with plagiarism, for to do so would prove me incapable of gratitude for the highest compliment a man can pay me."
  •  "Ich lache jedes Mal, wenn ich höre, wie sich Idioten mit einer Plagiatsklage gegen den einen oder anderen zum Narren machen."

    Warum? Die Gedanken eines anderen Mannes zu wiederholen ist das höchste Kompliment, das du ihm machen kannst. Es zeigt, welchen Einfluss sein Geist auf deinen hat. Ich beschuldige niemanden des Plagiats, denn dies würde nur meine Unfähigkeit beweisen, mich für das höchste Kompliment, das man mir machen kann, zu bedanken. "

    Mark Twain, Interview, in: The New York World, 12. Januar 1890, S. 14: "Mark Twain’ at Home."  (zitiert nach daybyday.marktwainstudies.com); google.books

In den folgenden Jahrzehnten interpretieren auch andere Autoren (ohne Hinweis auf Mark Twain) manchmal Plagiate als Komplimente.

Theodor Fontane wurde das Zitat vielleicht auch deswegen unterschoben, weil ihm Plagiate aus  seinen Werken sowie Quellenangaben gleichgültig waren; wenigstens behauptete er das in einem Brief, nachdem ihm ein Seedorfer Pfarrer Plagiate vorgeworfen hatte:

Theodor Fontane:

  • "Ich gehe davon aus: was gedruckt ist, ist ein gedeckter Tisch, wo jeder zulangen kann und je mehr, desto besser; auch die so viel betonte Namensnennung oder Quellenangabe ist mir gleichgültig."

    Theodor Fontane*) (Link)

Wer und aus welchem Motiv 1976 im Börsenblatt für den deutschen Buchhandel zum ersten Mal das Zitat Theodor Fontane zugeschrieben hat, ist unbekannt.



Artikel in Arbeit.

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Anmerkung:
*) Bibliographische Angaben folgen.
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Quellen:
Google
Twitter
wikiquote - Diskussion 
E-Mail von Klaus-Peter Möller, Theodor-Fontane-Archiv, Universität Potsdam vom 28. Mai 2020 ("Das Plagiat-Zitat ist mit Sicherheit nicht von Fontane.")
www.fontanearchiv.de
Mark Twain, Interview, in: The New York World, 12. Januar 1890, S. 14: "Mark Twain’ at Home."  (zitiert nach daybyday.marktwainstudies.com); google.books
brainpickings.org/2012/05/10/mark-twain-helen-keller-plagiarism-originality/
Klaus Graf: "Plagiat: Ein Journalist der Schweizer «Weltwoche» hat einen Artikel zum Teil Wort für Wort aus einer britischen Zeitung abgeschrieben", 2015  /archivalia.hypotheses.org/1379

Beispiele für falsche Zuschreibungen an Theodor Fontane:
1976: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, 1976 books.google
2003 Deutscher Bundestag (Link)


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Dank:
Ich danke Klaus-Peter Möller vom Theodor-Fontane-Archiv  (www.fontanearchiv.de) für die Auskunft und den Hinweis auf den hier zitierten Brief Theodor Fontanes sowie Klaus Graf für eine Korrektur. Für die Übersetzungsberatung für das Wort "jackassing" danke ich: Heinrich Steininger, Daniel Tietze, Justus Radmacher, Dr. Philoponus und Peter Winslow.


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PS.

1905: Henry Adams   books.google
1906: die beglaubigte zeitgenössische oder wenig jüngere Literatur auf Bestätigungen, Zitate, Plagiate durchzuseben -— eine zeitraubende, aber oft erfolgreiche Aufgabe, weil der Chinese gern zitiert und das Plagiat geradezu als ein Kompliment für Autor und Plagiator betrachtet.

 1966: Jede Form des Zitats konnte in der Antike ein Kompliment sein  books.google.

Freitag, 29. Mai 2020

"Die Voraussetzung jeder völkischen Politik ist der Mut zur Wahrheit." Otto von Bismarck (angeblich)

Dieses wenig verbreitete Pseudo-Bismarck-Zitat scheint auf den Neonazi Heinz Reisz zurückzugehen, dessen Bonner Auftritt vor hundert Leuten im Januar 1990 von dem Journalisten und Filmemmacher Michael Schmidt dokumentiert wurde. 

In dieser Neonnazi-Rede wurde - laut einer chronologischen Google-Suche - Otto von Bismarck erstmals dieses angebliche Bismarck-Zitat unterschoben.

Nach dieser Quellenlage zweifle ich nicht daran, dass es ein Kuckuckszitat ist, auch weil es auf den rechtsextremen und nationalistischen Blogs, die oft erfundene Zitate verbreiten, immer ohne seriösen Quellennachweis zitiert wird und sonst in keinem halbwegs seriösen Buch vorkommt.

1993

  • "Heinz Reisz steht da [...] Ein richtiger Show-Nazi. [...] eine Parodie auf sich selbst, auf einen Naziredner [...] laut, aggressiv, brüllend:

    'Freunde, ich möchte es kurz machen. Man kann getrennt marschieren, doch man muß vereint schlagen…' Dann zitiert er auch noch Bismarck: 'Die Voraussetzung jeder völkischen Politik ist der Mut zur Wahrheit'. ' Und die Wahrheit ist: Wir sind ein Volk, wir bleiben ein Volk und…'

    Der Rest seines Satzes geht im Applaus und Gejohle der etwa hundert Anhänger unter."


    Michael Schmidt
    : "Heute gehört uns die Strasse ...: der Inside-Report aus der Neonazi-Szene", mit einer Einleitung von  Ralph Giordano, ECON Verlag, Düsseldorf • Wien • New York • Moskau: 1993, S. 87 (Link)

Niemand verbreitet dieses Kuckuckszitat so oft wie ein "Heinz Reisz" auf Twitter:



Pseudo-Otto-von-Bismarck-Zitat.
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Quellen:
Google
Twitter
Michael Schmidt: "Heute gehört uns die Strasse ...: der Inside-Report aus der Neonazi-Szene", mit einer Einleitung von  Ralph Giordano, ECON Verlag, Düsseldorf • Wien • New York • Moskau: 1993, S. 87 (Link)
 sosdeutschland.blogspot.com/2010/11/
 zdd.se/voelkerrecht.htm

Donnerstag, 28. Mai 2020

"Der heißeste Platz der Hölle ist für jene bestimmt, die in Zeiten der Krise neutral bleiben." Dante Alighieri (angeblich)

Pseudo-Dante-Alighieri-Zitat.

Dieses beliebte Pseudo-Dante-Alighieri-Zitat ist in den 1940er Jahren in Amerika nach einer Reihe von ungenauen Paraphrasierungen eines Satzes aus Dantes Göttlicher Komödie über die Höllenstrafe für Laue entstanden.

Die Lauen, Feigen und Kleinmütigen, die Vielen, die in ihrem Leben Mitleid und Gerechtigkeit verachtet haben, sind weder im Himmel noch in der Hölle willkommen, sondern müssen in einer Vorhölle nackt herumlaufen und werden dabei von Mücken und Wespen gequält.  

 

 Dante Alighieri: "Die Göttliche Komödie", "Die Lauen":

  • "Von ihnen dringt kein ruhm der welt hinüber / Von Gnade wie von Recht sind sie verachtet / Sprich nicht von ihnen - schau und geh vorüber!"
    Übersetzt von Stefan George
    (Link)


Diese Vorhölle beim berühmten Eingangstor zur Hölle (nicht zu verwechseln mit dem "Purgatorio") wird im 3. Gesang von Dantes Alighieris "Inferno" beschrieben und ist nicht der "heisseste Platz der Hölle". 


Im tiefsten der trichterförmig angelegten Höllenkreise Dantes ist es auch nicht heiß, sondern bekanntlich schrecklich kalt und hier werden keine moralisch Neutralen, sondern Verräter wie Judas, Brutus und Cassius von Lucifer persönlich gefoltert.



Die amerikanische Geschichte und Vorgeschichte dieses Falschzitats, das auch von Politikern wie John F. Kennedy verbreitet wurde, ist von den Zitatforschern Barry Popik und Garson O'Toole gründlich dokumentiert worden (quoteinvestigator.com).

In den deutsche Sprachraum eingeführt hat das falsche Dante-Zitat anscheinend der Abgeordnete der konservativen "Deutschen Partei" Hans-Joachim von Merkatz  am 27. Februar 1955 im Deutschen Bundestag, als es um die Saarfrage, die Wiederbewaffnung Deutschlands und die erwünschte Eingliederunng eines souveränen Deutschlands in ein Westbündnis ging:


1955

  • "Wir wollen das Recht wirklicher Mitbestimmung bei der großen Weltfrage [...] der Entspannung zwischen Ost und West. [....] Dazu brauchen wir auch die Unterstützung der Westmächte, was auch bedingt, daß wir uns ihrem Verteidigungssystem anschließen. [...] Wir nehmen klar und deutlich  die Entscheidung auf uns und denken dabei auch an den Satz, der, wenn ich recht unterrichtet bin, in der Divina Commedia von Dante steht: Der heißeste Platz in der Hölle ist für diejenigen vorbehalten, die in einer Gewissensfrage neutral geblieben sind.
    (Anhaltender lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)"


    Hans-Joachim von Merkatz
    , DP, Deutscher Bundestag, Bonn, 72. Sitzung, Sonntag, 27. Februar 1955, S. 3926
    archive.org  

 

[Ist Ihnen ZITATFORSCHUNG zur Eindämmung falscher Zitate etwas wert? (Link)]


Einige Beispiele für das Pseudo-Dante-Zitat:



1944
  • "THE HOTTEST PLACES IN HELL ARE RESERVED FOR THOSE WHO, IN A PERIOD OF MORAL CRISIS, MAINTAIN THEIR NEUTRALITY. — DANTE"

    Powell Spring: "What Is Truth”, 1944, S. 277 (zitiert nach Garson O`Toole quoteinvestigator.com)
1955
  • "in der Divina Commedia von Dante steht: Der heißeste Platz in der Hölle ist für diejenigen vorbehalten, die in einer Gewissensfrage neutral geblieben sind."
    Deutscher Bundestag, 27. Februar 1955, S. 3926
    archive.org  
1963
  • "Dante hat einmal gesagt, daß der heißeste Fleck in der Hölle denen reserviert ist, die in einer moralischen Krise es fertig bringen, neutral zu bleiben." 
1964
  • ."Dante hat gesagt: Die heißesten Stellen der Hölle sind für diejenigen reserviert, die sich während einer moralischen Krise neutral verhalten." 
1966
  • "In dieser Versammlung gibt es keine Neutralität.  Dante hat gesagt: 'Die heißesten Stellen in der Hölle sind für diejenigen reserviert, die sich während einer moralischen Krise neutral verhalten'." google.books
1969
  • "die heißesten Höllenplätze sind für Neutrale in Krisenzeiten reserviert" (Dante).  
1981
  • "NKVD-Oberleutnant Petrov aus dem Lager Elabuga liebte es sogar, auf Dante anzuspielen und zu erklären: »Für die Neutralen ist der heißeste Platz in der Hölle zubereitet.«" google.books
2004
  • "Dante sagte, dass der heißeste Platz in der Hölle für jene reserviert ist, die in Zeiten der Gefahr neutral bleiben." derstandard.at
2011
  • "Hier sei an die Worte von Dante erinnert: »Der schlimmste Platz in der Hölle ist für diejenigen bestimmt, die sich in Zeiten einer schweren moralischen Krisis passiv verhalten haben.«" (Link) 
2015
  • "Der heißeste Platz der Hölle ist für jene bestimmt, die in Zeiten der Krise neutral bleiben. Dante" blogs.faz.net
 2020
  • "Zum Schluss ein Zitat von Dante Alighieri, das auch noch in unserer Zeit Gültigkeit hat: 'Der heisseste Platz in der Hölle ist für jene bestimmt, die in der Krise neutral bleiben.'" (Link)

 

Varianten des Falschzitats auf Twitter:

 

 

  •  Der heißeste Platz der Hölle ist für jene bestimmt,die in Zeiten der Krise neutral bleiben".
  • "Die dunkelsten Plätze der Hölle sind reserviert für diejenigen, die sich in Zeiten einer moralischen Krise heraushalten wollen." Dante Alighieri, Inferno
  • „Der heißeste Platz der Hölle ist für jene bestimmt, die in Zeiten der Krise neutral bleiben.“ Dante Alighieri 
  • Der heißeste Platz der Hölle ist für jene bestimmt, die in Zeiten der Krise neutral bleiben. Dante Alighieri (1265-1321), ital. Dichter
  • In der Hölle ist der dunkelste Platz für die reserviert, die sich in Zeiten der moralischen Krise heraushalten wollen." Dante Alighieri
  • "Die dunkelsten Plätze der Hölle sind reserviert für diejenigen, die sich in Zeiten einer moralischen Krise heraushalten wollen." Dante Alighieri, Inferno
  • Dante:"Die schlimmsten Kreise der Hölle sind jenen vorbehalten, die untätig bleiben in Zeiten moralischer Krise."
  • Dante: "Die dunkelste Ecke der Hölle ist für diejenigen reserviert, die ihre Neutralität in Zeiten der moralischen Krise bewahren."
  • "In der Hölle ist der dunkelste Platz für die reserviert, die sich in Zeiten der moralischen Krise heraushalten wollen." Dante Alighieri
  • "Die schlimmsten Kreise der Hölle sind jenen vorbehalten die untätig bleiben in Zeiten moralischer Krise" - Dante
  • Dante Alighieri:”Die dunkelsten Plätze in der Hölle sind reserviert für diejenigen, die sich in Zeiten einer moralischen Krise heraushalten wollen” 
  • I posti più caldi all'Inferno sono riservati a coloro che nei momenti di grande crisi morale mantengono la loro neutralità. Dante Alighieri


 
 
 
 



Artikel in Arbeit.

Dante Alighieri: "La Commedia / Die Göttliche Komödie". Übersetzer: Hartmut Köhler.



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Quellen:
Google
Twitter
Dante Alighieri: "La Commedia / Die Göttliche Komödie". Italienisch / Deutsch. 3 Bände, I. Inferno / Hölle, II. Purgatorio / Läuterungsberg, III. Paradiso / Paradies. In Prosa übersetzt und kommentiert von Hartmut Köhler, Reclam Bibliothek, Philipp Reclam jun., Stuttgart: 2011, I, Canto III, S. 43-55
Fred R. Shapiro: "The Yale Book of Quotations". Yale University Press, New Haven: 2006, S. 420/3 (Kennedy)
Ralph Keyes: "The Quote Verifier: Who Said What, Where, and When." St. Martin's Griffin, New York: 2006, S. 89 (Link)
Barry Popik: "The hottest places in hell are reserved for those who…maintain their neutrality", 2009, The Big Apple (barrypopik.com)
Twitter, 2016 
Garson O'Toole: "The Hottest Places in Hell Are Reserved for Those Who in a Period of Moral Crisis Maintain Their Neutrality. - Dante Alighieri? John F. Kennedy? John A. Hutton? Theodore Roosevelt? W. M. Vines? Henry Powell Spring? Apocryphal?" 2015 (quoteinvestigator.com)
Powell Spring: "What Is Truth”, The Orange Press, Winter Park: 1944, S. 277 (zitiert nach Garson O`Toole quoteinvestigator.com)
Hans-Joachim von Merkatz, DP, Deutscher Bundestag, Bonn, 72. Sitzung, Sonntag, 27. Februar 1955, Verhandlungen des Deutschen Bundestages: Stenographische Berichte, Band 23, H. Heger, Bonn: 1955, S. 3926 archive.org   


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Ich danke Thea Dorn für ihre skeptische Frage zu diesem Zitat und Barry Popik und Garson O' Toole für ihre gründlichen Recherchen zu diesem Falschzitat.

 

Letzte Änderung: 8/6 2022 (Stefan George)

Dienstag, 26. Mai 2020

"Mit 50 hat jeder das Gesicht, das er verdient." George Orwell

Das Sprichwort, jemand sei für sein Gesicht verantwortlich, ist in unterschiedlichen Versionen seit dem 19. Jahrhundert in den digitalisierten Texten nachweisbar.

Viele behaupten, die Verantwortlichkeit für das eigene Gesicht beginne mit dem 50. Lebensjahr, andere glauben, schon mit 30 oder 40.

Das Sprichwort wird auch Johann Wolfgang von Goethe oder Abraham Lincoln zugeschrieben, aber in ihren Texten hat es noch niemand gefunden.

Weltweit bekannt wurde es durch George Orwell und Albert Camus.

Der letzte Eintrag im Notizbuch des 1950 im Alter von 46 Jahren verstorbenen Autors und Journalisten George Orwell am 17. April 1949 lautet:
Und in Albert Camus'  Roman "Der Fall" steht ein paar Jahre später der Satz:

Geprägt oder nachweisbar als Erster verwendet hat das Sprichwort Edwin M. Stanton, der Kriegsminister Abraham Lincolns, in einem im Jahr 1891 erstmals publizierten Dialog (Link).

Der amerikanische Politiker Edwin Stanton sagte von einem Mann, den er für einen Angeber, Lügner und Betrüger hielt, er schaue noch dazu aus wie ein Kabeljau. 

Kabeljau.
 Auf die Entgegnung, niemand könne etwas dafür, wie er ausschaue, erwiderte Edwin Stanton: "Ein Mann mit Fünfzig ist für sein Gesicht verantwortlich!" (Link)


Kurze Chronologie des Sprichworts:


1891
  •  Edwin Stanton:  "A man of fifty is responsible for his face!" (Link)
1909 
  • Anonym: "Der erwachsene Mensch ist auch für sein Gesicht verantwortlich".
 1929 
  • "Bei Fünf­zig ist man für sein Gesicht verantwortlich, be­hauptete Goethe." (Link)
 1949
1956 

 1970
  • "Eine Lady von exzellentem Urteil, nämlich Stern-Kolumnistin Sybille, hatte ihn vor langer Zeit geschrieben: mit dreißig sei jedermann verantwortlich für sein Gesicht." (Link)
2016
  • "Lincoln sagte zu seinen Mitarbeitern: 'Ein Mann mit Vierzig ist für sein Gesicht verantwortlich'". 


[Ist Ihnen ZITATFORSCHUNG zur Eindämmung falscher Zitate etwas wert? (Link)]


Artikel in Arbeit.


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Quellen:
Wikiquote
Ralph Keyes: "The Quote Verifier: Who Said What, Where, and When." St. Martin's Griffin, New York: 2006, S. 60 (Link)
Oxford Dictionary of Quotations. Edited by Elizabeth Knowles. Sixth edition. Oxford University Press, New York: 2004 
L.E. Chittenden: "Recolletions of President Lincoln and his administration." Harper a. Brothers, New York: 1891, S. 184
Die Stunde, 6. Juni 1929, S. 5 (Link)
Albert Camus: (Link)  
George Orwell:  archive.org

Mareen Linnartz: "Das Wort Idiot hätte Loriot nie verwendet", Süddeutsche Zeitung, 26. Mai 2020 (Link) 

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Dank:
Ich danke  Claudia Mennel für ihren Hinweis auf Albert Camus und Mareen Linnartz für die Frage zu diesem Zitat, die ich in dem Interview für die Süddeutsche Zeitung noch nicht korrekt beantworten konnte.