Mittwoch, 18. Oktober 2017

„Wer die Wahrheit beschreiben will, überlasse die Eleganz dem Schneider.“ Albert Einstein (angeblich)


Pseuo-Albert-Einstein quote.

Albert Einstein hat dieses Bonmot so ähnlich vom Wiener Physiker Ludwig Boltzmann übernommen, wie er im Vorwort seiner 'gemeinverständlichen' Ausgabe der 'speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie' 1916 erklärt.

Doch schon 1921 unterschlägt ein anonymer "Fachgelehrter" den Namen "Boltzmann" in einem Artikel gegen den Wiener "Einsteinrummel" und schreibt das Zitat, so wie später noch viele andere, fälschlich Albert Einstein zu.

Albert Einstein, 1916:
  • "Im Interesse der Deutlichkeit erschien es mir unvermeidlich, mich oft zu wiederholen, ohne auf die Eleganz der Darstellung die geringste Rücksicht zu nehmen; ich hielt mich gewissenhaft an die Vorschrift des genialen Theoretikers L. Boltzmann, man solle die Eleganz Sache der Schneider und Schuster sein lassen."
    Albert Einstein, 1916 (Link)
Reichspost, 1921:
  • "Überhaupt die populären Bearbeitungen von Ensteins Lehren! Er selbst hat eine verfaßt, die kein Mensch versteht, wie Einstein selbst zugibt, der noch sagt, Eleganz sei die Sache der Schuster und Schneider. Merkwürdig, einen Newton, Galilei, Schopenhauer, Rob. Mayer versteht jedermann, desgleichen einen Darwin, Helmholtz usw.  Nur Herrn Einstein versteht man nicht, wo doch alles Goße, Wahre immer so einfach ist."
    Reichspost, Morgenblatt,  Viator (Psd.): "Einsteinrummel", 14. Januar 1921, S. 2  (Link)
Varianten des falschen Einstein-Zitats:
  • "Wenn du es nicht einfach erklären kannst, verstehst du es nicht gut genug. Wenn du die Wahrheit beschreiben willst, überlasse die Eleganz dem Schneider."
  • "Wenn du vorhast, die Wahrheit zu beschreiben, dann überlasse die Eleganz dem Schneider."
  • "If you are out to describe the truth, leave elegance to the tailor."
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Quellen:
Alber Einstein: Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie (Gemeinverständlich). (1916) 5. Auflage, Verlag von Friedr. Vieweg und Sohn, Braunschweig: 1920, Vorwort S. IIIf. (Link);
Anno
Reichspost, Morgenblatt,  Viator (Psd.): "Einsteinrummel", 14. Januar 1921, S. 2  (Link) 
Google books
Wikiquote

"Die Jungen siegen, wenn die Alten fallen." William Shakespeare (angeblich)

Die BILD-Zeitung brachte am 16. Oktober 2017 ein Shakespeare-Zitat (Link), das zwei Tage später von ein österreichischen Zeitung (Link) übernommen wurde. Der Journalist Franz Joseph Wagner hat das berühmte Zitat aus der Tragödie König Lear: "Die Jungen steigen, wenn die Alten fallen", etwas entstellt wiedergegeben. 

Der Spruch kommt aus dem Mund des miesen, unverschämten, aber attraktiven Edmund, dem unehelichen Sohn Gloucesters, des zweiten dummen Vaters der Tragödie.

William Shakespeare, King Lear, 3. Akt, 3. Szene / Edmund:
  • "The younger rises when the old doth fall." (William Shakespeare)
  • "Die Jungen steigen, wenn die Alten fallen." (Schlegel/Tieck; Baudissin)
  • "So steigt der Junge, wenn der Alte fällt." (Erich Fried)
  • "Die Jungen steigen, wenn die Alten stürzen." (Richard Flatter)
  • "Die Jungen siegen, wenn die Alten fallen." (Franz Joseph Wagner)

  • "EDMUND
    This courtesy, forbid thee, shall the duke
    Instantly know, and of that letter too.
    This seems a fair deserving, and must draw me
    That which my father loses—no less than all.
    The younger rises when the old doth fall."
    William Shakespeare: King Lear, 3. Akt, 3. Szene (Link), (Link)

  • "EDMUND
    Den Eifer, mit Vergunst, meld' ich sogleich
    Dem Herzog, und von jenem Brief dazu.
    Dies scheint ein groß Verdienst und soll mir lohnen
    Mit meines Vaters Raub, den Gütern allen:
    Die Jungen steigen, wenn die Alten fallen."
    Übersetzung: Schlegel/Tieck

    "EDMUND
    Von deinem Freundschaftseifer, dem verbotnen,
    Meld ich dem Herzog gleich, auch von dem Brief.
    Dies scheint ein groß Verdienst und soll mir lohnen
    Mit dem, was er verliert: den Gütern allen!
    Die Jungen steigen, wenn die Alten fallen."
    Übersetzung: Wolf Graf Baudissin (Link)
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Quellen:
Bild-Zeitung, 16. Oktober 2017  (Link)
Shakespeares sämtliche Dramen in vier Bänden. Schlegel-Tiecksche Übersetzung, 4. Band, Phaidon-Verlag, Stuttgart / Wien / New York: (o. D.) (Link)
Erich Fried: Shakspeare, 3. Band, Verlag Klaus Wagenbach,  Berlin: 1989
Richard Flatter: Shakespeare neu übersetzt. In sechs Bänden. 2. Band, Walter Krieg Verlag, Wien / Bad Bocklet / Zürich: 1953
Zeno.org.
Projekt Gutenberg 
sparknotes

 

Dienstag, 17. Oktober 2017

"Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut wird, ist es noch nicht das Ende." Pseudo-Oscar-Wilde-Zitat.

Pseudo-Oscar-Wilde-Zitat.
Dieses Bonmot, das wie eine Weisheit aus dem Buch Hiob klingt, wurde wahrscheinlich von dem Vater des brasilianischen Schriftstellers Fernando Sabino auf Portugiesisch geprägt.
Pseudo-John-Lennon-Zitat.
Auf Englisch und Deutsch taucht das Zitat erst im 21. Jahrhundert auf, entweder als anonymes Sprichwort, asiatische Weisheit oder es wird - immer ohne Angabe einer seriösen Quelle - Oscar Wilde (seit 2003) oder John Lennon (seit 2008) unterschoben. 




Entwicklung des Zitats von 1988-2013:


Das Pseudo-Oscar-Wilde-Zitat tauchte erstmals in dem 1988 erschienenen protugiesischen Buch "O tabuleiro de damas" ("Das Schachbrett") des brasilianischen Schriftstellers Fernando Sabino auf.

Sein Vater Domingo Sabino hatte ihn mit diesem inzwischen weltweit in vielen Sprachen beliebten Spruch einmal aufgemuntert. 

1988
  •  "O melhor, talvez, que me lembre, foi o que me disse um dia em que me encontrou entregue à aflição de espírito:

    'Meu filho,
    tudo no fim dá certo. Se não deu, é porque ainda não chegou ao fim.'"
    Fernando Sabino: "O tabuleiro de damas" Editora Record, Rio de Janeiro: 1988, S. 79 (quoteinvestigator)

    "Vielleicht das Beste, an das ich mich erinnere, ist, was er zu mir einmal sagte, als er mich niedergeschlagen sah:

    'Mein Sohn, am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut wird, ist es noch nicht das Ende.'"

 

1991
  • "Para lembrar uma frase do pai de Fernando Sabino, por quem tenho uma grande admiração: no fim tudo dá certo. Se não deu certo, é porque ainda não chegou ao fim."  (Link)

2000
  •  "Everything is OK in the end. If it's not OK, it's not the end." Anonym (Link)
    (Erste Erwähnung auf Englisch im Usenet. Ohne Zuschreibung.)
2003
  • "So we know, as someone said, everything will be okay in the end. If it's not okay, it's not the end!" Anonym (Link)

2003
  • "Am Ende wird alles GUT. Wenn es nicht gut wird ist es noch nicht das Ende. (Oskar Wilde)"
    muenchnersingles.de
    (Erste Zuschreibung an Oscar Wilde)
2008 
  • "Everything will be okay in the end. If it's not okay, it's not the end. (John Lennon)" doktorandenforum.de 
    (Erste Zuschreibung
    an John Lennon)
2010
  • "am ende wird alles gut und wenn es nicht gut ist, ist es noch nicht das ende (oscar wilde)"
    lehrerforen.de
2011
  • Sonny Kapoor: 'In India, we have a saying – everything will be all right in the end. So if it is not all right, it is not yet the end.'
    "The Best Exotic Marigold Hotel", Film (Link)
 

 Dieser Dialog im Film "The Best Exotic Marigold Hotel" suggeriert, das brasilianische Bonmot sei eine alte indische Weisheit.

2012
  • "Bei Oscar Wilde las ich dazu den schönen Satz: »Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut ist, dann ist es nicht das Ende.« " (Link)
2012
  • "Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut ist, dann ist es noch nicht das Ende. (indisches Sprichwort)" (Link)
2013
  • "'... everything will be okay in the end and if it's not okay it's not the end' (attributed to John Lennon among others)" (Link)
 

 

Varianten

  • "No fim, tudo dá certo. Se não deu, ainda não chegou ao fim." Fernando Sabino
  • "No fim tudo dá certo, se não deu certo é porque ainda não chegou ao fim." Fernando Sabino
  • "It will turn out fine in the end. If it's not fine, it's not the end."
  • "Everything is going to be fine in the end. If it's not fine it's not the end."
  • "In the end, everything will be ok. If it's not ok, it's not yet the end."
  • "Everything is OK in the end. If it's not OK, it's not the end."
  • "Everything will be okay in the end. If it's not okay, it's not the end." 
  • "Am Ende wird alles gut! Und wenn es nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende."
  • "Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut ist, dann ist es noch nicht das Ende."
Auf Deutsch oder Englisch ist das Zitat in keinem digitaliserten Text vor dem 21. Jahrhundert zu finden. Auch deswegen kann es nicht von Oscar Wilde oder John Lennon stammen. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass es noch jemand an versteckter Stelle in ihren Schriften entdeckt, da schon Viele vergeblich gesucht haben. 

Es ist auch sehr unwahrscheinlich, dass jemals eine seriöse Quelle für die Behauptung gefunden wird, das Zitat sei eine indische oder asiatische Weisheit, da diese Zuschreibungen alle erst ein paar Jahre alt und aus philologisch nicht vertrauenswürdigen Quellen sind.






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Quellen: 
Fernando Sabino: "O tabuleiro de damas" Editora Record, Rio de Janeiro: 1988, S. 79 [Zitiert nach Garson O'Toole (quoteinvestigator) ]
Fernando Tavares Sabino: "Zélia, uma paixão - biografia", Record: 1991, S. 249  (Link)
Fernando Tavares Sabino: "No fim dá certo - crônicas", Record: 1998, S. 217 (Link)
Google
 Wikiquote:  "attributed to Lennon, but no verifiable source found."
Wikiquote portugiesisch
 Quora
2003: Frühe Zuschreibung an Oscar Wilde: Anka 27.08.2003 14:00 Uhr muenchnersingles.de 
2008: Früheste Zuschreibung an John Lennon:  holladiewaldfee  04.11.2008, 17:11 doktorandenforum.de
2011: "The Best Exotic Marigold Hotel", Film, 2011, UK, Regie: John Madden (Link
shepherdproject.com/the-best-exotic-marigold-hotel-review/ 
2015: Asiatische Weisheit:  (Link)
Falsche Zuschreibungen findet man auch in vielen unseriösen Zitatsammlungen (Google). 
Garson O' Toole: "Everything Will Be OK in the End. If It’s Not OK It’s Not the End John Lennon? Oscar Wilde? Fernando Sabino? Paulo Coelho? Domingos Sabino? Anonymous?" 2023 (quoteinvestigator.medium.com)
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1967?: (Link) 

Dank:
Ich danke den Autorinnen von Wikiquote, (Nachtrag:) und Garson O'Toole für seine zusätzlichen Funde.
 
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Artikel in Arbeit. Letzte Änderung: 10/9 2018; 31/1 2023 (O'Toole, Vater Sabinos1988)

"Moderne Musik ist Instrumentestimmen mit Noten." Igor Strawinsky (angeblich)

Pseudo-Strawinsky quote.
Dieses Zitat wird seit 1974 dem Schauspieler und Komiker Peter Sellers zugeschrieben und erst im 21. Jahrhundert manchmal im Internet Igor Strawinsky.

Da es ihm erst so lange nach seinem Tod immer ohne Quellenangabe - anscheinend nur auf Deutsch - und niemals von anerkannten Kennern seines Werks und niemals von Musikern, Kultur- oder Musikwissenschaftlerinnen zugeschrieben wird, wurde dieses Zitat mit großer Wahrscheinlichkeit irrtümlich Igor Strawinsky unterschoben. Ob es auch Peter Sellers nur unterschoben wurde, kann ich nicht sagen. Auf Englisch oder Französisch habe ich dieses Zitat nicht gefunden.

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Quellen:
Google
archive.org
Südwestrundfunk, SWRClassic, Stuttgart, 17. Oktober 1917 Tweet
Markus M. Ronner: "Die Treffende Pointe: humoristisch-satirische Geistesblitze des 20. Jahrhunderts nach Stichwörtern alphabetisch geordnet" Ott Verlag Thun, Thun: 1974; S. 145, 212. Auf Seite 214 steht direkt über dem Peter-Sellers-Zitat ein Zitat von Igor Strawinksi: Vielleicht war das die Ursache der Verwechslung. (Link)
Zitate.eu: Sellers
Zitate.eu: Strawinsky

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Dank:
Ich danke @PregerPreger für den Hinweis auf dieses Falschzitat.

Sonntag, 15. Oktober 2017

"Die Macht geht vom Volk aus." Österreichische Verfassung (angeblich); Bertolt Brecht (angeblich)




Österreichische Bundesverfassung, 1930/1995, Artikel 1
  • "Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus."
-

Deutsches Grundgesetz, Artikel 20
  • "(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
      (2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt."
-
Bertolt Brecht:

DREI PARAGRAPHEN DER WEIMARER VERFASSUNG 

"PARAGRAPH I 

  •  I
    Die Staatsgewalt geht vom Volke aus.

    — 
    Aber wo geht sie hin?
    Ja, wo geht sie wohl hin
    Irgendwo geht sie doch hin!
    Der Polizist geht aus dem Haus.
    Aber wo geht er hin?
    usw.
    ..." (Link)
Bertolt Brechts Worte: "Die Staatsgewalt geht vom Volke aus. —  Aber wo geht sie hin?", werden manchmal in der Version, "Alle Macht geht vom Volk aus. —  Aber wo geht sie hin?", zitiert.
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Quellen:
Österreichische Bundesverfassung, BGBl. Nr. 1/1930 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 1013/1994, Artikel 1 (Link)
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Stand 2014, Artikel 20  (Link) 
Hans Peter Lehofer, Twitter, 15. Oktober 2017 (Link)
Bertolt Brecht: Gedichte in einem Band, Suhrkamp, Frankfurt: 1981, S. 378 (Link); (de.scribd.com

Donnerstag, 12. Oktober 2017

"Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind." Winston Churchill (angeblich)

Winston Churchill hat das 1947 im britischen Unterhaus gesagt, allerdings mit dem Zusatz: "it has been said that". Durch Churchill wurde der Aphorismus eines unbekannten Autors oder einer unbekannten Autorin auf der ganzen Welt bekannt, aber er hat ihn nicht geprägt.

  • "Many forms of Government have been tried, and will be tried in this world of sin and woe. No one pretends that democracy is perfect or all-wise. Indeed, it has been said that democracy is the worst form of government except all those other forms that have been tried from time to time."
    Winston Churchill: Rede im Unterhaus am 11. November 1947 Sitzungsprotokoll 
Varianten:
  • "In der Tat, es wurde gesagt, dass Demokratie die schlechteste aller Regierungsformen ist – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind."
     
  • "Die Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen, ausgenommen alle anderen."
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Quellen:
Wikiquote
Ralph Keyes: "The Quote Verifier: Who Said What, Where, and When." St. Martin's Griffin, New York: 2006, S. 43 (Link)
Winston Churchill: "Churchill by Himself." Herausgegeben von Richard M. Langworth, RosettaBooks: 2013, ebook, Stichwort "Democracy" (Link) 
PARLIAMENT BILL HC, Deb 11. November 1947, vol 444 cc203-321 (Link)

"Jeder Roman ist zu lang." Karl Kraus (angeblich)


Am 21. Dezember 2016 ist in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom Rezensenten eines Heimito-von-Doderer-Buches von Klaus Nüchtern dieses neue Pseudo-Karl-Kraus-Zitat in die Welt gesetzt  worden.

Ich hatte auf Twitter auf die Geburt dieses allerneuesten Karl-Kraus-Zitats hingewiesen.


"Am Anfang war das Wort – am Ende die Phrase." Karl Kraus (angeblich)

Der Aphorismus von Stanisław Jerzy Lec: "Am Anfang war das Wort – am Ende die Phrase" ("Na początku było Słowo – a na końcu Frazes", "At the beginning there was the Word—at the end just the Cliche") wird manchmal irrtümlich Karl Kraus zugeschrieben.

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Quellen:
Johannes John: Reclams Zitaten-Lexikon. Reclam, Stuttgart: 2014 (Link)
Stanisław Jerzy Lec: "Unkempt thougths", 1962, p. 71 (Link)
Juttas Zitateblog: "Am Anfang war das Wort, am Ende die Phrase", 2011 (Link)

"Das Chaos sei willkommen, die Ordnung hat versagt." Karl Kraus (angeblich)


 Nach einer Analyse des Zusammenbruchs der rigiden christlichen Sexualmoral, dieser 'Chinesischen Mauer', die Anfang des 20. Jahrhunderts ins Wanken kam, konstatierte Karl Kraus: "Und das Chaos sei willkommen; denn die Ordnung hat versagt."
Karl Kraus hat auf die kurze Pause, die das Semikolon befiehlt, Wert gelegt.
  • "Und das Chaos sei willkommen; denn die Ordnung hat versagt."
    Karl Kraus, 1909
 Das Zitat wird oft ironisch verwendet:
  • "Beim Betreten des Geschäftslokals fällt einem unwillkürlich der Literat Karl Kraus ein, der einmal meinte: 'Das Chaos sei willkommen, die Ordnung hat versagt.'"
    Kurier, 13. Januar 2013 (Link)
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Quellen:
Karl Kraus: "Die Fackel" Nr. 285-286, 1909, S. 16
Kurier, 13. Januar 2013 (Link)

Mittwoch, 11. Oktober 2017

"Größere Gegner gesucht." Inserat von Karl Kraus in der Zeitschrift "Die Fackel" (angeblich)

Entstelltes Karl-Kraus-Zitat.

Es stimmt nicht, dass in der 'Fackel' jemals ein Inserat mit den Worten "Größere Gegner gesucht" erschienen ist, wie man in der sorgfältig produzierten digitalen 'Fackel' der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Link) nachprüfen kann.

Vielleicht geht der verbreitete Irrtum auf eine Stelle in einem Essay des Journalisten Joachim Riedl zurück, der missverständlich schrieb, Kraus habe eine Glosse mit diesem Titel "inseriert":
  • "In eigener Sache hat Karl Kraus einmal in der Fackel in einem Glossen-Titel inseriert: »Größere Gegner gesucht.« Wissend, daß ihm auf Erden keiner erwachsen konnte, es sei denn der, dessen Name ihm die Sprache verschlug."
    Joachim Riedl, "Das Geniale, das Gemeine: Versuch über Wien", 1992, S. 121 (Link)
Doch der Titel der Glosse von Karl Kraus erschien nie als Inserat, steht im Singular: »Größerer Gegner gesucht«, und bezieht sich auf einen Berliner Leserbriefschreiber, der Karl Kraus - wie schon andere Verehrer zuvor - einen "größeren Gegner" als den berühmten Kritiker Alfred Kerr empfiehlt. Der Glossentitel hat also nichts mit dem Wissen von Karl Kraus zu tun, "daß ihm auf Erden" kein größerer Gegner "erwachsen konnte" (Joachim Riedl).

Zuschrift an Karl Kraus, Berlin, 15. September 1929:
  • "Man wünscht Ihrer wahrhaft kritischen Kraft u. Fähigkeit einen größeren Gegner; einen, der eine anständigere Art des Kampfes verbürgt. Sie kommen bei der Kleinheit u. Unfähigkeit Kerr’s, ein ethisches Niveau zu halten, selber in Gefahr, Ihre Stimme u. stahlharten Blick an ein Figürchen zu verlieren, das all dessen nicht würdig ist, nicht lohnt, u. — last not least — es nicht erträgt. — —"
Karl Kraus: "Die Fackel" Nr. 806-809, 1929, S. 5

Karl Kraus, 1928:

  • "Ich habe einen dieser Ratgeber, die mir einen »größeren Gegner« wünschen, um die umgehende Angabe der Adresse eines solchen gebeten, nicht ohne der Befürchtung Ausdruck zu leihen, daß im Falle der Vorrätigkeit vor der Größe die Gegnerschaft aufhören möchte."

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Quellen:
Google
Joachim Riedl: "Das Geniale, das Gemeine. Versuch über Wien." Piper Verlag, München / Zürich: 1992, S. 121 (Link)
Österreichische Akademie der Wissenschaften, AAC, DIE FACKEL  
Karl Kraus: "Die Fackel" Nr. 806-809, 1929, S. 5
Karl Kraus: "Die Fackel" Nr. 795-799, 1928, S. 68