Donnerstag, 26. März 2020

"Vernunft ist durch das Herz gebrochener Verstand." Immanuel Kant (laut Ulrike Guérot)

Dieses Bonmot unterschiebt die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot dem Philosophen Immanuel Kant seit dem Jahr 2017.

Es ist in den gut digitalisierten Werken Immanuel Kants nicht zu finden, und Kants Vernunftbegriff hat, wie Philosophiestudent:innen lernen, auch ganz und gar nichts mit dem Herzen zu tun.

Dieses Zitat ist also ein Kuckuckszitat, über das auch flüchtige Leser:innen von Kants "Kritik der reinen Vernunft" oder seiner "Kritik der praktischen Vernunft"  nur den Kopf schütteln können.

Pseudo-Immanuel-Kant-Zitat, 23. Mai 2018 twitter.com
  • "Wer kein Fan von Tolkien ist, kann es aber auch mit Kant halten, den zum Ende des Abends Ulrike Guérot zitiert: Vernunft ist durch das Herz gebrochener Verstand. " 2017 (Link)

Ulrike Guérots Pseudo-Immanuel-Kant-Zitat könnte aus dem 1995 publizierten Aphorismus "Vernunft ist Verstand mit Herz" von Ulrich Erckenbrecht entstanden sein.



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Quellen:
Immanuel Kant: "Kant’s Gesammelte Schriften",  Akademieausgabe, Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften, Berlin: 1900ff.  Reimer, ab 1922 de Gruyter; Elektronische Edition: Universität Duisburg 

Ulrich Erckenbrecht:  aphorismen.de/zitat/161197  Quelle laut aphorismen.de: Ulrich Erckenbrecht: "Katzenköppe", Muriverlag: 1995

 

Beispiele für falsche Zuschreibungen von Ulrike Guérot: 

 
2017: Lenz Jacobsen: "Alle Macht für Mister Spock" DIE ZEIT, 6. April 2017 (Link)
2018:  23. Mai 2018 Twitter;  
2019: Ulrike Guérot: Opening Keynote, "Sciences, Research and  Excellency in Europe", Marie Skłodowska-Curie Actions Conference 2018,  Donau-Universität Krems, Discussion Paper Series Nr 6 | August 2019  (donau-uni.ac.at)
2020: Ulrike Guérot: "Uns wird das Denken abgenommen", Gespräch mit Brigitte Schwens-Harrant, Die Furche, 5. Februar 2020 (furche.at)


Artikel in Arbeit.
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Ich danke Philipp Hummel für den Hinweis und Ralf Bülow für seine Recherchen zum Ursprung des Falschzitats.

 

Letzte Änderungen: 22/6 2022 

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Anhang:

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Twitter:


2020:

 

 



"Der schlimmste Feind des wilden Elefanten ist der gezähmte Elefant." Bertolt Brecht (angeblich)

Das ist ein entstelltes, aber kein sinnentstelltes Zitat aus Bertolt Brechts 1939 verfasstem Vorwort zu seinem Theaterstück "Leben des Galilei".

 Korrekt lautet dieser Satz von Bertolt Brecht:

  • "Kein Reaktionär ist unerbittlicher als der gescheiterte Neuerer, kein Elefant ein grausamerer Feind der wilden Elefanten als der gezähmte Elefant."  (Link)

Bertolt Brecht: 'Leben des Galilei', Vorwort, 1939:


  • " Furchtbar die Enttäuschung, wenn die Menschen erkennen oder zu erkennen glauben, daß sie einer Illusion zum Opfer gefallen sind, daß das Alte stärker ist als das Neue, daß die 'Tatsachen' gegen sie und nicht für sie sind, daß ihre Zeit, die neue, noch nicht gekommen ist.

    Es ist dann nicht nur so schlecht wie vorher, sondern viel schlechter; denn sie haben allerhand geopfert für ihre Pläne, was ihnen jetzt fehlt, sie haben sich vorgewagt und werden jetzt überfallen, das Alte rächt sich an ihnen.

    Der Forscher oder Entdecker, ein unbekannter, aber auch unverfolgter Mann, bevor er seine Entdeckung veröffentlicht hat, ist nun, wo sie widerlegt oder diffamiert ist, ein Schwindler und Scharlatan, ach, allzusehr bekannt, der Unterdrückte und Ausgebeutete nun, nachdem sein Aufstand niedergeschlagen wurde, ein Aufrührer, der besonderer Unterdrückung und Bestrafung unterzogen wird.

    Der Anstrengung folgt die Erschöpfung, der vielleicht übertriebenen Hoffnung die vielleicht übertriebene Hoffnungslosigkeit. Die nicht in Stumpfheit und Teilnahmslosigkeit zurückfallen, fallen in Schlimmeres; die die Aktivität für ihre Ideale nicht eingebüßt haben, verwenden sie nun gegen dieselben!

    Kein Reaktionär ist unerbittlicher als der gescheiterte Neuerer, kein Elefant ein grausamerer Feind der wilden Elefanten als der gezähmte Elefant.

    Und doch mögen diese Enttäuschten immer noch in einer neuen Zeit, Zeit des großen Umsturzes, leben. Sie wissen nur nichts von neuen Zeiten." 
    Bertolt Brecht: 1963, S. 8 books.google.
 Die Metapher eines gezähmten Elefantes verwendet Bertolt Brecht noch einmal im Jahr 1945 in einem Epigramm zu einem Foto von zwei erschöpften Soldaten, der eine in Wehrmachtsuniform, der andere in der Uniform der sowjetischen Roten Armee:

Bertolt Brecht, 1945:

  • "Ein Brüderpaar seht, das in Panzern fuhr
    Zu kämpfen um des einen Bruders Land
    So grausam war seit je im Kampfe nur
    Zum Bruder der gezähmte Elefant."
    (Link)

Bertolt Brecht, in dessem Werk Elefanten öfters auftauchen, ist auf die Metapher von dem gezähmten Elefanten wahrscheinlich durch eine Geschichte von Rudyard Kipling, den Bertolt Brecht verehrte, angeregt worden.

Rudyard Kipling erzählt in der Kurzgeschichte "Toomai of the elephants" von dem alten Elefanten Kala Lag, der 47 Jahre im Dienste der Regierung stand, und der als Mithelfer bei der Zähmung und Abrichtung wilder Elefanten besonders grausam war (Link).


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Quellen:

Bertolt Brecht: "'Leben des Galilei', Vorwort", in: Werner Hecht: Materialien zu Brechts "Lebens des Galiliei". Suhrkamp, Frankfurt am Main: 1963, S. 8 books.google. ; Gesammelte Werke Bd.17, Schriften Zum Theater III, Anmerkungen zu Stücken und Aufführungen 1918-1956,  Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main: 1967, S. 1105.
Welf Kienast: "Kriegsfibelmodell: Autorschaft und 'kollektiver Schöpfungsprozess' in Brechts Kriegsfibel", Dissertation, Palaestra, Bd. 313,  Vandenhoeck u. Ruprecht,  Göttingen: 2001, S. 144f.; 255  (Link)
 Rudyard Kipling:  "Toomai of the elephants"

/books.google
archive.org


Artikel in Arbeit.

Dienstag, 3. März 2020

"Wer keinen Humor hat, sollte eigentlich nicht heiraten." Eduard Mörike (angeblich)

Pseudo-Eduard-Mörike-Zitat.

Dieser Aphorismus wurde Eduard Mörike mehr als 100 Jahre nach seinem Tod erstmals zugeschrieben und ist in seinen Texten nicht zu finden; der humoristische Aphorismus ist also höchstwahrscheinlich ein Kuckuckszitat, auch weil er in keinem seriösen Nachschlagwerk verzeichnet ist.

  • "Wer keinen Humor hat, sollte eigentlich nicht heiraten."
  • "Wer keinen Humor hat, sollte nicht heiraten."
Erstmals unterschoben wurde Eduard Mörike dieses Bonmot anscheinend im Jahr 1999 ohne Quellenangabe in einem Ratgeberbuch für Hochzeitsreden ("Die schönsten Reden für Hochzeit und Hochzeitstage" books.google ), das man philologisch nicht ernst nehmen kann.

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Twitter:

 

Artikel in Arbeit.
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Quellen:
Eduard Mörike: Projekt Gutenberg; Google

Beispiele für falsche Zuschreibungen:
1999: "Die schönsten Reden für Hochzeit und Hochzeitstage", herausgegeben von Yvonne Thalheim, humboldt-Taschenbuch 1143, München: (1999), 3. Auflage: Baden Baden: 2005, S. 51  books.google (Frühe, vielleicht früheste falsche Zuschreibung an Eduard Mörike; ohne Quellennachweis.)

gutezitate.com - 120304
aphorismen.de - 151992
m.gratis-spruch.de
zitate.de


"In Bibliotheken fühlt man sich wie in der Gegenwart eines großen Kapitals, das geräuschlos unberechenbare Zinsen spendet." Johann Wolfgang Goethe (angeblich)


Ungenaues Johann-Wolfgang-Goethe-Zitat.
 
 Johann Wolfgang Goethe hat diesen Gedanken nicht für alle Bibliotheken formuliert, sondern speziell für die Göttinger Universitätsbliothek, die er am 8. Juni 1801 zum ersten Mal sah. 

Unmittelbar davor besuchte Goethe mit seinem damals 11jährigen Sohn August die Göttinger Pferderennbahn:


  • "Von da [der Reitbahn] zu der allerruhigsten und unsichtbarsten Thätigkeit überzugehen, war in oberflächlicher Beschauung der Bibliothek gegönnt; man fühlt sich wie in der Gegenwart eines großen Capitals, das geräuschlos unberechenbare Zinsen spendet."
    Goethe, 1830, S. 98 (Link)

Bild von uni-goettingen.de
Die Göttinger Bibliothek gehörte um das Jahr 1800 mit 150.000 Büchern und ihrem neuartigen Katalogsystem zu den modernsten Universitätsbibliotheken der Welt (Link).

Auf der Rückreise von Bad Pyrmont nach Weimar im Sommer 1801 konnte Goethe noch vier Wochen lang die Bibliothek für seine naturwissenschaftlichen Studien benützen.

Auf alle Bibliotheken ausgeweitet wurde Goethes Lob der Göttinger Bibliothek erst mehr als 100 Jahre nach seinem Tod.

Inzwischen schmückt sich sogar die Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar mit dem verfälschten Göttinger Goethe-Zitat (klassik-stiftung).

In den digitalisierten Texten taucht das entstellte Goethe-Zitat das erste Mal im Jahr 1954 (Link) auf. 

Artikel in Arbeit.
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Quellen:
Johann Wolfgang Goethe: "Tag- und Jahres-Hefte als Ergänzung meiner sonstigen Bekenntnisse", in: Goethe's Werke: Vollständige Ausgabe letzter Hand,  31. Band, J.G. Cotta'sche Buchhandlung, Stuttgart und Tübingen: 1830, S. 98 (Link)
Horst Kliemann: Stundenbuch für Letternfreunde: Besinnliches und Spitziges über Schreiber und Schrift, Leser und Buch, Ed. Lynotype, Frankfurt am Main: 1954, S. 176 (Link)
Gerhard Hachmann: "Wie lautet Goethes bekanntes Zitat über Bibliotheken richtig?", 26. September 2013 haferklee.wordpress.com

uni-goettingen.de
google books
zeno.org/
klassik-stiftung.de/herzogin-anna-amalia-bibliothek/?L=2

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Dank:
Gerhard Hachmann hat den Ursprung des entstellten Zitats schon im Jahr 2013 dokumentiert.

Montag, 17. Februar 2020

"Alles, was du liebst, geht sehr wahrscheinlich verloren, aber am Ende wird die Liebe auf andere Weise zurückkehren." Franz Kafka (angeblich)

Pseudo-Franz-Kafka quote.

Dieser Satz wird Franz Kafka auf Englisch seit kaum 10 Jahren unterschoben, auf Deutsch seit etwa einem Jahr und stammt aus einer erst im 21. Jahrhundert ausgeschmückten Kafka-Anekdote, die ursprünglich Dora Diamant, Kafkas letze Freundin, überliefert hat.

In Dora Diamants Erinnerungen an Franz Kafka kommt dieser Satz noch nicht vor.

Dora Diamont erzählte folgende Geschichte: 

 

  • "Als wir in Berlin waren, ging Kafka oft in den Steglitzer Park. Ich begleitete ihn manchmal. Eines Tages trafen wir ein kleines Mädchen, das weinte und ganz verzweifelt zu sein schien. Wir sprachen mit dem Mädchen. Franz fragte es nach seinem Kummer, und wir erfuhren, daß es seine Puppe verloren hatte. Sofort erfindet er eine plausible Geschichte, um dieses Verschwinden zu erklären: »Deine Puppe macht nur gerade eine Reise, ich weiß es, sie hat mir einen Brief geschickt.« Das kleine Mädchen ist etwas mißtrauisch: »Hast du ihn bei dir?« »Nein, ich habe ihn zu Haus liegen lassen, aber ich werde ihn dir morgen mitbringen.«"

    Dora Diamant, ›Mein Leben mit Franz Kafka‹, abgedruckt in: »Als Kafka mir entgegenkam ...« Erinnerungen an Franz Kafka, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Wagenbach: Berlin 1995,  Seite 174ff. Zitiert nach franzkafka.de (Link)
In den folgenden 3 Wochen habe Franz Kafka dem Mädchen mit großem Ernst täglich aufmunternde, unterhaltsame Briefe geschrieben und sie dann im Steglitzer Park vorgelesen; im letzten Brief habe die verschwundene Puppe von ihrer Verlobungsfeier und ihrem Bräutigam erzählt.

Diese Briefe sind alle seit 1933 verschollen. Seit 1959 wurde vergeblich versucht, das unbekannte Berliner Mädchen und die Briefe zu finden, am gründlichsten vielleicht von dem Kafka-Übersetzer Mark Hamann im Jahr 2001 (Link).

Diese Anekdote hat Jahrzehnte später mehrere Autoren und Autorinnen zu kurzen und längeren Geschichten angeregt.

Im Jahr 1996 zum Beispiel veröffentlichte Guy Davenport eine Kurzgeschichte mit dem Titel "Belinda's World Tour', in der Franz Kafka dem Mädchen Postkarten aus aller Welt sendet. Das Mädchen heisst bei Davenport Lizavetta, die Puppe Belinda, und am Ende heiratet Belinda einen Mann namens Rudolph Hapspurg aus einer königlichen Familie. (Link)

Im Jahr 2008  publizierte Gerd Schneider einen Kafka-Roman für Jugendliche mit dem Titel "Kafkas Puppe". In diesem Roman heisst das Mädchen Lena und die Puppe Mira und sie heiratet keinen Habsburg.

In den sozialen Medien am öftesten zitiert wird eine Version der Geschichte, die vor etwa 10 Jahren entstanden ist und erstmals das angebliche Kafka-Zitat enthält. 

In dieser Version der Anekdote schenkt Franz Kafka dem Mädchen am Ende der Geschichte eine Puppe mit einem Zettel: "Meine Reisen haben mich verändert .." . 

Und Jahre später habe das Mädchen in der Puppe versteckt einen anderen Zettel entdeckt, mit den Worten:
  • "Alles, was du liebst, geht sehr wahrscheinlich verloren, aber am Ende wird die Liebe auf andere Weise zurückkehren."
Diese Version der Anekdote stammt von der buddhistischen Meditationslehrerin und Psychologin Tara Brach.

Tara Brach, nach May Benatar, 2011:

 

  • "When the meetings came to an end Kafka presented her with a doll. She obviously looked different from the original doll. An attached letter explained: “my travels have changed me... “

    Many years later, the now grown girl found a letter stuffed into an unnoticed crevice in the cherished replacement doll. In summary it said: “every thing that you love, you will eventually lose, but in the end, love will return in a different form.
    There are many versions of the story of Kafka and the doll. I heard this one from Tara Brach, psychologist and Buddhist meditation teacher in Washington D.C."

    May Benatar: "Kafka and the Doll: The Pervasiveness of Loss", 3. Oktober 2011 HuffPost, (Link)


Etwas verändert ist Tara Brachs Version der Geschichte inzwischen auf Deutsch (Facebook)  aufgetaucht:

Twitter, 2020:

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Pseudo-Franz-Kafka-Zitat.

Pseudo-Franz-Kafka-Zitat.





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ZITATFORSCHUNG unterstützen.

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Artikel in Arbeit.
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Quellen:
Google
Kathi Diamant: "Kafkas Last Love. The Mystery of Dora Diamant" Basic Books, New York: 2002, S. 52f., 138 archive.org [Dora Diamant hat die Treffen von Franz Kafka mit dem Berliner Mädchen im Steglitzer Park Kafka-Biographen und Freundinnen erzählt.]
Dora Diamant, ›Mein Leben mit Franz Kafka‹, abgedruckt in: »Als Kafka mir entgegenkam ...« Erinnerungen an Franz Kafka, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Wagenbach: Berlin 1995,  Seite 174ff. Zitiert nach franzkafka.de (Link)
archive.org 
franzkafka.de (Link)  
Paul Auster:  "The Brooklyn Follies" faber and faber (Link)
Kathrin Helmreich: Die Puppenbriefe Franz Kafkas, 16. Januar 2020  mimikama.at
nytimes.com/timesmachine/1993/11/15/030093.html?pageNumber=49
Gerd Schneider: "Kafkas Puppe" Arena Verlag, Würzburg: (2008) 2018 books.google.
 Max Brod (Link)
May Benatar: "Kafka and the Doll: The Pervasiveness of Loss", 3. Oktober 2011 HuffPost, (Link) Mark Harman: Missing Persons: Two Little Riddles about Kafka and Berlin (Link) (Mit Hinweis auf leicht verschiedenen Versionen der Anekdote Diamants.)
Guy Davenport: "Belinda's World Tour", in Guy Davenport: A Table of Green Field: Ten Stories, New Directions, New York:1993, S. 15-21 (Link)
Facebook, 14. Januar 2020 
Facebook




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Dank:

Ich danke Eduard Habsburg für den Hinweis auf dieses Kuckuckszitat.

Donnerstag, 6. Februar 2020

"Der Verlust der Scham ist das erste Zeichen von Schwachsinn." Sigmund Freud (angeblich)

Pseudo-Sigmund-Freud-Zitat.
Diese Aussage wird Sigmund Freud seit etwa 60 Jahren unterschoben und ist in seinen digitalisierten Schriften weder so noch so ähnlich zu finden. 

Der Psychotherapeut Wolfgang Gruber hat auf Twitter eine Wette angeboten: Wer das angebliche Freud-Zitat in  einem Text Sigmund Freuds nachweisen kann, bekommt von Gruber die siebzehnbändige Ausgabe der Gesammelten Werke Sigmund Freuds (Link) geschenkt.

Die Diagnose, der Verlust des Schamgefühls sei ein Symptom des Idiotismus, war schon zu einer Zeit verbreitet, als der 1856 geborene Sigmund Freud noch kein einziges Wort publiziert hat:


 1877
  • "Hier liegt ein eclatanter Fall von Verlust des Schamgefühls vor, ein Symptom des Idiotismus."

    Musikalisches Wochenblatt, 9. Februar 1877, S. 6 (Link)
1871 war in einem deutsch-nationalistischen Pamphlet zu lesen, der "Verlust des Schamgefühls" wäre typisch für die französische Nation:
  • "Wie endlich der Verlust des Schamgefühls, des Gefühls für Anstand, Zucht und Sitte, für Recht und wahre Ehre so häufig eine Folge von Geistesstörung ist, so haben wir auch dieses Symptom an der französischen Nation zu constatiren."
    (Link)
1910 wird von manchen Psychopathologen der Verlust des Schamgefühls als "sicheres Anzeichen von Schwachsinn oder Entartung" diagnostiziert, aber nicht von Sigmund Freud:

  • "Der beste Schutz vor den Gefahren der Sexualität ist die Schamhaftigkeit, und die Psychopathologie lehrt, daß der Verlust des Schamgefühls ein sicheres Anzeichen von Schwachsinn oder Entartung ist."
    "Die Deutsche Schule", Band 14, S. 796 (Link)

In den 1920er Jahren warnte der profaschistische "Ärzte- und Volksbund für Gesellschaftsethik" vor den Gefahren des Nacktbadens und moderner Theaterinszenierungen mit den Worten: "eines der frühestenen Anzeichen mancher Geisteskrankheiten" ist "der Verlust des Schamgefühls":

1927
  • "Die Gefahren der Nacktkultur.
    ... Ärzte- und Volksbund für Gesellschaftsethik .... In einer Vorstandsitzung des Bundes wurde die Nacktkultur und die Entwicklung unseres Theaterwesens erörtert und darauf hingewiesen, daß eines der frühestenen Anzeichen mancher Geisteskrankheiten der Verlust des Schamgefühls ist."

    Salzburger Volksblatt, 18. August 1927, S. 4 (Link); NWJ (Link)
 
books.google
Zwei Jahrzehnte nach dem Tod Sigmund Freuds wurde ihm anscheinend das erste Mal ein Satz über den "Verlust der Scham" zugeschrieben.

Der Technikhistoriker Ralf Bülow hat herausgefunden (Link), dass die früheste Zuschreibung dieses Zitats an Sigmund Freud aus dem 1959 erschienen Buch "Die Geister scheiden sich" des bekennenden Nationalsozialisten und Kämpfers "gegen die entartete Linke" Kurt Ziesel stammen könnte. 

Heinrich Böll erwähnte das angebliche Sigmund-Freud-Zitat aus Ziesels Buch in seiner Polemik gegen diesen inzwischen wohl zu Recht vergessenen Journalisten und Autor Kurt Ziesel am 16. März 1962 in der ZEIT (Link).

Seit damals ist das Kuckuckszitat in verschiedenen Varianten sehr weit verbreitet.
  

Varianten des Pseudo-Sigmund-Freud-Zitats:

  • "Der Verlust des Schamgefühls ist das erste Zeichen von Schwachsinn."
  • "Die Abwesenheit von Schamgefühl ist ein sicheres Kennzeichen von Schwachsinn." 
  • "Der Verlust der Scham ist der Beginn der Idiotie."
  • "Der Verlust von Scham ist das erste Zeichen des Schwachsinns."
  • "Der Verlust der Scham, ist der Beginn der Verblödung." 
  • "Der Verlust der Scham ist der Beginn der Barbarei".
  • "Der Verlust der Scham ist das sicherste Indiz der Dummheit."
  • "Der Verlust der Scham zählte nach Freud zu den sicheren Merkmalen des Wahnsinns."
  • "The first indication of stupidity is a complete lack of shame."
Pseudo-Sigmund-Freud quote.


1964
  • "'Der Verlust der Scham ist das erste Zeichen von Schwachsinn.' Sie[!]gmund Freud"

    Fritz Kempe: Fetisch des Jahrhunderts: ein Lesebuch für Fotofreunde,Econ Verlag,  Düsseldorf, Wien: 1964, S. 176
    (Link) 

Seit 1983 wird dieses Zitat besonders in rechtsextremen Kreisen oft zusammen mit einem anderen Freud-Kuckuckszitat verbreitet:

  • "Freuds sicher zutreffende Erkenntis, »die Abwesenheit von Schamgefühl ist ein sicheres Kennzeichen von Schwachsinn«, verbannte man aus seiner Lehre, wie auch seine folgende Äußerung nicht mehr beachtet wurde: »Kinder, die sexuell  stimuliert werden, sind nicht mehr erziehungsfähig. Die Zerstörung der Scham bewirkt eine Enthemmung auf allen anderen Gebieten, eine Brutalität und Missachtung der Persönlichkeit der Mitmenschen. zit. in Illies, 1983, S. 169»

    Rudolf Künast: Umweltzerstörung und Ideologie. Die Frankfurter Schule: Fakten - Fehler - Folgen. Grabert Verlag, Tübingen: 1983, S. 150 (Link)

1986
  • "Nach langer psychotherapeutischer Erfahrung sagte Freud, der Verlust von Scham sei das erste Zeichen von Schwachsinn. Scham konstituiert also den geistig gesunden Menschen, auf welchen Stufen sie auch praktiziert wird".
    Bruno Moser (Link)

1993
Spiegel (Link)


2015
(Link)

Artikel in Arbeit.
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Quellen:
Google: "Verlust der Scham"
Google: "Verlust von Scham" 
Heinrich Böll: Der Schriftsteller und Zeitkritiker Kurt Ziesel, DIE ZEIT, 16. März 1962 (Link)
Kurt Ziesel: Die Geister scheiden sich. Dokumente zum Echo auf das Buch 'Das verlorene Gewissen+. J.F. Lehmanns Verlag: 1959 [noch nicht kollationiert]
Sigmund Freud: Zur sexuellen Aufklärung der Kinder (Offener Brief an Dr. M. Fürst) (1907) in: Studienausgabe Band V, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main: 1982, S. 159-168; auch in: Gesammelte Werke, Band VII, Hrsg. von Anna Freud,  Imago Publishing, London: 1941,, S. 20-27
freud-online.de/Texte/PDF/freud_werke_alle_bd.pdf 
Musikalisches Wochenblatt, 9. Februar 1877, S. 6 (Link)
Salzburger Volksblatt, 18. August 1927, S. 4 (Link); NWJ (Link)
Joachim Illies: Der Jahrhundert-Irrtum. Würdigung und Kritik des Darwinismus. Umschau Verlag, Franfurt am Main: 1983, S. 169
Rudolf Künast: Umweltzerstörung und Ideologie. Die Frankfurter Schule: Fakten - Fehler - Folgen. Grabert Verlag, Tübingen: 1983, S. 150 (Link)
Wolfgang Gruber, Twitter (Link)
Ralf Bülow, Twitter (Link)
  
dpa-Faktencheck: "Experten über falsches Freud-Zitat: widerspricht seinen Positionen", 29. November 2019  presseportal.de/pm/133833/4453871 

freud-online.de/Texte/PDF/freud_werke_alle_bd.pdf

Beispiele für das Falschzitat:
Markus M. Ronner: "Die Treffende Pointe: humoristisch-satirische Geistesblitze des 20. Jahrhunderts nach Stichwörtern alphabetisch geordnet." Ott Verlag, Thun: 1974,  S. 251 (Link)
bild.de 21. April 2018
tichyseinblick.de  3. Januar 2020
zitate.eu 27735
gutezitate.com/zitat/262703



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Dank:
Ich danke Wolfgang Gruber für die Aufdeckung und Ralf Bülow für seine Recherchen zum Ursprung dieses Falschzitats.