Mittwoch, 25. Oktober 2017

"Im Krieg ist Wahrheit das erste Opfer." Aischylos (angeblich)

Pseudo-Aischylos-Zitat.

Dieser Aphorismus stammt aus der Zeit des Ersten Weltkriegs und wurde vor dem Jahr 1916 von einer unbekannten Person wahrscheinlich in England oder Irland geprägt. 

In dem Wortlaut " 'Truth', it has been said, 'is the first casuality of war' " taucht der Spruch 1916 in Philip Snowdens Vorwort zu dem Buch "Truth and War" von E. D. Morel auf (Link).

Der amerikanische Zitatforscher Garson O' Toole hat, nachdem ich diesen Artikel geschrieben hatte, noch drei Erwähnungen des anonymen Spruchs aus dem Jahr 1915 ausfindig gemacht (quoteinvestigator.com).


Inzwischen kennt jeder auf der Welt diesen Spruch, er ist seit den Irak-Kriegen zu einem internationalen Gemeinplatz geworden, und wird vielen Autoren und einer Autorin fälschlich zugeschrieben.

Seit dem Vietnamkrieg unterschiebt man ihn dem griechischen Dichter Aischylos  (Link) (Link),  manchmal auch dem englischen Dichter Rudyard Kipling oder dem Premierminister Winston Churchill, obwohl noch nie jemand das Zitat in einem ihrer Texte entdecken konnte.

Pseudo-Winston-Churchill-Zitat.


Seit 1928 wird dem kalifornischen Politiker Hiram Johnson der Aphorismus in der Version "The first casualty when war comes is truth", oder: "When war is declared, Truth is the first casualty", zugeschrieben, doch in jener Rede, in der er den Spruch angeblich gesagt hat, ist er laut The Oxford Dictionary of Proverbs nicht enthalten (Link).

Pseudo-Hiram-Johnson-Zitat.


Dass Lügen als Kampfmittel zu jedem Krieg gehören, hat vor ungefähr 2500 Jahren der chinesische Militärstratege Sunzi so formuliert:

  •  "Jede Kriegführung gründet auf Täuschung. Wenn wir also fähig sind anzugreifen, müssen wir unfähig erscheinen; wenn wir unsere Streitkräfte einsetzen, müssen wir inaktiv scheinen; wenn wir nahe sind, müssen wir den Feind glauben machen, daß wir weit entfernt sind; wenn wir weit entfernt sind, müssen wir ihn glauben machen, daß wir nahe sind." (Link)

 Und im 18. Jahrhundert zählt Samuel Johnson den Verfall der Wahrheitsliebe zu den Schrecken des Krieges:
  • "Among the calamities of war may be justly numbered the diminution of the love of truth, by the falsehoods which interest dictates and credulity encourages."
    Samuel Johnson, 11. November 1758, The Idler Nr. 30 (Link)


Pseudo-Muriel-Lester-Zitat.

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Manchmal wird der Spruch auch irrtümlich Lord Ponsonby zugeschrieben, aber Arthur Ponsonby hat in seiner 1928 erschienenen Dokumentation "Falsehood in War-Time" den Spruch nur als anonymes Sprichwort zusammen mit anderen Zitaten  als Motto seiner Studie präsentiert, und für keines seiner Mottos die Autorschaft beansprucht.
 

Arthur Ponsonby: "Falsehood in War-Time", 1928, Mottos:

Arthur Ponsonby (Lord Ponsonby of Shulbrede): "Falsehood in War-Time (1928) S. 11 (archive.org)
 

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Quellen:
Jennifer Speake: The Oxford Dictionary of Proverbs. Oxford University Press, Oxford: 2015, S. 327 (Link)
Fred R. Shapiro: The Yale Book of Quotations. Yale University Press, New Haven / London: 2014, S. 529 (Link)
E. D. Morel: "Truth and the War". Vorwort von Philip Snowden. The National Labor Press, London, 1. Auflage: Juli 1916, 3. Auflage: 1918, S. XIII  (Link), (Link)
"The Universal Magazine of Knowledge and Pleasure." J. Hinton, Band 23, London: 11. November 1758, The Idler (Samuel Johnson) Nr. 30, S. 238  (Link) auch: The Idler Nr. 30  (Link)  
Wikiquote
Arthur Ponsonby (Lord Ponsonby of Shulbrede): "Falsehood in War-Time: Containing an Assortment of Lies Circulated Throughout the Nations During the Great War" , George Allen a. Unwin, London: (EA 1928) 10. Auflgage 1940, S. 11 (archive.org)
Garson O' Toole: "Truth Is the First Casualty in War." 2020  (quoteinvestigator.com)

 
Beispiele für falsche Zuschreibungen:
Kipling: Christoph Schult: "Kriegspropaganda: Lügen für den Sieg", Der Spiegel, 10. Oktober 2001 (Link) 
Chruchill: (Link)

Tassilo Wallentin: "Lüge in Kriegszeiten" Kronen Zeitung, 15. Mai 2022 (Link)
Aischylos: Die Presse, 10. März 2012 (Link)(Link)
 
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Dank:
Ich danke Ralf Bülow für seine Hinweise.

In Arbeit. Letzte Änderung: 3/10 2019, 20/01/ 2022; 7/10 2022 (Garson O'Toole, Ponsonby).


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Dienstag, 24. Oktober 2017

"Es wird die Zeit kommen, da das Verbrechen am Tier genauso geahndet wird, wie das Verbrechen am Menschen." Leonardo da Vinci (angeblich)

Pseudo-Leonardo-da-Vinci-Zitat.

Dieses berühmte Zitat stammt aus dem im Jahr 1900 erschienem historischen Roman "Leonardo da Vinci" von Dmitri Mereschkowski . - In den Schriften Leonardo da Vincis wurde dieses Zitat allerdings nie gefunden (Link).

 Übersetzungen des russischen Leonardo-da-Vinci-Romans:

  •  "Der Meister [Leonardo da Vinci] leidet es nicht, daß man einem lebenden Wesen irgendwelchen Schaden zufügt, selbst nicht den Pflanzen. Zoroastro erzählte mir, daß er schon seit seiner frühesten Jugend aus diesem Grunde kein Fleisch genießt: es werde eine Zeit kommen, meine er, da alle Menschen, gleich ihm, sich mit Pflanzenkost begnügen und das Schlachten der Tiere als ein ebenso großes Verbrechen ansehen würden wie den Mord an einem Menschen."   
    Dmitri Sergejewitsch Mereschkowski: "Leonardo da Vinci", Roman
    (Link) 
  • "The master [Leonardo da Vinci] permits harm to no living creatures, not even to plants. Zoroastro tells me that from an early age he has abjured meat, and says that the time shall come when all men such as he will be content with a vegetable diet, and will think on the murder of animals as now they think on the murder of men."
    Dmitry Sergeyevich Merezhkovsky: "The Romance of Leonardo da Vinci", (Link)
Aus dieser Passage des Romans von Mereschkowski entwickelten sich seit den 1960er Jahren folgende 

Pseudo-Leonardo-da-Vinci-Zitate:

  • "Es wird die Zeit kommen, in welcher wir das Essen von Tieren ebenso verurteilen, wie wir heute das Essen von unseresgleichen, die Menschenfresserei, verurteilen."
  • "Es wird die Zeit kommen, da das Verbrechen am Tier ebenso geahndet wird, wie das Verbrechen am Menschen."
  • "Ich habe schon in jüngsten Jahren dem Essen von Fleisch abgeschworen, und die Zeit wird kommen, da die Menschen wie ich die Tiermörder mit gleichen Augen betrachten werden wie jetzt die Menschenmörder."

Pseudo-da-Vinci quote.

  •  "The time will come when men such as I will look upon the murder of animals as they now look on the murder of men."  (Link)
  • "I have from an early age abjured the use of meat, and the time will come when men such as I will look on the murder of animals as they now look on the murder of men."
Das Zitat ist falsch, aber Leonardo da Vinci war nach dem Zeugnis eines Zeitgenossen, des Forschungsreisenden Andrea Corsali, wirklich das, was man seit dem 19. Jahrhundert einen "Vegetarier" nennt.

Über die Bewohner der indischen Region Gujarat ("Heiden, genannt Guzzarati") schreibt der italienische Entdeckungsreisende Andrea Corsali 1515 in einem langen Brief aus Indien an Lorenzo de' Medici
  • "Sie ernähren sich von nichts, das Blut enthält, und man lässt unter ihnen auch nicht zu, dass man irgendeinem beseelten Wesen schadet, so wie unser Leonardo da Vinci: sie leben von Reis, Milch und anderen unbeseelten Lebensmitteln."
  • "Non si cibano di cosa alcuna che tenga sangue, né fra essi loro consentano che si noccia ad alcuna cosa animata, come il nostro Leonardo da Vinci: vivono di risi, latte e altri cibi inanimati." 
    Andrea Corsali, Cochin, Indien, 1515 (Link)
Dieses Satz ist meines Wissens die einzige einzige präzise zeitgenössische Quelle für die Vermutung,  Leonardo da Vinci sei Vegetarier gewesen, und wird meistens in verkürzter Form (Link) zitiert, und in phantasievollen englischen Übersetzungen sowie in der italienischen Fassung mit dem Tippfehler "come iT nostro" (Google) verbreitet.

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Quellen:
Das Falschzitat steht in vielen Online-Zitatesammlungen (Google)
Leonardo Da Vinci: "The Notebooks of Leonardo Da Vinci",  A. A. Khan, General Press, e-book, New Dehli: 2014 Google books
Dmitri Sergejewitsch Mereschkowski: "Leonardo da Vinci. Historischer Roman aus der Wende des 15. Jahrhunderts." Übersetzt von Carl von Gütschow. Schulze, Leipzig: 1903. Google books
"Relazioni di viaggiatori", Volume II. Hrsg. und illustriert von Luigi Carrer, Co'tipi del Gondoliere, Venezia: 1846, S. 65 Brief von Andrea Corsali
"Was Leonardo a Vegetarian?" 22. Februar 2017 (Link) (mit einigen Ungenauigkeiten)
David Hurwitz: "Leonardo da Vinci's Ethical Vegetarianism", 19. Juli 2002 (Link)
Wikiquote
Wikiquote English 
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Dank:
Ich danke Eduard Habsburg für die heikle Übersetzung aus dem Italienischen (Twitter). Auch  Wikiquote war sehr hilfreich.

"Wenn die Welt untergeht, dann gehe ich nach Mecklenburg, denn dort geht sie 100 Jahre später unter." Otto von Bismarck (angeblich)

Dieser alte Berliner Witz wird  Otto von Bismarck, Karl Kraus, Gustav Mahler und in einigen Varianten auch Hegel, Heinrich Heine, Abraham Lincoln und Mark Twain unterschoben.

 Erstmals nachweisbar ist der Witz im Jahr 1837:
  • "Was wirst Du machen, wenn die Welt untergeht?" -
    "Da gehe ich nach Königsberg, da kommt Alles 50 Jahre später!"
    Berliner Witz, 1837
    Neue Zeitschrift für Musik, Mainz, 12. Dezember 1837 Anno

Otto von Bismarck wird der Spruch laut Google-Suche fünfzig Jahre nach seinem Tod erstmals zugeschrieben (Link):
  
  • 1954: "Die Kollegen aus Sachsen möchte ich fragen, ob sie den Ausspruch von Bismarck kennen: 'Wenn die Welt untergeht, dann gehe ich nach Mecklenburg, denn dort geht sie 100 Jahre später unter.'" (Link)
  • "Wenn einmal die Welt untergeht, geht Mecklenburg 50 Jahre später unter." 
  • "Ein Mensch, der den Weltuntergang ohne Schädigung überstehen wolle, täte gut daran, sich in Mecklenburg niederzulassen, denn dort merke man das öffentliche Geschehen erst ein Jahrhundert später ..." 
  • "Wenn die Welt untergeht, sollte man nach Mecklenburg gehen, da passiert alles 100 Jahre später."
  • "Many citizens in the south of the GDR during the Wende seemed to believe in Bismarck's alleged dictum: 'If the end of the world is nigh, I'll go to Mecklenburg WestPomerania, for everything happens there 100 years later than elsewhere."  (Link) 
  • "'When the end of the world comes, I shall go to Mecklenburg because there everything happens a hundred years later.' Otto von Bismarck" (Link)
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Englische Varianten:
  • "A seniour citizen of Lousiana was overheard saying: 'When the end of the world comes, I hope to be in Louisiana.' When asked why, he replied, 'I'd rather be in Louisiana 'cause everythang happens in Louisiana 20 years later than in the rest of the world'." (Link)
  • "Regarding the year 2000, a senior at University of Vermont was overheard saying "when the end of the world comes, I hope to be in "Vermont." When asked why, he stated that everything happens here 20 years later than the rest of the civilized world." (Link)
  • "'When the end of the world comes, I want to be in Cincinnati. Everything happens 10 years later there.' Attributed to Mark Twain" (Link)
  • "Wasn't it Heine who once said that if the end of the world was nigh, he would immediately emigrate to Holland because everything happens 50 years later there?"   (Link)
  •  "At the end of the world, go to Bukhara,” the Druse once seriously advised him. “Everything happens fifty years later there." (Link)
  •  As Hegel put it: "If the end of the world is imminent go to the Netherlands: everything happens there 50 years later!" (Link)
  • "In the nineteenth century the German poet Heinrich Heine remarked that if the end of the world were announced he would go to Holland because everything happens fifty years later there." (Link)
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Quellen:
Google
Neue Zeitschrift für Musik, Mainz, 12. Dezember 1837, Anno

"Wenn ihr eure Augen nicht gebraucht, um zu sehen, werdet ihr sie brauchen, um zu weinen." Jean Paul Sartre (angeblich)

 
Pseudo-Jean-Paul-Sartre quote.

Der Spruch wird seit 1946 dem deutschen Schriftsteller Jean Paul zugeschrieben, und erst ab etwa 2005 (Link) auch dem französischen Philosophen Jean Paul Sartre.

Er wird also offenbar irrtümlich Jean Paul Sartre unterschoben, auch weil kein ähnlicher Satz von ihm auf Französisch zu finden ist. Namensähnlichkeiten führen öfters zu falschen Zitat-Zuschreibungen.

Warum dieses Pseudo-Sartre-Zitat bei Impfgegnern und AfD-Ideologen (Link) besonders beliebt ist, weiß ich nicht.

Ob der Spruch auch Jean Paul nur unterschoben wurde, kann ich nicht mit Gewissheit sagen, denn er wurde ihm von einem ernstzunehmenden Mann erstmals zugeschrieben, dem christlichen Philosophen, Pädagogen und Ethiker Friedrich Wilhelm Foerster

Der heute vergessene deutsche Philosoph hatte die Auszeichnung, 1933 bei nationalsozialistischen Studenten gemeinsam mit Sigmund Freud, Heinrich Mann, Karl Marx, Alfred Kerr und Kurt Tucholsky "als undeutscher Geist" besonders verhasst zu sein. 

Bücher Foersters wurden nach dem einfältigen Slogan: "Gegen Gesinnungslumperei und politischen Verrat, Für Hingabe in Volk und Staat! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Heinrich Friedhelm Förster", auf einem Berliner Nazi-Scheiterhaufen am 10. Mai 1933 verbrannt (Link).

Im Oktober 1946, am Ende des Vortrags Friedrich Wilhelm Foersters: "Warnung vor Illusionen in der deutschen Frage", in dem er - gegen Winston Churchills Vorschlag - vor einer vorschnellen Aufnahme des kriminell gewordenen Deutschland in eine europäische Gemeinschaft warnt, taucht das Jean-Paul-Zitat erstmals auf und wird im 20. Jahrhundert einmal irrtümlich einer Figur aus Thomas Manns 'Zauberberg' zugeschrieben und sonst nur Jean Paul (Google books).

Da ich das Zitat nach längerer Suche in keinem Werk Jean Pauls gefunden habe, wäre ich überrascht, wenn es jemand in seinen Schriften nachweisen könnte.  

Varianten:
  • "Wenn ihr eure Augen nicht braucht, um zu sehen, werdet ihr sie brauchen, um zu weinen."
  • "Wenn Ihr Eure Augen nicht gebraucht, um zu sehen, so werdet Ihr sie eines Tages gebrauchen, um zu weinen."
  • "Wenn Ihr Euere Augen nicht gebraucht, um zu sehen, werdet Ihr sie gebrauchen müssen, um zu weinen."
  • "Wenn Ihr nicht Augen habt, um zu sehen, werdet Ihr Augen haben, um zu weinen."
  • "Wenn ihr eure Augen nicht gebraucht, um zu sehen, werdet ihr sie brauchen, um zu weinen."
  • "Wenn Ihr heute die Augen nicht gebraucht um zu sehen, werdet Ihr sie morgen brauchen um zu weinen!"
  • "If you do not use your eyes to see with, you will need them to weep with!" Jean Paul 
  • "If you do not use your eyes to see you WILL use them to weep / cry ." Jean Paul
  • "If you do not use your eyes to see, you will need them to weep!" J.P. Sartre 

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Quellen:
 Google, 2005: Google 
Google books
Twitter
"Wer Merkel wählt, wählt den endgültigen Selbstmord Deutschlands. Offener Brief an alle Angela Merkel-Wähler von Frank Haubold". "Philosopia perennis", 18. August 2017  (Link)  
Friedrich Wilhelm Foerster: "Warnung vor Illusionen in der deutschen Frage." Neue Zürcher Zeitung, 27. Oktober 1946 (noch nicht überprüft.)
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Dank:
Ich danke Ralf Bülow und Basso Continuo sehr für Ihre Hinweise und Recherchen.

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Artikel in Arbeit.

"Die Abschaffung der Nation ist die europäische Idee!" Walter Hallstein (angeblich)

Ulrike Guérot und Robert Menasse haben diesen Spruch 2013 Walter Hallstein, dem ersten Präsidenten der EWG, der ersten Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, zugeschrieben.

Walter Hallstein (zugeschrieben von Robert Menasse):
  1. "Die Abschaffung der Nation ist die europäische Idee." 
  2. "Das Ziel des europäischen Einigungsprozesses ist die Überwindung der Nationalstaaten."
  3. "Ziel ist und bleibt die Überwindung der Nation und die Organisation eines nachnationalen Europa."
Der Historiker Heinrich August Winkler hat allerdings keines dieser drei angeblichen Walter-Hallstein-Zitate in den Reden und Schriften dieses deutschen Europapolitikers gefunden (Link).

Wenn nicht bald ein Nachweis für diese drei Zitate geliefert wird, muss man davon ausgehen, dass sie Hallstein fälschlich zugeschrieben wurden.

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Nachtrag, 2. Januar 2019


Inzwischen haben Robert Menasse und Ulrike Guérot auf Nachfragen des "WELT"-Journalisten Ansgar Graw bestätigt, dass Robert Menasse diese drei Zitate Walter Hallstein unterschoben hat.

Der Historiker Hans-Joachim Lang hat auch herausgefunden, dass die Behauptung Menasses, Walter Hallstein habe eine Antrittsvorlesung in Auschwitz gehalten, nicht der Wahrheit entspricht.

Wahr ist, dass Walter Hallstein nie in Auschwitz gesprochen hat. "Das Historische Archiv der EU in Brüssel teilte Lang nach Rücksprache mit dem Bundesarchiv in Koblenz mit, von einer Rede Hallsteins in Auschwitz gebe es keine Spur", schreibt Patrick Bahners in der FAZ vom 2. Januar 2019 (Link).


 Interview mit Robert Menasse, 25. Februar 2018


  • Niedermair: Im Roman gibt es einen Beamten der Europäischen Kommission, der die letzten Überlebenden der Shoa als Testimonials für die Europäische Idee bei einem Jubiläums-Fest der Kommission auftreten lassen will. Gab es diesen Gedanken wirklich?

    Menasse:
    Der erste Kommissionspräsident war Walter Hallstein. Er hat seine Antrittsrede in Auschwitz gehalten. Da sagte er: Dieser Ort, das Vernichtungslager Auschwitz, ist zur Chiffre für die radikalste Konsequenz des Nationalismus geworden. Zugleich ist just hier die Idee von nationaler Identität auch vernichtet worden - denn hier war es egal, ob man Deutscher, Pole, Spanier, Österreicher, Russe, Italiener oder was auch immer war, hier lebten alle im Schatten desselben Todes und hier vereinte alle derselbe Traum: ein Leben auf diesem Kontinent in Rechtssicherheit, Friede und Würde. Und deshalb, sagte Hallstein, beginnen wir das Europäische Einigungsprojekt hier an diesem Ort, im Vernichtungslager Auschwitz. Das steckt noch tief in den Eingeweiden der Europäischen Kommission, auch wenn es von den politischen Eliten Europas, den Staats- und Regierungschefs, und von der europäischen Öffentlichkeit eigentlich vergessen wurde. 

    Peter Niedermair: "Interview mit Robert Menasse - Das Prägende einer Epoche erzählen", 25. Februar 2018,  kulturzeitschrift.at/

Robert Menasse beklagt in diesem Interview, dass die Eliten Europas eine Tatsache vergessen haben, die er vor 5 Jahren erfunden hat.

Ähnlich konfus versuchte Menasse am 23. Dezember 2018 in der "Welt" seine erfundenen Zitate zu rechtfertigen:
  •  "Die Quelle (Römische Rede) ist korrekt. Der Sinn ist korrekt. Die Wahrheit ist belegbar. Die These ist fruchtbar. Was fehlt, ist das Geringste: das Wortwörtliche." Robert Menasse

    (Wahr ist das Gegenteil: Es gibt keine Quelle. Die angegebene Quelle stimmt nicht. Der Sinn ist nach dem Urteil Heinrich A. Winklers entstellt. Die These ist problematisch. Der Wortlaut ist bei Zitaten das Wichtigste.)
  • "Seine Form des Zitierens sei 'nicht zulässig – außer man ist Dichter und eben nicht Wissenschaftler oder Journalist'. Nach den 'Regeln von strenger, im Grunde aber unfruchtbarer, weil immer auch ideologisch gefilterter Wissenschaft' seien die Zitate 'nicht ‚existent‘, aber es ist dennoch korrekt, und wird auch durch andere Aussagen von Hallstein inhaltlich gestützt. Was kümmert mich das ‚Wörtliche‘, wenn es mir um den Sinn geht.'"
    Robert Menasse zitiert von Ansgar Graw

    Ansgar Graw: "Menasses erfundene Zitate. 'Was kümmert mich das Wörtliche'", WELT, 23. Dezember 2018  (Link)

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Nachtrag, 8. Januar 2019

 

Falsche Zitate werden oft mit dem Argument verteidigt, sie seien ja sinngemäß wahr und die unterschobenen Sätze hätten so gesagt werden können.
  • "Aber warum habe ich den Satz in Anführungszeichen gesetzt? Weil es Hallsteins Gedanke war, weil ich ihn nicht zuletzt ihm verdanke und nicht als meinen ausgeben wollte. Die Anführungszeichen waren, vom wissenschaftlichen Standpunkt betrachtet, ein Fehler. Dafür entschuldige ich mich, das tut mir leid, niemand ist unglücklicher über diesen Fehler (und den meine Arbeit beschädigenden Wirbel) als ich."

    Robert Menasse: "Was heißt da 'Betrug'?" Die Presse, 5. Januar 2019   diepresse.com 
Auch der Miteigentümer des Spiegel-Verlags, Jakob Augstein ("Ich verstehe die Aufregung um Menasse  nicht"), suggerierte, man dürfe eine Aussage unterschieben, wenn sie jemand gesagt haben könnte oder gar gesagt haben müsste.

  • "Hallstein hätte sagen können und müssen, was Menasse ihm in den Mund legt. Hier ist die Wirklichkeit Schuld, nicht die Literatur." Jakob Augstein, 7. Januar 2019 Twitter
Diese wohl ironische Aussage Augsteins kann weder ernst gemeint noch ernst genommen werden, da sie Verdrehungen und  Lügen rechtfertigt. Würde Augstein meinen, was er sagt, wäre das Motto seiner Rudolf  Augstein Stiftung: "Sagen, was ist", nur ein Werbeslogan und kein Prinzip.

In der Debatte um Menasses Falschzitate melden sich auch Leute zu Wort, die meinen, Heinrich August Winkler habe Menasses Roman "Die Hauptstadt" kritisiert, was nicht stimmt. Winkler bezweifelte die Authentizität von Zitaten, die vier Jahre vor dem Roman in politischen Texten  erschienen sind.

Nach Gesprächen mit der Landesregierung von Rheinland-Pfalz, die in den letzten Tagen mehrfach aufgefordert wurde, den Carl-Zuckmayer-Preis an Robert Menasse am 18. Januar 2019 doch nicht zu verleihen, entschuldigte sich Robert Menasse am 7. Januar 2019 für seine falschen Walter-Hallstein-Zitate schließlich mit folgenden Worten:

  • "Es war ein Fehler von mir, Walter Hallstein in öffentlichen Äußerungen und nicht-fiktionalen Texten Zitate zuzuschreiben, die er wörtlich so nicht gesagt hat. Es war unüberlegt, dass ich im Vertrauen auf Hörensagen die Antrittsrede von Hallstein in Auschwitz verortet habe. Diese hat dort nicht stattgefunden. Das hätte ich überprüfen müssen. Ich habe diese Fehler nicht absichtsvoll und nicht mit dem Ziel der Täuschung begangen. Ich hielt diese Geschichte für ein starkes symbolisches Bild des europäischen Einigungsprojekts, das doch zweifellos mit dem Schwur ‘Nie wieder Auschwitz‘ verbunden ist. In meinem Roman ist das stimmig, aber die Vermischung von literarischen Fiktionen mit Äußerungen in europapolitischen Diskussionen bedauere ich sehr und entschuldige mich bei allen, die sich getäuscht fühlen".

    Robert Menasse, zitiert in der Presseerklärung der Landesregierung Rheinland-Pfalz zum Carl-Zuckmayer-Preis 2019: "Vorbehaltlose Anerkennung von Fakten gehört zum Wertefundament unserer liberalen Öffentlichkeit", 7. Januar 2019 rlp.de/aktuelles

 


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Quellen:
Ulrike Guérot, Robert Menasse: "Manifest für die Begründung einer Europäischen Republik." Die Presse, 23. März 2013 (Link)
Ulrike Guérot, Robert Menasse: "Es lebe die europäische Republik!" Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. März 2013 (Link)
Robert Menasse: "Kritik der Europäischen Vernunft." Rede im Europäischen Parlament anlässlich der Feier „60 Jahre Römische Verträge“, gehalten  am 21. März in Brüsssel, Suhrkamp, Frankfurt: 2017 (pdf)
Heinrich August Winkler: "Zerbricht der Westen?: Über die gegenwärtige Krise in Europa und Amerika." C.H. Beck, München: 2017 Ebook (ohne Seitenangabe) (Link)
Heinrich August Winkler: "Europas falsche Freunde." Spiegel, 43/217, 23. Oktober 2017 (Link)
Benedict Neff: "Ich kann vor diesem neuen deutschen Grössenwahn nur warnen", Interview mit Heinrich August Winkler, NZZ, 4. Oktober 2017 (Link)
Peter Niedermair: "Interview mit Robert Menasse - Das Prägende einer Epoche erzählen", 25. Februar 2018,  kulturzeitschrift.at
Ansgar Graw: "Menasses erfundene Zitate. 'Was kümmert mich das Wörtliche'", WELT am Sonntag, 23. Dezember 2018  (Link)
Oliver Pink: "Fühlen, was sein sollte. Journalismus sollte auf Fakten statt auf Fiktion beruhen. Eine politische Bewegung erst recht. Anmerkungen zu Menasse, Relotius und Co.", Die Presse, 26. Dezember 2018 (Link)
Ansgar Graw: "Menasses Co-Autorin sagt, sie wusste nichts von falschen Zitaten", WELT, 29. Dezember 2018 (Link)
Tobias Blanken: "Die Wahrheit ersäufen", 29. Dezember 2018,  salonkolumnisten.com
Patrick Bahners: "Der Bluff des Robert Menasse", FAZ, 2. Januar 2019 (Link)
Robert Menasse: "Was heißt da 'Betrug '?" Die Presse, 5. Januar 2019   diepresse.com;  Nachdruck von Robert Menasse: "Ein Gedanke, prägnant zusammengefasst", WELT, 4. Januar 2019 (Link) 
Landesregierung Rheinland-Pfalz zum Carl-Zuckmayer-Preis 2019: "Vorbehaltlose Anerkennung von Fakten gehört zum Wertefundament unserer liberalen Öffentlichkeit", 7. Januar 2019 rlp.de/aktuelles