Sonntag, 26. April 2020

"Der größte Schuft im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant." Hoffmann von Fallersleben (angeblich)

Dieses Sprichwort ist vermutlich in den 1880er Jahren im sozialdemokratischen Milieu entstanden und wird seit über 100 Jahren fälschlich dem nationalistischen deutschen Dichter und Germanisten Hoffmann von Fallersleben zugeschrieben.

Deutsches Sprichwort, das Hoffmann von Fallersleben unterschoben wird.

Dem Sprichwort vorausgegangen sind seit Jahrzehnten gereimte Polemiken gegen Denunzianten,  darunter zwei Gedichte mit dem Titel "Der Denunziant", die 1875 und 1884 anonym erschienen sind. Der Autor des ersten Gedichts ist heute noch unbekannt*), der Autor des zweiten Gedichts ist der sozialdemokratische Dichter und Politiker Max Kegel, der sich auch als Agitator gegen Bismarcks Sozialistengesetz engagiert hat.

1875:
  •  "Von allem Schlechten, was da ist, / Was wühlt im Schlamm, was keucht im Mist, / Voll Gift und Gall', voll Schmach und Schand', Das Schlecht'ste ist: D e r  D e  n u n c i a n t."

    Anonym:*)  "Der Denunciant" (Link)


Ein Sozialdemokrat wurde 1883 zu drei Wochen Gefängnis verurteilt, weil ein Stadtrat ihn denunziert hat. Daraufhin stand in der Zeitung "Der Sozialdemokrat" am 3. Mai 1883:

  • "Ob sich wohl jener Stadtrath nicht des bekannten Verses erinnert hat:
Der größte Lump, die größte Schand, 
 das ist und bleibt der Denunziant!
Jedenfalls hat er nie davon gehört, man schreibe deshalb diesen Spruch an seine Thür." 


 1884:
"Willst wissen du, mein lieber Christ, / Wer aller Menschen Auswurf ist?
Die Antwort liegt ja auf der Hand: / Es ist allein der Denunziant."


"Verpestet ist ein ganzes Land, / Wo schleicht herum der Denunziant."

"Der Menschheit Schandfleck wird genannt / Der niederträcht’ge Denunziant."

Max Kegel: "Der Denunziant" (Link)

Im Jahr 1886 hatte das Sprichwort jene prägnante jambische Form bekommen, mit der es auch heute noch bei uns bekannt ist:

1886

  • "Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant!"

    Der Sozialdemokrat, Nr. 24., 10. Juni 1886, S. (4)

1889:
  • "Das scheußlichste Gewürm im ganzen Land ist der Denunziant."
    Arbeiter-Zeitung, 28. November 1889, S. 7     (Link)

Die Wendung "im ganzen Land" erinnert  and die berühmte Märchen-Frage von Schneewittchens böser Stiefmutter: "Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?"


Im Jahr 1890 wird das Sprichwort gerichtsbekannt:

Ein Fabriksarbeiter wurde geklagt, weil er mit diesem Sprichwort einen Mann charakterisierte, der einen unerlaubten Wirtshausbesuch der Fabriksdirektion gemeldet hat. Der Arbeiter wurde in dem Beleidigungsprozess freigesprochen und das Wirtshausbesuchsverbot von dem bayrischen Gericht für ungültig erklärt (Link).

Am 22. Juli 1891 wurde im Berliner "Vorwärts" die Version "Der größte Schuft im ganzen Land, / Das ist und bleibt der Denunziant"  erstmals Hoffmann von Fallersleben zugeschrieben. 

In der österreichischen Arbeiter-Zeitung wird das Sprichwort ein Jahr später (mit Schuft)  erstmals erwähnt (Arbeiter Zeitung), und 1895 wird es in einer Wiener Zeitung als sozialdemokratisches 'Sprüchel' bezeichnet:

1895:

Verkehrs-Zeitung, Wien, 21. Dezember 1895, S. 357 (Link)

1896 wurde das Zitat als anonymes "deutsches Sprichwort" erstmals in ein Lexikon augenommen:
  • "Ein starkes deutsches Sprichwort sagt: 'Der schlimmste Schuft im ganzen Land, das ist fürwahr der Denunziant!'"

    "Johann August Eberhards  Synonymisches Handwörterbuch der deutschen Sprache", von Johann August Eberhard, Th. Grieben's Verlag, Leipzig: 1896, S. 877 (Link)


1899:

  • "Ferner war an der Latrinenthür eines Baues eine Tafel mit der Inschrift befestigt: 'Streikbrecher und Denunziant ist der größte Lump im ganzen Land.' "  (Link)

Und im Jahr 1899 wird das Zitat das erste Mal in einem Lexikon dem 1874 verstorbenen Hoffmann von Fallersleben zugeschrieben; die bis heute oft kopierte  Quellenangabe: 'Polit. Gedichte: Sprüche Nr. 17' (archive.org), hat noch niemand verifizieren können.

Die unzähligen Historikerinnen, Germanisten und Lexikographen, die seit 120 Jahren in ihren Fußnoten die Quelle "Polit. Gedichte: Sprüche Nr. 17" angeben, haben sie offenbar immer nur abgeschrieben, aber nie überprüft (Link).


1899:

Daniel Sanders: Citaten-Lexikon, Leipzig: 1899, S. 117 (archive.org).
  • "Der größte Lump im ganzen Land, / Das ist und bleibt der Denunziant." Hoffmann von Fallersleben [!] "Polit. Gedichte: Sprüche Nr. 17"[!]

Wie  Diskutanten bei Wikiquote  und die Historikerin Anita Krätzner (Link) herausgefunden haben, wurde auf diese problematische Zuschreibung schon 1911 erstmals hingewiesen.

1911:
  • "Wer z.B. das auf Hoffmann von Fallersleben zurückgeführte Zitat: 'Der größte Lump im ganzen Land, Das ist und bleibt der Denunziant' nachprüfen will, kann mit der notierten Quellenangabe nichts Rechtes anfangen. [...]"

    Otto Ladendorf: "Über Zitatensammlungen", zitiert nach Wikiquote. 

Doch wenn eine falsche Zuschreibung einmal in einem Zitatlexikon steht, ist sie kaum mehr aus der Welt zu bringen. Anders ist es nicht zu erklären, dass diese falsche Zuschreibung mit der unüberpüfbaren Quellenangabe hundert Jahre später noch immer in Zitate-Lexika zu finden ist:

Nach einem Jahrhundert vergeblicher Suche in Hoffmann von Fallersleben Texten kann man sich heute sicher sein, dass dieses Sprichwort ihm nur unterschoben wurde, auch wenn es in angesehenen Wörterbüchern wie dem Zitate-Duden oder dem Reclam Zitaten Lexikon anders behauptet wird.

 Varianten des Sprichworts:


  • "Von allem Schlechten, was da ist, [...] / Das Schlecht'ste ist: D e r  D e  n u n c i a n t." 1875
  • "Der größte Lump, die größte Schand, / Das ist und bleibt der Denunziant!"1883
  •  "Der Menschheit Schandfleck wird genannt / Der niederträcht’ge Denunziant." 1884
  • "Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant!"  1886
  • "Das scheußlichste Gewürm im ganzen Land ist der Denunziant." 1889
  • "Der größte Lump im ganzen Land Das ist und bleibt der Denunziant". 1890
  • "Der größte Schuft im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant." 1892
  • "Der schlimmste Schuft im ganzen Land das ist fürwahr der Denunziant!'" 1896
  • "Der ärgste Schuft im ganzen Land, der ist und bleibt der Denunziant." 1897
  • "Der grösste Schuft in Stadt und Land, das ist und bleibt der Denunziant," 1898
  • "Streikbrecher und Denunziant ist der größte Lump im ganzen Land." 1899
  • "Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant."
  •  "Der schlechteste Mann im ganzen Land ist und bleibt der Denunziant!" 
  • "Das größte Schwein im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant."   
  • "Die größte Ratte in diesem Land, ist und bleibt der Denunziant!" 2011 
  •  
     
Artikel in Arbeit.

________
Anmerkungen:

*) Ralf Bülow hat herausgefunden, dass dieses Denunzianten-Gedicht von 1875 im Jahr 1878 im "Deggendorfer Donauboten" Hoffmann von Fallersleben zugeschrieben wird (Link). Ich kann noch nicht sagen, wie vertrauenswürdig diese Quelle ist.
Das anonyme Gedicht von 1875 wurde 1876/77 auch im 'Dresdener Volksboten' und in der Beilage der Zeitschrift "Milwaukee’r Socialist" mit dem Namen 'Milwaukeer Leuchtkugeln' abgedruckt (Link).
 
___________
Quellen:
Google
Google books
Twitter
Friedrich Ebert Stiftung: Historische Presse der deutschen Sozialdemokratie online (Link)
Anonym: "Der Denunciant", in: Unterhaltungsblatt zur 'Pfälzischen Volkszeitung', Nr. 95, 28. November, Kaiserslautern: 1875, S. 380 (Link)
Der Sozialdemokrat, Nr. 19, 3. Mai 1883, S. (4)
Der Sozialdemokrat, Nr. 24., 10. Juni 1886, S. (4)
Vorwärts, Berliner Volksblatt, 8. Jahrgang, Nr. 167, 21. Juli 1891, S. 2
Anonym (Paul Keller): "Der Denunziant", in: "Der wahre Jakob", Nr. 8, 1884, S. 63 (Link)
Augsburger Anzeigeblatt Nr. 51, Sonntagsbeilage, 23. December 1849, S. (4) (Link)
 Johann Rietsch: "Gedicht in Nernberger Mundoart von alten u. von junga Joh. Rietsch", Landshut an der Iser: 1853, S. 97 (Link) 
Sozialdemokratisches Sprichwort (Link)
Anita Krätzner: "Das Zitat, das keines ist", in: "Hinter vorgehaltener Hand: Studien zur historischen Denunziationsforschung", herausgegeben von Anita Krätzner, Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen: 2015, S. 7f. (Link)
1890: Der Wendelstein. Katholisches Volksblatt für das bayrische Oberland. XX. Jahrgang, Nr. 197, 30. August, Rosenheim: 1890, S. (3) (Link)
"Johann August Eberhards  Synonymisches Handwörterbuch der deutschen Sprache", von Johann August Eberhard, Th. Grieben's Verlag, Leipzig: 1896, S. 877 (Link)
Johann Rietsch: "Gedicht in Nernberger Mundoart von alten u. von junga Joh. Rietsch", Landshut an der Iser: 1853, S. 97 (Link)
Wikiquote 
Wikipedia
Arbeiter Zeitung, Wien, 28. November 1889, S. 7 (Link)
Arbeiter Zeitung, Wien, 22. Jul 1892, S. 6  (Link)
Verkehrs-Zeitung, Wien, 21. Dezember 1895, S. 357 (Link)

Beispiele für falsche Zuschreibungen an Hoffmann von Fallersleben:
Daniel Sanders: Citatenlexikon. Verlagsbuchhandlung J.J. Weber, Leipzig: 1899, S. 117 "Der größte Lump ..." (archive.org)
Dudenredaktion: Zitate und Aussprüche. Duden 12, Dudenverlag, Mannheim etc.: 1993, S. 190 (Lump)
Reclams Zitaten Lexikon. Johannes John, Reclam, Stuttgart: 1992, 2014, S. 80 (Lump)

________
Dank:
Ich bin Moritz Jacob und Ralf Bülow  für ihre Recherchen, schönen Entdeckungen und Korrekturen sehr dankbar, und danke auch den Diskutanten von Wikiquote.

Twitter:

 

  

_

 




_____________

Anhang: 

Verse gegen Denunzianten

Fr. Brunold, 1849

 

Augsburger Anzeigeblatt Nr. 51, Sonntagsbeilage, 23. December 1849, S. (4) (Link)



Johann Rietsch: "Gedicht in Nernberger Mundoart", 1853

 

Johann Rietsch: "Gedicht in Nernberger Mundoart von alten u. von junga Joh. Rietsch", Landshut an der Iser: 1853, S. 97 (Link)


 Anonym: "Der Denunziant", 1875

 

Unterhaltungsblatt zur 'Pfälzischen Volkszeitung', Nr. 95, 28. November, Kaiserslautern: 1875, S. 380 (Link)

 Anonym (Paul Keller): "Der Denunziant", 1884

 



"Der wahre Jakob", Nr. 8, 1884, S. 63 (Link)


Samstag, 25. April 2020

"Wer Schmetterlinge lachen hört, der weiß wie Wolken schmecken." Novalis (angeblich)

Pseudo-Novalis-Zitat.

Dieser Satz stammt aus einem Song der deutschen Rockband "Novalis" aus dem Jahr 1975  und nicht von dem  deutschen Schriftsteller Novalis aus dem 18. Jahrhundert (Link).

Autor des Songs "Wer Schmetterlinge lachen hört" ist der 2002 verstorbene Gitarrist und Keyborder  Carlo Karges, der auch den Text von Nenas Popsong  99 Luftballons verfasst hat.



Carlo Karges, 1975, Album "Novalis" :


  • "Wer Schmetterlinge lachen hört,
    der weiß, wie Wolken schmecken.
    Der wird im Mondschein, ungestört
    von Furcht, die Nacht entdecken.
    [...]"
    (deutschelyrik.de)

  Album "Novalis" der Rockband Novalis, 1975,
'Wer Schmetterlinge lachen hört'
, Youtube:






Diese Zeile aus einem Song der Band "Novalis" wird im Internet sehr oft irrtümlich dem Dichter Novalis unterschoben, aber manchmal auch einer "Gräfin Fito", der seit etwa 10 Jahren Sprichwörter und lustige Sprüche zugeschrieben werden.

Diese Gräfin Fito scheint ein Pseudonym des Humoristen und Kalenderverlegers Klaus Klages zu sein, der auch unter dem Namen 'Graf Fito' humoristische Aphorismen publiziert. Der Graf Fito entstand wohl aus dem Begriff 'Graffito' (Inschrift auf einer Wand). Ich folge hier den Vermutungen von Norbert Mayer auf Twitter (Link).

Klaus Klages ("Das Fernsehprogramm ist o.k. – wenn man beide Augen zudrückt") publiziert anscheinend seine 'satirischen Versuche' unter den Pseudonymen: Kuno Klaboschke, Hau-Tscho-Hi, Peter Silie, Kniefel Knufink, Graf Fity, K. Lauer, K. Neipp, Kunigunde Klaboschke, Pater Madison, Graf Fito und Gräfin Fito.
 
"Aller Mannfang ist schwer", ist einer der frühesten Aphorismen dieser 'Gräfin Fito' und stammt laut der Zitatsammlung aphorismen.de aus dem Klages Kalender von 2007.


klages-kalender.de/

Dass dieser Verlag keine seriösen Zitatsammlungen herausgibt, kann man schon aus dieser Verlags-Annonce erkennen, weil er seine Bücher mit dem Pseudo-Kurt-Tucholsky-Zitat, "Lasst uns das Leben genießen, solange wir es nicht begreifen",  bewirbt.



Zitat aus dem Song "Wer Schmetterlinge lachen hört" der Band 'Novalis'; fälschlich 'Gräfin Fito' zugeschrieben.



____
Quellen:
Google
Frank Fischer: »Wer Schmetterlinge lachen hört«, Aquarium - Novalis im Netz, 05.09.2004 (Link)   
Album "Novalis" der Rockband Novalis, 1975
Die Tracklist des »Novalis«-Albums von 1975.
Die Novalis-Story von Stephan Schelle (Dezember 2002).

Lyrics von Carlo Karges:
mojim.com
deutschelyrik.de, Kommentar von Fritz Stavenhagen, 2013
genius.com
[Welche Fassung der Verse authentisch ist, weiss ich noch nicht.]

"Gräfin Fito"
Norbert Mayer, Twitter  (Link)
klages-kalender.de/
"Wer ist Graf Fito?" Wikipedia, 2013
Klaus Klages, Kurzbiographie aphorismen.de 
Quelle: Sag es mit Klages, Klages Kalender AG 2007 aphorismen.de/



 Artikel in Arbeit.
_____
Dank:

Ich danke Zitante Christa für den Hinweis auf dieses Kuckuckszitat und ihre Recherchen dazu sowie Frank Fischer, der vor 16 Jahren die Verwechslung aufdeckte und Norbert Mayer für seine Hinweise auf den Ursprung der "Gräfin Fito".

-

Dienstag, 21. April 2020

"Es gibt welche, die für die Politik leben und solche, die von ihr leben." Max Weber (angeblich)

Entstelltes Max-Weber-Zitat.
Das ist eine  Paraphrase eines Zitats aus Max Webers berühmtem Münchner Vortrag "Politik als Beruf" vom 28. Januar 1919. Diese Paraphrase wird erst im 21. Jahrhundert fälschlich als Max-Weber-Zitat verbreitet.


Max Weber: "Politik als Beruf", 1919:


  • "Es gibt zwei Arten, aus der Politik seinen Beruf zu machen. Entweder: man lebt 'für' die Politik – oder aber: 'von' der Politik. Der Gegensatz ist keineswegs ein exklusiver. In aller Regel vielmehr tut man, mindestens ideell, meist aber auch materiell, beides: wer 'für' die Politik lebt, macht im innerlichen Sinne 'sein Leben daraus': er genießt entweder den nackten Besitz der Macht, die er ausübt, oder er speist sein inneres Gleichgewicht und Selbstgefühl aus dem Bewußtsein, durch Dienst an einer 'Sache' seinem Leben einen Sinn zu verleihen.

    In diesem innerlichen Sinn lebt wohl jeder ernste Mensch, der für eine Sache lebt, auch von dieser Sache. Die Unterscheidung bezieht sich also auf eine viel massivere Seite des Sachverhaltes: auf die ökonomische. 'Von' der Politik als Beruf lebt, wer danach strebt, daraus eine dauernde Einnahmequelle zu machen, – 'für' die Politik der, bei dem dies nicht der Fall ist.

    Damit jemand in diesem ökonomischen Sinn 'für' die Politik leben könne, müssen unter der Herrschaft der Privateigentumsordnung einige, wenn Sie wollen, sehr triviale Voraussetzungen vorliegen: er muß – unter normalen Verhältnissen – ökonomisch von den Einnahmen, welche die Politik ihm bringen kann, unabhängig sein.

    Das heißt ganz einfach: er muß vermögend oder in einer privaten Lebensstellung sein, welche ihm auskömmliche Einkünfte abwirft. So steht es wenigstens unter normalen Verhältnissen.

    Zwar die Gefolgschaft des Kriegsfürsten fragt ebensowenig nach den Bedingungen normaler Wirtschaft wie die Gefolgschaft des revolutionären Helden der Straße. Beide leben von Beute, Raub, Konfiskationen, Kontributionen, Aufdrängung von wertlosen  Zwangszahlungsmitteln: – was dem Wesen nach alles das Gleiche ist. Aber das sind notwendig außeralltägliche Erscheinungen: in der Alltagswirtschaft leistet nur eigenes Vermögen diesen Dienst.

    Aber damit allein nicht genug: er muß überdies wirtschaftlich 'abkömmlich' sein, d. h. seine Einkünfte dürfen nicht davon abhängen, daß er ständig persönlich seine Arbeitskraft und sein Denken voll oder doch weit überwiegend in den Dienst ihres Erwerbes stellt."

    Max Weber, Politik als Beruf, S. 42 (Link)

  • "Die Leitung eines Staates oder einer Partei durch Leute, welche (im ökonomischen Sinn des Wortes) ausschließlich für die Politik und nicht von der Politik leben, bedeutet notwendig eine 'plutokratische' Rekrutierung der politisch führenden Schichten. Damit ist freilich nicht auch das Umgekehrte gesagt: daß eine solche plutokratische Leitung auch zugleich bedeutete, daß die politisch herrschende Schicht nicht auch 'von' der Politik zu leben trachtete, also ihre politische Herrschaft nicht auch für ihre privaten ökonomischen Interessen auszunutzen pflegte. Davon ist natürlich gar keine Rede." 

    Max Weber, Politik als Beruf, S. 44 (Link)
-


  • "Wir Journalisten lieben Webers 'Wer Politik betreibt, erstrebt Macht', mit dem wir die allzu Machtgeilen geißeln. Gerne genommen wird auch Webers Unterscheidung zwischen jenen Politikern, die für die Politik leben und jenen, die von ihr leben – mit der sich all jenen in den Rücken schießen lässt, die an ihrem Amt kleben."
    (handelsblatt.com)
  • "Weber unterteilt dabei den Begriff des Berufpolitikers in solche, die für die Politik, und in solche, die von der Politik leben."
    Wikipedia
 _______

Quellen:
Max Weber: "Wissenschaft als Beruf, 1917/1919; Politik als Beruf, 1919", Studienausgabe der Max Weber-Gesamtausgabe, Teil 1, Band 17, herausgegeben von Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schluchter, J.C.B. Mohr, Tübingen: 1994, S. 42; 44
(Link)


 Beispiel für das Falschzitat:
Wolfgang Prinz: "Politzirkus: Bissige Aussprüche und Zitate von Politikern und über sie." Books on Demand, Norderstedt: 2009, S. 115 (Link)  
-
Artikel in Arbeit. Die fettgedruckten Hervorhebungen sind von mir.

Montag, 20. April 2020

„Lachen ist eine Macht, vor der die Größten dieser Welt sich beugen müssen.“ Émile Zola

 Diesen Satz schrieb Émile Zola 1901 – ein Jahr vor seinem Tod – an die Redaktion des "Simplicissimus". Die humoristische Zeitschrift, die als bestes Witzblatt Europas galt, bat drei Dutzend Autoren, darunter auch Leo Tolstoi, Henrik Ibsen, Knut Hamsun und Gerhart Hauptmann um ihre Meinung zu ihrer Zeitschrift.

Leo Tolstoi zum Beispiel schrieb, "Zu den vielen Verdiensten des Simplissimus[!] zähle ich das große, daß er nicht lügt", und Gerhart Hauptmann meinte, der Simplicissimus sei, "die stärkste und rücksichtsloseste satirische Kraft Deutschlands".



  Simplicissimus, 1901, 6. Jahrgang, Heft 5  PDF


  Simplicissimus, 1901, 6. Jahrgang, Heft 5, S. 43 PDF
____
Quellen:
 Simplicissimus, 1901, 6. Jahrgang, Heft 5, S. 43 PDF
simplicissimus.info/
Von Émile Zola ist meines Wissens nur diese deutsche Übersetzung seiner Zuschrift erhalten.

Mittwoch, 15. April 2020

"Alle reden vom Wetter, aber keiner unternimmt was dagegen." Karl Valentin (angeblich)

 
Pseudo-Karl-Valentin-Zitat.

Dieses Bonmot wird seit über 100 Jahren dem Amerikaner Mark Twain zugeschrieben und seit kaum 20 Jahren dem Bayer Karl Valentin.

Karl Valentin hat mit dem Zitat nichts zu tun, aber, wie der amerikanische Zitatforscher Garson O'Toole herausfand, 
hat auch Mark Twain diese witzige Bemerkung nicht geprägt, sondern sein Freund und Kollege Charles Dudley Warner in den 1880er Jahren (quoteinvestigator.com).


Pseudo-Mark-Twain-Zitat.

 Artikel in Arbeit.
 __________
Quellen:
Garson O'Toole: "Everybody Talks About the Weather, But Nobody Does Anything About It. Mark Twain? Charles Dudley Warner?", 2014 (quoteinvestigator.com)

1980: "Mark Twain hat einmal gesagt: Alle reden vom Wetter, aber keiner tut was dagegen" (Link)
2005:  Frühe oder erste Zuschreibung an Karl Valentin. S. 117 (Link) 
2007 Google books


_______
Dank:
Ich danke Garson O'Toole für seine gründliche  und unterhaltsame Arbeit.

"Naturwissenschaften sind Barbarika, auf die man einen Jagdhund abrichten kann." Theodor Mommsen (angeblich)

Dieser höhnische Ausspruch wurde dem Historiker Theodor Mommsen in einer Anekdote zugeschrieben und ist bislang weder in seinen eigenen Texten, noch in zeitgenössischen Erinnerungen gefunden worden, obwohl schon viele danach gesucht haben.

Die Hauptperson der Anekdote ist ein Gymnasiallehrer des Erfinders Ferdinand Braun, der im Jahr 1909 den Nobelpreis für Physik erhalten hat, sieben Jahre nach dem Literaturnobelpreis von Theodor Mommsen.

Dieser Fuldaer  Lehrer des Physikers habe in den 1860er Jahren den Schüler Braun bestärkt, später einmal Mathematik zu studieren und dieser Lehrer Dr. Wilhelm Gies habe sich darüber geärgert, dass der große Historiker Theodor Mommsen so abfällig über Naturwissenschaften gesprochen und sie als, "Barbarika, auf die man einen Jagdhund abrichten kann", verspottet habe (Link).

Alle, die bis heute Theodor Mommsen dieses Zitat zuschreiben, beziehen sich direkt oder indirekt auf diese im Jahr 1965 ohne seriösen Quellennachweis verbreitete Anekdote aus der Biographie Ferdinand Brauns von Friedrich Kurylo (Link).

Ich folge hier dem Urteil von Andreas Kleinert, der seine Recherchen zu diesem Zitat mit dem Titel, "So kommt die historische Forschung auf den Hund", in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 15. April 2020 publiziert hat.

Durch welche Texte diese Anekdote 100 Jahre lang von den 1860er Jahren bis in die 1960er Jahre überliefert wurde bis sie in dieser  digitalisierten Biographie auftauchte, weiß man nicht. Angeblich stand sie irgendwann einmal in einer seit 1920 publizierten und noch nicht digitalisierten Geschichtsbeilage der Fuldaer Zeitung.

Nähere Angaben hielt Ferdinand Brauns Biograph Kurylo nicht für notwendig und in der englischen Fassung seiner Ferdinand-Braun-Biographie wurde zwar der Lehrer Wilhelm Gies mehrfach erwähnt, aber diese Anekdote ganz weggelassen.

Offen bleiben mehrere Fragen: Woher hat Wilhelm Gies den angeblichen Ausspruch Theodor Mommsens bezogen? Mit wem hat der 1918 verstorbene Ferdinand Braun über seinen Lehrer gesprochen und diese Anekdote erzählt?

Sollte der Ausspruch nicht von Theodor Mommsen stammen: Wer hat dann das Zitat geprägt?

Als Urheber des Zitats kommen auch Altphilologen infrage. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nannten klassisch gebildete Gymnasialdirektoren die vermehrt angebotenen naturwissenschaftlichen und mathematischen Unterrichtsfächer "barbarische Eindringlinge" (Link), und Mathematiklehrer beklagten sich über die Geringschätzung ihrer Fachgebiete durch die Mehrzahl der anderen Gymnasialpädagogen (Link).


1850

  • "Man hat vielfach die Befürchtung ausgesprochen, daß mit der Missachtung und der Verbannung der alten Sprachen und der Einführung der Naturwissenschaften (Realien) in die höheren Schulen die Barbarei ausbrechen werde."

    Friedrich Traugott Kützing: "Die Naturwissenschaften in den Schulen als Beförderer des christlichen Humanismus" 1850, S. 33 (Link)

1873
  • Ein sächischer Rektor hat einen
    "Mathematik treibenden Zögling mit den Worten 'was treiben Sie da für Barbarica?!' angedonnert, ein anderer die Mathematik für 'dummes Zeug' erklärt [...].  Dass ein dritter sie laut ein 'Nebenfach' nannte, hat Referent selbst gehört."

     
    'Zeitschrift für mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht', Vierter Jahrgang,  1873, S. 428f. (Link) 


Die meisten Kuckuckszitate werden heute von Nichtakademikerinnen und Nichtakademikern in den sozialen Medien verbreitet.

Dieses angebliche Mommsen-Zitat wird hauptsächlich von Universitätsprofessoren verbreitet, also von Leuten, die ihren Studentinnen und Studenten beibringen sollten, wie man korrekt zitiert und Sekundärzitate kennzeichnet.

  • "Denn das ist der eigentliche Skandal bei der Geschichte des angeblichen Mommsen-Zitats: Die meisten der [...] Autoren, die das Pseudozitat verbreitet haben, sind oder waren Professoren an deutschen Universitäten."

    Andreas Kleinert: "So kommt die historische Forschung auf den Hund".  FAZ,  15. April 2020


__________
Quellen:
Andreas Kleinert: "So kommt die historische Forschung auf den Hund".  Frankfurter Allgemeine Zeitung,  15. April 2020, Nr. 88, S. N3 (fazarchiv.faz.net)
Andreas Kleinert: "Ohne den Hinweis, dass es sich um ein Sekundärzitat handelt, finden wir Mommsens Jagdhund bei Ernst Peter Fischer ("Glanz und Elend der zwei Kulturen", 1991) und bei Katja Schwiglewski ("Erzählte Technik", 1995). In "Kultur & Technik", der Zeitschrift des Deutschen Museums, ist das Zitat noch 2014 (Heft 1) ohne Quellenangabe reproduziert worden. "
Theodor Ickler, Kommentar zum FAZ-Artikel, 15/4 2020 (Link)
1965: Friedrich Kurylo: "Ferdinand Braun. Leben und Wirken des Erfinders der Braunschen Röhre", Heinz Moos Verlag, München: 1965, S. 18 (Link)
1981: Friedrich Kurylo: "Ferdinand Braun, A Life of the Nobel Prizewinner and Inventor of the Cathode-Ray Oscilloscope", übersetzt von Charles Susskind, revised edition of Kurylo: "Ferdinand Braun", München; 1955, MIT Press, Cambr. / London: 1981, S. 7 (keine Erwähnung Mommsens)
1985: Hans Queisser: Kristallene Krisen. Mikroelektronik - Wege der Forschung, Kampf der Märkte. Piper, München: 1985, S. 13 (Link)
1873: Rezension von H. (J.C.V. Hoffmann?) eines Buchs über die Geschichte des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts von Dr. C. Heym, in: 'Zeitschrift für mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht', Vierter Jahrgang, Verlag B.G. Teubner, Leipzig:  1873, S. 428f. (Link) 
1850: Friedrich Traugott Kützing: "Die Naturwissenschaften in den Schulen als Beförderer des christlichen Humanismus" Verlag Adolph Büchting, Nordhausen: 1850, S. 33 (Link) 



 ____
Dank:
Ich danke Ralf Bülow sehr für seinen Hinweis auf die mathematischen "Barbarica" im 19. Jahrhundert und Andreas Kleinert für seinen sorgfältig recherchierten Artikel zu diesem Kuckuckszitat.





"Ich bin so wie ich bin. Die einen kennen mich, die anderen können mich." Konrad Adenauer (angbelich)

Im Jahr 1994 hat Erich Däniken sich zu dem Motto, "Ich bin wer ich bin. Die einen kennen mich, die anderen können mich" (Link), bekannt und dieses Motto auch in späteren Interviews wiederholt.

Die Wendung, "die einen kennen mich, die anderen können mich" ist in den digitalisierten Texten seit 1989 nachweisbar.

Konrad Andenauer wird das Zitat erst seit dem Jahr 2002 in Foren ohne wissenschaftlichem Anspruch und ohne Quellenangabe unterschoben.
Pseudo-Konrad-Adenauer-Zitat.
Offensichtlich angeregt durch die unbegründeten Zuschreibungen im Internet taucht das angebliche Adenauer-Zitat laut Google-Suchen im Jahr 2009 erstmals auch in einem gedruckten Text bei Google Books auf.

 Inzwischen ist das angebliche Adenauer-Zitat in Büchern, Zeitungen und vor allem im Internet weit verbreitet, obwohl es der Quellenlage nach zu beurteilen ein typisches Kuckuckszitat ist.


Twitter, 2018:





Artikel in Arbeit,
______
 Quellen:

Google: Books, News, Bilder
 994 (Link)


Konrad Adenauer zugeschrieben:

2002: geschichtsspuren.de/forum , Signatur von  TimoL » 16.10.2002 13:12
2004: radarforum.de/forum Signatur von Flitzeber, 17 Mai 2004 - 20:16 (Erstmals mit: "Ich bin ..").
2004: agrar.de/pferde/forum  Signatur von Eva 09.12.04, 12:39
2005 winboard.org/threads/unfreiwillig-witzige-politiker-sprueche.19912/ 28. März 2005

________
Dank:
Ich danke Ralf Bülow für seinen Hinweis auf dieses Kuckuckszitat.