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Dienstag, 16. Februar 2021

"Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Tiere ." Arthur Schopenhauer (angeblich)

Dieses ursprünglich französische Aperçu ist seit dem 19. Jahrhundert in vielen Sprachen und mehreren Varianten als Grabsteinspruch für Hunde, als Kalenderspruch in Amtszimmern, als Meme oder als Lebensmotto weit verbreitet und wird oft berühmten Personen untergeschoben, die für ihre Liebe zu Hunden bekannt sind.

Die beliebtesten Zuschreibungen (Schopenhauer, Friedrich d. Gr., Mark Twain) sind Erfindungen des 20. Jahrhunderts und konnten von der Zitatforschung in zeitgenössischen Quellen nicht nachgewiesen werden.

1) Von dem preußischen König Friedrich II. weiss man, dass er seine Hunde mehr als die Menschen mochte und dass er sein Grabmal auf der Terasse des Schlosses Sanssouci neben den Gräbern seiner Lieblingshunde anlegen ließ (Link)

Pseudo-Friedrich-II.-Zitat.

Wohl deswegen schien es mehr als 120 Jahre nach seinem Tod plausibel, der Ausspruch stamme von ihm. Aber es gibt keinerlei Belege dafür. 

Begonnen hat die falsche Zuschreibung an Friedrich II. um 1927 (Link), also ungefähr 140 Jahre nach seinem Tod, und auch der Anführer der Nationalsozialisten war der festen Überzeugung, das Zitat stamme von dem verehrten preußischen König:

  • "Von Zeit zu Zeit hob er [Hitler] seinen Blick zu dem Bildnis Friedrichs des Großen auf, das über seinem Schreibtisch hing, und wiederholte dessen Ausspruch: 'Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Hunde .'"
    Albert Zoller: "Hitler privat: Erlebnisbericht seiner Geheimsekretärin", Droste Verlag 1949, S. 230  (Link)

2) Ebenso bekannt ist die Zuneigung des Philosophen Arthur Schopenhauer zu seinen Pudeln, die er seit seiner Studienzeit bei sich hatte, und die er dem Umgang mit Menschen vorzog, doch er hat nie geschrieben, seit er die Menschen kenne, liebe er seine Hunde oder etwas Ähnliches.

Wilhelm Busch: "Schopenhauer" (Wikimedia).

Der Aphorismus wird ihm seit den 1930er Jahren in verschiedenen Varianten unterschoben und ist weder in seinen Texten noch in zeitgenössischen Quellen zu finden.


Pseudo-Arthur-Schopenhauer-Zitat.

3) In der englischsprachigen Welt wird das Zitat meistens Mark Twain zugeschrieben.

Pseudo-Mark-Twain-Zitat.

Aber wie der amerikanische Zitatforscher Garson O'Toole in seiner gründlichen Recherche zum Ursprung des Zitats herausgefunden hat, wurde es auch Mark Twain erst nach seinem Tod zugeschrieben und ist in seinen Texten, Briefen und Interviews unauffindbar (quoteinvestigator).
 

Pseudo-Vladimir-Putin-Zitat.


4) Entstanden ist der Aphorismus vor dem 19. Jahrhundert in Frankreich und bis zum Ersten Weltkrieg wurde er auch im deutschen Sprachraum durchwegs französischen Autorinnen und Autoren zugeschrieben.

Laut Recherchen des Technikhistorikers Ralf Bülow könnte der im Jahr 1762 verstorbene Dramatiker Crébillon einer der Ersten gewesen sein, der eine Variante dieses misanthropischen Aphorismus geprägt hat.

Im April 1780 erinnert sich der umgängliche französiche Revolutionär Mirabeau in einem Brief an seine Freundin Sophie an diesen Ausspruch Crébillons mit folgenden Worten:

  • "Ach. Dein Landsmann Crébillon hatte nicht so Unrecht. Als man ihn fragte, warum er beständig von Hunden umgeben sei, antwortete er: 'ich thue das, seit ich die Menschen kenne.'"
    Mirabeau, April 1780, S. 447  (books.google)
    "Hélas! ton compatriote Crébillon n'avait pas tort de répondre à ceux qui lui demandaient pourquoi il était toujours entouré de chiens: c'est depuis que je connais les hommes."


    Honoré-Gabriel Riqueti Mirabeau: Lettres originales de Mirabeau, écrites du donjon de Vincennes,1777-1780, Chez Rarnery, Paris: 1792, S. 256 (Link)

Eine frühe Variante des Zitats taucht im Jahr 1822 in den digitalisierten Texten auf, wie Garson O'Toole herausgefunden hat. Eine Frau habe kürzlich - zum Mißvergnügen des Redakteurs - gesagt:

1822

  • "Je mehr ich die Männer kenne, desto mehr mag ich die Hunde."
  • "Nous venons de recevoir le Miroir de la Somme, il contient les niaiseries suivantes: Une dame disait l’autre jour: plus je connais les hommes, mieux j’aime les chiens." (zitiert nach quoteinvestigator).

Jahrzehnte später wird dieser Ausspruch Madame de Madame de Staël, die im Jahr 1817 gestorben ist, zugeschrieben.

 1878

  •  "Plus je connais les hommes, plus j'admire les chiens. MADAME DE STAEL." (Link)

Ob Madame de Staël wirklich die unbekannte Dame war, von der in dem Artikel 1822 die Rede ist, ist ungewiss. 

1848 wird der Aphorismus einem "modernen Philosophen" zugeschrieben:

  • "Je m'éloignai, triste, et en murmurant cette pensée d'un philosophe moderne: Plus je connais les hommes , plus j'estime les chiens." (Link)  (archive.org)

In der Mitte des 19. Jahrhunderts haben die französischen Autoren Alphonse Toussenel und Alphonse de Lamartine unabhängig von einander den Aphorismus verwendet und dadurch zu dessen weiterer Verbreitung beigetragen, aber sie haben ihn so wenig geprägt wie Charles de Gaulle, der ihn 100 Jahre später zitiert hat.

 Ich folge hier der Einschätzung von Garson O'Toole, dessen 2018 publizierten Artikel mit den sorgfältigen Quellenangaben zu diesem Zitat ich nur empfehlen kann (quoteinvestigator).

Die französische Schauspielerin Sarah Bernhardt schreibt das Zitat in ihren Erinnerungen einer "berühmten Landsmännin", vielleicht also Madame de Staël oder Madame de Sévigné zu, und nicht Friedrich II., Schopenhauer oder Mark Twain.

1895

  • Sarah Bernhardt:
    "Was habe ich Menschen kennen gelernt in diesem alternden Jahrhundert! Aber,  weiß Gott, ich kann nur mit meiner berühmten Landsmännin sagen: 'Je mehr ich die Menschen kennen lerne, umsomehr liebe ich die Hunde.'"
    Wiener Sonn- und Montags-Zeitung, 5. August 1895, S. 2, Übersetzung: G. Engelsmann (Link)

 Ein Zoologe hält George Sand für die Urheberin des Zitats:

1898

  • "Seit ich die Menschen kenne , liebe ich die Hunde , war ein geflügeltes Wort von George Sand." (Link)

Um 1900 wurde der Aphorismus schon als Grabsteinspruch auf dem neuen Pariser Hundefriedhof gesehen:

1903 

  • [Grabsteinspruch :] "Je mehr ich die Menschen sehe, je mehr liebe ich meinen Hund."  (anno) 

 1922

  • Leo Slezak: "Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Tiere."  
    Leo Slezak: "Meine sämtlichen Werke." Ernst Rowohlt Verlag, Berlin: 1922, S. 186 (Link); 1926: (Link)

Erst nachdem der österreichische Tenor Leo Slezak  das französische Bonmot in seinen Memoiren und in einigen Zeitungsartikeln als sein Motto verkündet hat, wurde es erstmals Friedrich II. zugeschrieben:

1927

  • "Friedrich der Große hat einmal gesagt, seit er die Menschen kenne, liebe er die Hunde."
    Adolf Stein: "Berliner Funken", Brunnen Verlag / Karl Winckler, Berlin: 1927, S. 183 (Link)

1928

  • "Friedrich II. [...] seinem Ausspruch: 'Je näher ich die Menschen kennenlerne, desto mehr liebe ich dieHunde!'" (Link)

1930

  • "Ein altes Wahrwort sagt: 'Seitdem ich die Menschen kenne, habe ich die Hunde lieben gelernt.'" (Link)

 1931 wird ein alter arabischer Philosoph als Urheber des Zitats vermutet (Link).

Die meines Wissens erste irrtümliche Zuschreibung an Arthur Schopenhauer stammt vom damaligen Vizepräsidenten des Wiener Patentamts und stand in der katholischen Wiener Tageszeitung "Reichspost":

1932

  • "Von Schopenhauer soll der Ausspruch stammen: 'Ich kenne die Menschen, drum liebe ich die Hunde'".
    Reichspost, 3. Juli 1932, S. 16
      (Link)

 1949

  • "Diese Geraunze und Geraune erinnert an die alten Dichterworte: 'Je mehr ich die Menschen kennenlerne, desto mehr liebe ich die Tiere.'" (Link)

1949

  • "Von Zeit zu Zeit hob er [Hitler] seinen Blick zu dem Bildnis Friedrichs des Großen auf, das über seinem Schreibtisch hing, und wiederholte dessen Ausspruch : 'Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Hunde .'"
    Albert Zoller: "Hitler privat: Erlebnisbericht seiner Geheimsekretärin", Droste Verlag 1949, S. 230  (Link)

1951

  • "Der alte Fritz hat einmal gesagt: 'Seitdem ich den Menschen kenne, liebe ich die Hunde'."  (Link)

 1954

  • "Das vielzitierte, Friedrich dem Großen in den Mund gelegte Wort: 'Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Hunde,' stellt einen Gegensatz auf, der gar nicht besteht."  (Link)

1957

  • "Ein großer Tierfreund sagte einmal: 'Seitdem ich die Menschen kenne, liebe ich die Tiere.'"  (Link)

1963

  • Konrad Lorenz:  "Ein sentimentaler Menschenhasser hat den oft nachgeplapperten Aphorismus geprägt: 'Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Tiere '. Ich behaupte umgekehrt ..."
    Konrad Lorenz, Das sogenannte Böse, 1963, S. 344 (archive.org)

1964

  • "Damit deckt er Pseudowahrheiten sentimentaler Nörgler auf, die es sich mit Schopenhauers Wort 'Seitdem ich die Menschen kenne , liebe ich die Tiere' sehr leicht machen."
    Forum, 1964, S. 155 (Link)

 

1965

  • So daherreden heißt den Standpunkt des Spießers einnehmen, der da der Meinung ist: Seit ich die Menschen kenne , liebe ich die Tiere . (Link)

 

1967

  • "Ich darf in diesem Zusammenhang an einen Ausspruch Friedrich d. Gr. erinnern, der einmal gesagt hat: 'Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Tiere!'" 

1969

  • "Einen Ausspruch Friedrichs des Großen mißbrauchend, zu dessen Bild er bis zuletzt aufschaute, resignierte er völlig : 'Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Hunde.'" (Link)

1971

  • "Jetzt brauchte ich nur mit dem albernen pseudophilosophischen Satz zu schließen: 'Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Tiere.' Mein Ansehen bei allen Tierfreunden wäre gerettet." (Link)

1975

  • "Tiere körnen aber auch als Ersatz für gestörte zwischenmenschliche Beziehungen gesucht werden, etwa nach der Devise 'Weil ich die Menschen kenne, liebe ich die Tiere ', die übrigens von Friedrich II. stammen soll." (Link)

 1974

  • "Dolittle hat sich von den undankbaren Menschen ab und den dankbaren Tieren zugewandt, nach dem schönen Motto: seit ich die Menschen kenn, liebe ich die Tiere, das in vielen Amtsstuben neben dem Schäferhundsporträt hängt. (Link)

1978

  • "Oder von welch geheimnisvoller Häuslichkeit plaudert doch das Sprichwort: 'Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Türe!' "  (google.books)

1978

  • "'Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Hunde'  Stammt das von Schopenhauer? Oder war es Friedrich der Große?   'Keine Ahnung ...'"  (Link)

 

1981

  • "Die in ihrer Verabsolutierung zweifelhafte These Nitzsches [!]: ' Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Tiere !', wird hier – auf den Faschismus bezogen – zur überzeugenden Bildformulierung gehöht . "  (Link)
 
1981
  • "'Seit ich die Menschen kenne , liebe ich die Tiere', sagte Friedrich der Große, und es ist der innigste Wunsch der Deutschen, nicht mehr ohne die Gesellschaft von Schildkröten und Papageien, von Wildkatzen und Pavianen leben ..." (Link)
 
1982
  • "Was hat schon Schopenhauer gesagt: 'Seit ich Menschen kenne, liebe ich Tiere .'"  (Link)
 
1985
  • "Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Tiere “ ist ja der berühmte Plüschsofa-Spruch der Unpolitischen ."  (Link)
 
1987
  • "unterscheidet sie sich nicht prinzipiell von dem alten Spruch: Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Tiere." (Link)
1989 
  •  "(kalauer: seit ich die menschen kenne, liebe ich die türe.)  ( Reinhard Priessnitz )" (Link)   (Link)
1990
  • "Das offenkundige Ranggefälle zwischen Mensch und Tier erhielt einen neuen unaufkündbaren Verbindlichkeitscharakter, der selbst in Friedrichs des Großen Diktum, Seit ich die Menschen kenne , liebe ich die Tiere!' nicht annuliert wird." (Link)
1996
  • "An den Wänden hingen abgesägte Baumscheiben (vorwiegend Birke ?), in die Sprüche eingebrannt waren: 'Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Tiere.'"  (Link)
 1998
  •  "Friedrich der Große hatte es in seinem gelegentlich zitierten Wort in Umlauf gesetzt: Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Hunde; und neben seinen Lieblingshunden wurde er bekanntlich auf der Terrasse von Sanssouci beigesetzt." (Link)
2000
  •  "in seinem Zimmer hingen nicht weniger als sechzehn Kupferstiche von Hunden. 'Seit ich die Menschen kenne, liebe ich meine Hunde', bekannte Friedrich II." (Link)
 2019
  • "Ich zitiere Mark Twains Ausspruch 'Seitdem ich Menschen kenne, liebe ich Hunde' gerne und wiederholt in der Variation 'Seitdem ich Menschen kenne, liebe ich Pferde'".  (Link)
 
Erstaunlich ist, wie seit dem Ersten Weltkrieg bis heute der eindeutig französische Ursprung des Zitats im deutschen Sprachraum fast völlig verdrängt wurde.
 
 


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Quellen: 
Google  Zitat plus 'Schopenhauer': "Ungefähr 5 980 Ergebnisse"
Ralph Keyes: "The Quote Verifier: Who Said What, Where, and When." St. Martin's Griffin, New York: 2006, S. 47f. (Link)
Garson O'Toole: "The More I Know About People, the Better I Like Dogs: Mark Twain? Madame de Sévigné? Madame Roland? Alphonse de Lamartine? Alphonse Toussenel? Louise de la Rameé? Alfred D’Orsay? Thomas Carlyle? Anonymous?" 2018 (quoteinvestigator)
Wolfgang Grittner: "Der Preußenkönig Friedrich II. und die Tiere. Eine historische Betrachtung."  Deutsches Ärzteblatt 3/2013, S. 316f.  (Link) [Keine Erwähnung des Zitats.] 
Albert Zoller: "Hitler privat: Erlebnisbericht seiner Geheimsekretärin", Droste Verlag 1949, S. 230  (Link)
Honoré-Gabriel Riqueti Mirabeau: Lettres originales de Mirabeau, écrites du donjon de Vincennes,1777-1780, Chez Rarnery, Paris: 1792, S. 256 (Link) 
Friedrich Lewitz: "Mirabeau: Ein Bild seines Lebens, seines Wirkens, seiner Zeit." In zwei Bänden. Ferdinand Hirt's Verlag, Breslau: 1852, S. 447 (Link)
Wiener Sonn- und Montags-Zeitung, 5. August 1995, S. 2, Übersetzung: G. Engelsmann (Link) 
Leo Slezak: "Meine sämtlichen Werke." Ernst Rowohlt Verlag, Berlin: 1922, S. 186 (Link); 1926: (Link) 
Konrad Lorenz, Das sogenannte Böse, 1963, S. 344 (archive.org) 
Forum, 1964, S. 155 (Link)
 
Früheste falsche Zuschreibung an Mark Twain:
1918: The National Drug Clerk, Vol. 6, Nr. 4, "Some Everyday Incidents in the Life of a Pharmacist" by Zeb W. Rike, Ph. G., S. 286
(Link) (zitiert nach 
quoteinvestigator)
 
Früheste falsche Zuschreibung an Friedrich II.:
1927: Adolf Stein: "Berliner Funken", Brunnen Verlag / Karl Winckler, Berlin: 1927, S. 183 (Link)
 
Früheste falsche Zuschreibung an Arthur Schopenhauer:
1932: Reichspost, 3. Juli 1932, S. 16  (Link) 
 
 
Artikel in Arbeit. Weitere Funde zum Ursprung des Zitats und der Kuckuckszitate sind nicht ausgeschlossen. 
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Dank:
Ich danke Moritz Jacob für den Hinweis auf dieses Zitat, Ralf Bülow für seine Mirabeau-Recherche und natürlich muss man auch den amerikanischen Zitatforschern Ralf Keyes und Garson O'Toole für ihre gründliche Arbeit dankbar sein. 
 
 
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ANHANG

Screenshot 16/2 2021; Pseudo-Arthur-Schopenhauer-Zitat.


 

Montag, 5. Juni 2017

"Die Wahrheit enthält immer auch Lüge." Johann Wolfgang von Goethe (angeblich)

Pseudo-Goethe quote.

Diese Weisheit ist nach Wikiquote und anderen Webseiten in einem Brief Johann Wolfgang von Goethes an Charlotte von Stein zu finden. Das Datum des Briefes wird nirgends erwähnt. Nun: Ich habe die Korrespondenz Goethes mit Frau von Stein in mehreren Online-Ausgaben durchsucht und in Richard Dobels Lexikon der Goethe-Zitate nachgeschlagen. Bei Literaturwissenschaftlern kommt das Zitat ebensowenig vor wie im Briefwechsel mit Charlotte Stein. Vor dem 21. Jahrhundert ist dieser Satz nirgends zu finden.

Dieses Zitat wurde also Goethe irgendwann im 21. Jahrhundert von einer unbekannten Person unterschoben und gilt seither zu Unrecht als "Goethe"-Zitat.

Wer glaubt, Wahrheit enthalte immer eine Lüge, was, nebenbei gesagt, nicht stimmt, kann sich also nicht auf Goethe berufen. Außerdem rate ich, Autorinnen und Autoren nur nach seriösen Lexika und sorgfältig hergestellten Editionen zu zitieren und nicht nach Zitat-Sammlungen wie Gutezitate.com.
Pseudo-Goethe quote.

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Quellen:
 Lexikon der Goethe-Zitate. Hrsg. von Richard Dobel, Artemis Verlag, Weltbild Verlag, Augsburg: 1991
Falsche Zuschreibungen zum Beispiel in:
Gutezitate.com (Das ist eine große Zitate-Sammlung mit hunderten falsch zugeschriebenen Zitaten und Memes.)
Wikiquote
 "Der Standard", 3./4./5. Juni 2017, S. 31

Mittwoch, 22. September 2021

"Wenn ich mit meiner Relativitätstheorie recht behalte, werden die Deutschen sagen ich sei Deutscher, und die Franzosen ich sei Weltbürger ...." Albert Einstein (angeblich)

Albert Einstein zugeschriebener Witz.

Diesen weltweit beliebten Witz hat Albert Einstein am 28. November 1919 in einem Artikel für die Londoner "Times" noch etwas anders erzählt.

Nach der Bestätigung von Prognosen der Allgemeinen Relativitätstheorie durch das Team des englischen Astronomen Arthur Stanley Eddington Anfang November 1919 wurde Albert Einstein von einem Journalisten der "Times" gebeten, seine Relativitätstheorie dem englischen Publikum zu erklären. 

Am Ende dieses Artikels für die "Times", die ihn einmal als "Schweizer Jude" bezeichnet hatte, kommentierte Einstein mit Humor einige Ungenauigkeiten dieser Zeitung bei der Beschreibung seiner Person und seiner wissenschaftlichen Karriere:

 

Albert Einstein, 1919:

  • "Die meine Person und Lebensverhältnisse betreffenden Bemerkungen Ihrer Zeitung zeugen zum Teil von erfreulicher Phantasie des Verfassers."

Und dann folgt Einsteins Relativitätsprinzip-Witz, der in den folgenden Jahrzehnten populär und ziemlich verändert in die Sammlung "Jüdische Witze" von Salcia Landmann aufgenommen wurde (Link).

Albert Einstein, 1919:

  • "Noch eine Art Anwendung des Relativitätsprinzips zum Ergötzen des Lesers:

    Heute werde ich in Deutschland als 'Deutscher Gelehrter', in England als 'Schweizer Jude' bezeichnet; sollte ich aber einst in die Lage kommen, als 'bête noire' präsentiert zu werden, dann wäre ich umgekehrt für die Deutschen ein 'Schweizer Jude', für die Engländer eine 'Deutscher Gelehrter'. "
    Albert Einstein: "Was ist Relativitäts-Theorie?" 28. November 1919, deutsche Fassung:
    1934, S. 220-28. (Link); Manuskript-Transkription: (einsteinpapers)

Albert Einstein, "The Times", 28. November 1919:

  • "Note: Some of the statements in your paper concerning my life and person owe their origin to the lively imagination of the writer. Here is yet another application of the principle of relativity for the delectation of the reader: today I am described in Germany as a 'German savant',  and in England as a 'Swiss Jew.' Should it ever be my fate to be represented as a béte noire, I should, on the contrary, become a 'Swiss Jew' for the Germans and a 'German savant' for the English."

    "Einstein on his Theory. Time. Space. And Gravitation. The Newtonian System." The Times, London, 28. November 1919, S. 13f. (einsteinpapers.press.princeton.edu/vol7-doc/261)

Der Witz aus der Londoner 'Times' wurde gleich in einigen holländischen und deutschsprachigen Zeitungen übersetzt (Link) / (Link), und auch Albert Einstein selbst gefiel sein  Relativitäts-Witz anscheinend so gut, dass er ihn am 4. Dezember 1919 in einem Brief an Paul Ehrenfest wiederholt hat (Link).

Zehn Jahre später wird der Witz in Büchern und Zeitungen (unter Weglassung des "Schweizer Juden") verändert weitererzählt:

1931:

  • "Professor Albert Einstein said in a speech before the Sorbonne:
    ' If my theory of relativity is proven successful, Germany will claim me as a German and France will declare that I am a citizen of the world. Should my theory prove untrue, France will say that I am a German, and Germany will declare that I am a Jew.'"   (Link)

1947

  • "Si ma théorie de la relativité est prouvée, l'Allemagne me revendiquera comme Allemand et la France déclarera que je suis un citoyen du Monde. Mais, si ma théorie est fausse, le France dira que je suis un Allemand et l'Allemagne déclarera que je suis un Juif."
    Louis Bourgoin: Savants Modernes.1947, S. 351 (Link) 

Diese um 1930 aufgetauchte Version hat die Autorin Salcia Landmann schließlich in ihre Sammlung Jüdischer Witze aufgenommen. 

 

 Salcia Landmann: "Der jüdische Witz", 1960

  • "Einsteinsche Relativitätstheorie, von Einstein selber auf Einstein selber angewendet:

    'Werde ich mit meiner Theorie recht behalten, dann werden die Deutschen sagen, ich sei Deutscher, und die Franzosen, ich sei Weltbürger.

    Werde ich unrecht behalten, dann werden die Franzosen behaupten, ich sei Deutscher, und die Deutschen, ich sei Jude'."
    Hier zitiert nach: "Jüdische Witze" von Salcia Landmann, 1969 (Link)

.Diese Version wurde in vielen Sprachen noch oft weitererzählt, die ursprüngliche Version von 1919 ist vergleichsweise unbekannt.

  • "Wenn ich mit meiner Relativitätstheorie recht behalte, werden die Deutschen sagen ich sei Deutscher, und die Franzosen ich sei Weltbürger. Erweist sich meine Theorie als falsch, werden die Franzosen sagen ich sei Deutscher und die Deutschen ich sei Jude." 
Albert Einstein zugeschriebener Witz.
 
  • "If my theory of relativity is proven successful, Germany will claim me as a German and France will declare me a citizen of the world. Should my theory prove untrue, France will say that I am a German, and Germany will declare that I am a Jew." 
  • "Si ma théorie de la relativité est prouvée, l’Allemagne me revendiquera comme Allemand et la France déclarera que je suis un citoyen du monde. Mais si ma théorie est fausse, la France dira que je suis un Allemand et l’Allemagne déclarera que je suis un Juif."
  • "Si mi teoría de la relatividad es exacta, los alemanes dirán que soy alemán y los franceses que soy ciudadano del mundo. Pero si no, los franceses dirán que soy alemán, y los alemanes que soy judío".
  • "Se la mia teoria della relatività si dimostrerà un successo, la Germania mi rivendicherà come tedesco e la Francia mi dichiarerà un cittadino del mondo. Se la mia teoria si rivelerà falsa, la Francia dirà che sono un tedesco, e la Germania dichiarerà che sono un Ebreo." 


Die ursprüngliche Version des Witzes ist durch glaubwürdige Quellen belegt, die populäre Version hingegen nicht.

Artikel in Arbeit.

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Quellen: 
Sonnenfinsternis 1919 

"Einstein on his Theory. Time. Space. And Gravitation. The Newtonian System." The Times, London, 28. November 1919, S. 13f. (einsteinpapers)

Die deutsche Fassung dieses Artikels erschien erstmals 1934 in Einsteins Buch "Mein Weltbild" im Querido Verlag, eine Transkription des Manuskripts inklusive einiger durchgestrichener Passagen kann man auch online in den Einstein Papers nachlesen (Link) 

Albert Einstein: "Was ist Relativitäts-Theorie?" 28. November 1919, deutscher Erstdruck in:  Albert Einstein: Mein Weltbild.  Querido Verlag, Amsterdam: 1934, S. 220-28 (Link) 

Albert Einstein: "Was ist Relativitäts-Theorie?" November 1919,  Transkription des Manuskripts, in: The Collected Papers of Albert Einstein. Volume 7: The Berlin Years: Writings, 1918-1921. Edited by  Michael Janssen, Robert Schulmann, József Illy, Christoph Lehner, and Diana Kormos Buchwald, Princeton University Press, Princeton and Oxford: 2002, S. 210  (Link)

Oxford Dictionary of Quotations. Edited by Elizabeth Knowles. Sixth edition. Oxford University Press, New York: 2004 
Concise Oxford Dictionary of Quotations. Edited by Susan Ratcliffe, (1964) Oxford University Press: Oxford 2011, S. 134, Online: 2016 (Link)
 [In der angegebenen Quelle "New York Times, 16 February 1930" ist das Zitat unauffindbar,]
Alice Calaprice: "The Ultimate Quotable Einstein", Foreword: Freeman Dyson, Princeton University Press, Princeton and Oxford: 2011, S. 6; 10  
"From an address to the French Philosophical Society at the Sorbonne, April 6,1922. See also French press clipping April 7,1922 Einstein Archive 36-378; and Berliner Tageblatt, April 8,1922, Einstein Archive 79-535."  [Diese Quellenangabe wurde von Wikiquote und vielen anderen anscheinend ungeprüft übernommen. Ich habe dieses Zitat in den angegebenen Quellen nicht gefunden.]
Heywood Broun, George Britt: Christians Only: A Study in Prejudice, The Vanguard Press, New York: 1931, S. 9 (Link)
Louis Bourgoin: Savants Modernes. Leur Vie. Leur Oeuvre Éditions de l'Arbre: 1947, S. 351 (Link)
Salcia Landmann: "Der jüdische Witz. Soziologie und Sammlung." Walter Verlag, Olten und Freiburg in Breisgau: 1960, S. 499 (Link)
"Jüdische Witze." Ausgewählt und eingeleitet von Salcia Landmann. (1962) 12. Auflage, dtv, München: 1969, S. 252 (Link)

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Dank:

Ich danke Diana Kormos Buchwald (The Einstein Papers Project) für ihre Auskunft, Rüdiger Singer für die Frage nach dem Zitat und Günther Janezic für seinen Hinweis auf einige angebliche Quellen.


Letzte Änderung: 29/9 2021.