FALSCHZITATE mit Belegen und Kommentaren. Hunderte falsche Zitate, Memes, Kuckuckszitate, Zitaträtsel, apokryphe, problematische und entstellte Zitate, misquotations, misattributed and fake quotes. (Die Sammlung wird laufend ergänzt.) Von GERALD KRIEGHOFER.
Dieses entstellte Zitat stammt aus einem Radio-Gespräch Hannah Arendts mit Joachim Fest aus dem Jahr 1964 und ist ein Falschzitat, weil ein entscheidendes Wort fehlt.
In dem Interview geht es unter anderem um die Dummheit des sonst intelligenten Adolf Eichmann, wenn er behauptet, er habe sein Leben lang die Moralvorschriften Immanuel Kants befolgt, Kants Pflichtbegriff zu seiner Richtschnur gemacht und aus Pflicht den Befehlen seiner Vorgesetzten gehorcht.
Nun kann sich ein Schreibtischmassenmörder nicht auf den kategorischen Imperativ berufen, ohne sich oder andere anzulügen. Zu glauben, mit so einer Rechtfertigung durchzukommen, ist ein Zeichen von Dummheit. Hannah Arendt erklärt kurz, warum Eichmanns Berufung auf Kant lächerlich ist, warum es mit Hilfe von Kant unmöglich ist, sein Gewissen und seine Verantwortung bei einem Vorgesetzten auszulagern und sagt in diesem Zusammenhang: "Kein Mensch
hat das Recht zu gehorchen bei Kant."
Der Satz ist in diesem Kontext verständlich und richtig, in seiner Verkürzung und Verallgemeinerung aber unsinnig und zu einem Slogan verkommen, den man sowenig ernst nehmen kann wie einen Werbespruch. Selbstverständlich habe ich zum Beispiel das Recht, einem Polizisten zu gehorchen, wenn er mir sagt, ich solle nicht bei Rot über die Kreuzung gehen.
Leider ist das unsinnig entstellte Zitat Hannah Arendts viel bekannter als der Gedanke, der ursprünglich dahinter steckt, und mit diesem Spruch werden auch Denkmäler und Park-Bänke geschmückt. Zum Beispiel wurde 2014 für den Hannah-Arendt-Park in Wien angekündigt, das Falschzitat werde "im Park-Eingangsbereich an der Maria-Tusch-Straße in den Sockel einer Sitzbank eingegossen werden". (Link)
Das Deutsche Historische Museum bewirbt im Jahr 2020 seine Hannah-Arendt-Ausstellung mit diesem Falschzitat auf Deutsch und auf Englisch ("No one has the right to obey". )
5. November 2017:
"Nach jahrelangem Tauziehen ist heute am Gebäude des Finanzamtes in der
Südtiroler Hauptstadt Bozen eine Installation am Mussolini-Relief
enthüllt worden, die das faschistische Relikt in seinen geschichtlichen
Kontext rücken soll. Am Abend leuchtete das Zitat von Hannah Arendt, 'Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen', dann erstmals auch." ORF.at, 5. November 2017
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Joachim Fest, Radio-Gespräch, 1964:
"Sie haben vorhin den Namen Kant
erwähnt, und Eichmann selbst hat sich ja nun in dem Prozess
gelegentlich auf Kant berufen. Er habe gesagt, er sei sein Leben lang
den Moralvorschriften Kants gefolgt und habe vor allem den Kantischen
Pflichtbegriff zu seiner Richtschnur gemacht."
Hannah Arendt, 16.20:
Hannah Arendt, 1964:
"Ja. Natürlich eine Unverschämtheit, nicht? Von Herrn Eichmann. Kants
ganze Moral läuft doch darauf hinaus, dass jeder Mensch bei jeder
Handlung sich selbst überlegen muss, ob die Maxime seines Handelns zum
allgemeinen Gesetz werden kann. … Es ist ja gerade sozusagen
das extrem Umgekehrte des Gehorsams! Jeder ist Gesetzgeber. Kein Mensch
hat das Recht zu gehorchen bei Kant.
Eichmann war ganz intelligent, aber diese Dummheit hatte er. Das war die
Dummheit, die so empörend war. Und das habe ich eigentlich gemeint mit
der Banalität. Da ist keine Tiefe – das ist nicht dämonisch! Das ist
einfach der Unwille, sich je vorzustellen, was eigentlich mit dem
anderen ist ...
Das heißt, dieses Unvermögen, wie Kant sagt, um ihn jetzt also doch
wirklich in den Mund zu nehmen: "an der Stelle jedes andern denken" –
ja, das Unvermögen ... Diese Art von Dummheit, dass es ist, als ob man
gegen eine Wand spricht. Man kriegt nie eine Reaktion, weil nämlich auf
einen selber gar nicht eingegangen wird. Das ist deutsch. Das zweite,
was mir spezifisch deutsch scheint, ist diese geradezu verrückte
Idealisierung des Gehorsams." Hannah Arendt im Gespräch mit Joachim Fest, 1964.
Zitiert nach: "Eine Rundfunksendung aus dem Jahr 1964." Herausgegeben von Ursula Ludz und Thomas Wild. (Link) (Allerdings habe ich hier die Version: "Kein Mensch hat bei Kant das Recht zu gehorchen" nach dem Original korrigiert.)
Immanuel Kant, 1793:
"Der Satz 'man muß Gott mehr gehorchen, als den Menschen' bedeutet nur, daß, wenn die letzten etwas gebieten, was an sich böse
(dem Sittengesetz unmittelbar zuwider) ist, ihnen nicht gehorcht werden
darf und soll."
Immanuel Kant: "Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft." 1793, AA VI, S. 99 (Link)
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Quellen: Google Statistik: "Ungefähr 16 600 Ergebnisse" (Das Falschzitat ist also millionenfach verbreitet.)
Hannah Arendt, Joachim Fest: "Eichmann war von empörender Dummheit. Gespräche und Briefe." Piper Verlag, München: 2011 (Der fragliche Satz mit dem nachgestellten "bei Kant" wurde redigiert zu: "Kein Mensch
hat bei Kant das Recht zu gehorchen." Ich halte diese Umstellung für vertretbar.)
Hannah Arendt im Gespräch mit Joachim Fest, 1964. "Eine Rundfunksendung aus dem Jahr 1964." Herausgegeben von Ursula Ludz und Thomas Wild. (Link)
"Der rätselhafte Satz." Ein Gespräch mit Andreas Oberprantacher über das falsche Hannah-Arendt-Zitat auf einem Mussolini-Relief. "Die Neue Südtiroler Tageszeitung Online", 5. Februar 2017 (Link)
Stadtteilmanagement Seestadt aspern: "Niemand hat das Recht zu gehorchen." 2014 (Link)
Immanuel Kant: "Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft." 1793, Akademieausgabe von Immanuel Kants Gesammelten Werken (AA), Elektronische Edition, Band VI, S. 99 (Link)
Dieses Zitat, das in den digitalisierten Medien erst im 21. Jahrhundert auftaucht, ist zwar in diesem Wortlaut nicht von Immanuel Kant, aber immerhin paraphrasiert es einen wichtigen Gedanken von Kant aus seiner immer noch lesenswerten Schrift "Zum ewigen Frieden".
Immanuel Kant, 1795:
"Der Friedenszustand unter Menschen, die neben einander leben, ist kein Naturstand (status naturalis), der vielmehr ein Zustand des Krieges ist, d.i. wenn gleich nicht immer ein Ausbruch der Feindseligkeiten, doch immerwährende Bedrohung mit denselben. Er muß also gestiftet werden; denn die Unterlassung der letzteren ist noch nicht Sicherheit dafür, und, ohne daß sie einem Nachbar von dem andern geleistet wird (welches aber nur in einem gesetzlichen Zustande geschehen kann), kann jener diesen, welchen er dazu aufgefordert hat, als einen Feind behandeln." Immanuel Kant: "Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf." 1795
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Quellen:
Immanuel Kant: "Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf." (1795)
In: Werke in zwölf Bänden, Band 11, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main:
1977, S. 203. Zeno.org Projekt Gutenberg Weihnachtsgruß der Stadt Heidelberg, 2002 (Link) (Link) (Link)
Dieses Pseudo-Cicero-Zitat stammt aus dem 1965 erschienenen historischen Roman über Cicero: "A Pillar of Iron: A Novel of Ancient Rome" von Taylor Caldwell. (Link)
Die Autorin vermischt in dieser Romanbiographie Cicero-Zitate mit erfundenen Zitaten, wie das bei einem anderen Pseudo-Cicero-Zitat aus diesem Buch schon analysiert wurde; der Satz: "The budget should be balanced, the treasury should be refilled,
public debt should be reduced ...", wird heute auch sehr oft irrtümlich Cicero und nicht der Autorin zugeschrieben, wie man hier Snopes.com und hier Quoteinvestigator.com nachlesen kann.
Unser Zitat, "A nation can survive its fools, and even the ambitious. But it cannot
survive treason from within", wird auch durch einen Text mit dem Titel "Cicero's Prognosis" verbreitet, der einem amerikanischen Höchstrichter und Gouverneur von Florida mit dem Namen M. F. Caldwell zugeschrieben wird, also einem Mann, dessen Nachnamen mit dem der Autorin Taylor Caldwell identisch ist.
"THE HONORABLE MILLARD F. CALDWELL Justice - Supreme Court Tallahassee, Florida" (Link) soll diesen Vortrag im Oktober jenes Jahres gehalten haben, in dem der Roman, aus dem unser Zitat stammt, erschienen ist. - Ich nehme an, die Zuschreibung an diesen Richter ist ein Irrtum. In der Datenbank der U.S. National Library of Medicine wird der Text
"Cicero's Prognosis" einer Person mit dem Namen "Caldwell MF" (ohne
genauere Daten über die Autorin) zugeordnet. (Link)
Wie auch immer: Auch Autorinnen und Autoren von Wikiquote haben unser Zitat in keinem Werk Ciceros gefunden, aber sie schreiben es dem Herrn, nicht der Frau Caldwell zu (Link) und konstatieren zurecht eine entfernte Ähnlichkeit einer Passage des Zitats mit einer Stelle in Ciceros 2. Catilinarischen Rede.
Pseudo-Cicero, 1965:
"Eine Nation kann ihre Narren überleben – und sogar ihre ehrgeizigsten
Bürger. Aber sie kann nicht den Verrat von innen überleben. Ein Feind
vor den Toren ist weniger gefährlich, denn er ist bekannt und trägt
seine Fahnen für jedermann sichtbar. Aber der Verräter bewegt sich frei
innerhalb der Stadtmauern, sein hinterhältiges Flüstern raschelt durch
alle Gassen und wird selbst in den Hallen der Regierung vernommen. Denn
der Verräter tritt nicht als solcher in Escheinung: Er spricht in
vertrauter Sprache, er hat ein vertrautes Gesicht, er benutzt vertraute
Argumente, und er appelliert an die Gemeinheit, die tief verborgenen in
den Herzen aller Menschen ruht. Er arbeitet darauf hin, dass die Seele
einer Nation verfault. Er treibt sein Unwesen des Nächtens – heimlich
und anonym – bis die Säulen der Nation untergraben sind. Er infiziert
den politischen Körper der Nation dergestalt, bis dieser seine
Abwehrkräfte verloren hat. Fürchtet nicht so sehr den Mörder. Fürchtet
den Verräter. Er ist die wahre Pest!” –
"A nation can survive its fools, and even the ambitious.
But it cannot survive treason from within. An enemy at the gates is less
formidable, for he is known and carries his banner openly. But the
traitor moves amongst those within the gate freely, his sly whispers
rustling through all the alleys, heard in the very halls of government
itself. For the traitor appears not a traitor; he speaks in accents
familiar to his victims, and he wears their face and their arguments, he
appeals to the baseness that lies deep in the hearts of all men. He
rots the soul of a nation, he works secretly and unknown in the night to
undermine the pillars of the city, he infects the body politic so that
it can no longer resist. A murderer is less to be feared. The traitor is
the carrier of the plague. You have unbarred the gates of Rome to him." Taylor Caldwell, 1965 (Fast zeichengetreue Wiedergabe aus dem Roman: "A Pillar of Iron: A Novel of Ancient Rome"; zitiert nach "Cicero's prognosis" (Link) .)
Auszug aus Ciceros 2. Catilinarischer Rede vom 9. November 63 v. Chr.:
"Nulla enim est natio, quam pertimescamus,
nullus rex, qui bellum populo Romano facere possit. Omnia sunt
externa unius virtute terra marique pacata: domesticum bellum
manet, intus insidiae sunt, intus inclusum periculum est, intus
est hostis. Cum luxuria nobis, cum amentia, cum scelere certandum
est. Huic ego me bello ducem profiteor, Quirites; suscipio inimicitias
hominum perditorum; quae sanari poterunt, quacumque ratione sanabo,
quae resecanda erunt, non patiar ad perniciem civitatis manere.
Proinde aut exeant aut quiescant aut, si et in urbe et in eadem
mente permanent, ea, quae merentur, exspectent."
"Denn es gibt keine Nation, die wir zu fürchten
hätten, keinen König, der mit dem Römervolk Krieg
zu führen vermöchte. Alle auswärtigen Verhältnisse
sind durch eines Mannes (Pompeius)
Tapferkeit zu Land und Meer friedlich geworden. Nur ein innerer
Krieg ist noch vorhanden, im Inneren bestehen Nachstellungen,
im Innern hat die Gefahr sich festgesetzt, im Innern ist der Feind.
Mit der Üppigkeit, mit dem Wahnsinn, mit dem Verbrechen haben
wir zu kämpfen. Für diesen Krieg, Quiriten,
erkläre ich mich zum Anführer; ich nehme die Feindschaft
dieser schlechten Menschen auf mich. Was noch zu heilen ist, will
ich, so gut ich kann, heilen. Was ausgeschnitten werden muss,
werde ich nicht zum Verderben des Staates weiter um sich greifen
lassen. Daher sollen jene entweder sich fortbegeben oder sich
ruhig verhalten oder, wenn sie in der Stadt und bei ihrer Gesinnung
bleiben, das Los erwarten, das sie verdienen." Marcus Tullius Cicero: "In Catilinam II" 2. Catilinarische Rede, 63 AD, Übersetzung nach C.N.v.Osiander, Gottwein.de (Link)
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Quellen:
Taylor Caldwell: "A Pillar of Iron: A Novel of Ancient Rome", 1965. (Eine Ausgabe von 1965 hatte ich noch nicht in der Hand.) Google Books: (Link)
Millard F. Caldwell (Probably falsely attributed): "Cicero's Prognosis." Association of American Physicians and Surgeons, Inc. A Voice for Private Physicians, Florida: (1965) 1996 (Link)
Marcus Tullius Cicero: "In Catilinam II" 2. Catilinarische Rede, 63 AD, Übersetzung nach C.N.v.Osiander, Gottwein.de (Link)
U.S. National Library of Medicine (Link) Quoteinvestigator.com Wikiquote de.wikiquote Snopes.com
1963: (Link)
Diese Maxime stammt so ähnlich aus Ciceros Schrift "De officiis" / "Vom pflichtgemäßen Handeln", dem wahrscheinlich immer noch beliebtesten und meistübersetzten Werk Ciceros.
Cicero, De officiis, Liber 1, 47:
"nullum enim officium referenda gratia magis necessarium est". (Link)
"es gibt nämlich keine wichtigere Verpflichtung, als Dankbarkeit zu zeigen". Übersetzt von Rainer Nickel (Link)
"Denn keine Pflicht ist unausweichlicher als die, Dank abzustatten." Übersetzt von Karl Büchner (Link)
"There is no duty more obligatory than the repayment of kindness." (Link)
Ich dachte zuerst, der Spruch "Keine Schuld ist dringender ..." habe mit Cicero gar nichts zu tun, wurde aber von Aphorismen.de darauf aufmerksam gemacht, dass der Spruch eine Maxime Ciceros paraphrasiert.
Es scheint Dutzende Übersetzungsvarianten dieses Satzes zu geben.
Artikel in Arbeit.
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Quellen:
Cicero: Vom pflichtgemäßen Handeln / De officiis: Lateinisch - Deutsch, herausgegeben und übersetzt von Rainer Nickel, Reihe Tusculum, Patmos Verlag, Artemis und Winkler, Düsseldorf: 2008; S. 44f. (Link)
Cicero: De officiis wikisource.org
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Ich danke aphorismen_de für den Hinweis auf meinen Irrtum.
Das ist eines von den etwa zwei Dutzend populären Tucholsky-Zitaten, die - nach Recherchen von Friedhelm Greis und der Kurt Tucholsky-Gesellschaft - in keinem Werk Tucholskys zu finden sind.
Er kannte diesen Witz, aber er stammt nicht von ihm, auch wenn er ihm heute oft in diversen Zitatsammlungen irrtümlich zugeschrieben wird.
Der Witz war - wie auch Hannah Arendt erzählt - in der Weimarer Republik verbreitet und vielleicht wurde er 1923 von Theodor Lessing in seiner Satire "Feind im Land?" geprägt.
Auf der ganzen Welt bekannt wurde der Dialog durch Hannah Arendt und durch den Film "Ship of Fools" ("Das Narrenschiff"), in dem Heinz Rühmann als Julius Löwenthal die Gegenfrage stellt.
Eine frühe Version der scherzhaften Klage über Juden und Radfahrer findet man in dem 1912 erschienem Roman "Morgenrot" von Otto Stoessl:
"Und weil zu dieser Zeit auch das Zweirad aufkam, dessen Sportwildlinge viel Unheil anrichteten, pflegte Dieter das ganze Elend der Welt in dem Spruch zusammenzufassen: die Juden und die Radfahrer sind an allem schuld." Otto Stoessl: "Morgenrot", Projekt Gutenberg: 2017 (Link), Erstausgabe 1912: (Link)
Die Wendung "XY sind an allem schuld" ist seit Mitte des 18.
Jahrhunderts nachweisbar. Zwischen 1845 und 1871 werden in
österreichischen Zeitungen folgende Gruppen - nicht immer völlig ernst - als "an allem schuld" bezeichnet:
die
Pfaffen, die Österreicher, die Preußen, die Jesuiten, die Journalisten
(1871), die Engländer (1858), die verfluchten Schneider, die Zeitungen,
die Gerichte und die Ärzte. (Link)
Von
1871 bis 1899 wird dann diese Floskel in Österreich hauptsächlich gegen
Juden, selten gegen Freimaurer, Fremde, Sozialdemokraten, Clericale
oder Antisemiten verwendet; "die Juden sind an allem schuld!", wird sogar
im österreichischen Parlament von christlich-sozialen Abgeordneten geschrien. (Link)
1923, zehn Jahre bevor Theodor Lessing in seinem Exil in der Tschechoslowakei von Nazis ermordet wird, schreibt dieser meistgehasste Autor und Philosoph der Weimarer Republik in einer politischen Satire:
"Ja, ich sage es Ihnen frei heraus: Hier steht auf der einen Seite der
unverantwortliche Geist der Zersetzung, auf der andern Seite die
gesunde organische Evolution Europas. Wenn ich aber vaterlandsfeindliche
Zurufe, die mir im Ohre gellen, auf ihre Herkunft prüfe, so kann ich
mir nicht ganz verhehlen, daß einen guten Teil der Schuld an einem Siege
der destruktiven Tendenzen auch die Freimaurer und Juden tragen ...«
»Und die Radfahrer«, schrie Mannheimer aus seiner Ecke.
»Wieso grade die Radfahrer?« fragte Tünnes etwas stutzig werdend.
»Wieso grade die Juden?« erwiderte Mannheimer."
Theodor Lessing: "Feind im Land. Satiren und Novellen. "(EA 1923), Hofenberg, Berlin: 2017 (Link)
1925 kommt meines Wissens dieser Witz erstmals in einer Zeitung (ohne Hinweis auf Theodor Lessing (Link)) vor, und Kurt Tucholsky spielt 1928 in folgenden Versen auf die Worte von "den Juden und den Radfahrern" an:
"Hast du Angst, Erich? Bist du bange, Erich? Klopft dein Herz, Erich? Läufst du weg? Wolln die Maurer, Erich – und die Jesuiten, Erich, dich erdolchen, Erich – welch ein Schreck! Diese Juden werden immer rüder. Alles Unheil ist das Werk der . ·. . ·. Brüder.
Denn die Jesuiten, Erich – und die Maurer, Erich –
und die Radfahrer – die sind schuld
an der Marne, Erich – und am Dolchstoß, Erich –
ohne die gäbs keinen Welttumult.
..."
Kurt Tucholsky: "Ludendorff oder Der Verfolgungswahn" von Theobald Tiger, "Die Weltbühne", 6. November 1928, Nr. 45, S. 700 (Link)
Für Hannah Arendt ist dieses Witzwort die "beste Widerlegung" der antisemitischen Wahnidee, die Juden stünden versteckter Weise hinter allen Übeln der Welt:
"Die beste Illustrierung und zugleich die beste
Widerlegung dieser Theorie ist in einem Witz enthalten, der in den
zwanziger Jahren häufig erzählt wurde: Ein Antisemit behauptet, die Juden seien am Kriege schuld; die Antwort lautet: Ja, die Juden und die Radfahrer. Warum die Radfahrer? fragt der eine; warum die Juden? fragt der andere." Hannah Arendt: "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft." (1955) Ullstein, Berlin: 1975, S. 23 (Link)
"The best illustration – and the best refutation – of this explanation, dear to the hearts of many liberals, is in a joke which was told after the first World War. An anti-Semite claimed that the Jews had caused the war; the reply was: Yes, the Jews and the bicyclists. Why the bicyclists? asks the one. Why the Jews? asks the other. " Hannah Arendt: "The Origins of Totalitarianism." (EA1951) Penguin Books Classics: 2017 (Link)
Einige weitere, manchmal sehr viel schwächere, Varianten des Dialogs: 1956
"»Dadurch haben wir den Krieg verloren. Durch die Schlamperei der Intellektuellen und durch die Juden.« »Und die Radfahrer«, ergänzt Riesenfeld. »Wieso die Radfahrer?« fragt Heinrich erstaunt. »Wieso die Juden?« fragt Riesenfeld zurück." Erich Maria Remarque: "Der schwarze Obelisk: Geschichte einer verspäteten Jugend." Kiepenheuer u. Witsch, Köln: 1956, S. 293 (Link)
1965
"Rieber: Lowenthal, you know it is a historical fact that the Jews are the basis of our misfortunes. Lowenthal: Of course. Rieber: You agree? Lowenthal: Of course. The Jews and the bicycle riders. Rieber: The bicycle riders? Why the bicycle riders? Lowenthal: Why the Jews?" "Ship of Fools", 1965, zitiert nach Imdb.com
"'Die Juden sind an allem schuld.' Rühmann repliziert: 'Genau, die Juden
und die Radfahrer.' 'Wieso die Radfahrer?', fragt der Deutsche.
Rühmann entgegnet: 'Wieso die Juden?'." Das Narrenschiff, 1965 (Link) (Den genauen Wortlaut muss ich erst recherchieren.)
"Ferrer: 'Die Juden sind an allem Schuld.' Rühmann: 'Stimmt, die Juden und die Radfahrer.' Ferrer: 'Wieso die Radfahrer?' Rühmann: 'Wieso die Juden?'" Das Narrenschiff, 1965 (Link)
1999
"Treffen einander zwei Wiener auf der Straße und jammern über die schrecklichen Entbehrungen, die ihnen der Krieg verursacht hat. Schließlich sagt der eine. 'Und weißt Du, wer schuld ist an dem Krieg? Die Juden und die Radfahrer!' Gegenfrage: 'Wieso die Radfahrer?!'" Albert Lichtblau (Hrsg.): "Als hätten wir dazugehört: österreichisch-jüdische Lebensgeschichten aus der Habsburgermonarchie." Böhlau, Wien: 1999 (Link)
2010
"Ein älterer Jude aus Berlin findet sich von Nazis umringt, die ihn zu
Boden schlagen und höhnisch fragen: 'Na Jude, wer ist denn schuld am
Krieg?' Der kleine Jude ist nicht auf den Kopf gefallen und antwortet: 'Die
Juden und die Radfahrer.' 'Warum die Radfahrer?', wollen die Nazis
wissen. 'Warum die Juden?', kontert der alte Mann." Avi Primor, Christiane von Korff: "An allem sind die Juden und die Radfahrer schuld", Piper Verlag, München: 2010, S. 9 (Link)
2014
"One of the conclusions to be drawn from this is that, in endeavoring to provide an answer to the question "Why were Jews specifically picked out to play the scapegoat role in anti-Semitic ideology?" we might easily succumb to the very trap of anti-Semitism, looking for some mysterious feature in them that, as it were, predestined them for that role: the fact that Jews who were chosen for the role of the 'Jew' ultimately is contingent — as it is pointed out by the joke about anti-Semitism: 'Jews and cyclists are responsible for all our troubles. — Why cyclists? — WHY JEWS?'" Slavoj Žižek: "Žižek's Jokes: (Did you hear the one about Hegel and negation?)" Ed. by Audun Mortensen, MIT Press, Boston: 2014, S. 117 (Link)
"'Die Juden und die Radfahrer sind für unsere ganzen Schwierigkeiten verantwortlich!' — 'Warum die Radfahrer?' — 'Warum die Juden?'" Slavoj Žižek: "Žižek's Jokes - Treffen sich zwei Hegelianer ..." Übers: Franz Born, Suhrkamp, Berlin: 2014 (Link)
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Quellen: Gutezitate.com (Die Sammlung einer Unmenge falsch zugeschriebener Zitate und Memes.)
Stefan Ille, Kurt Tucholsky-Gesellschaft: "Juden und Radfahrer – Ein angebliches Tucholsky-Zitat." (Mit einem Nachtrag von Friedhelm Greis, dem ich auch das Tucholsky-Zitat verdanke.) (Link)
Historische Zeitungen und Zeitschrifen der Österreichischen Nationalbibliothek, Anno Volltextsuche (Link)
Google Books, Projekt Gutenberg etc. Otto Stoessl: "Morgenrot", Projekt Gutenberg: 2017 (Link), Erstausgabe 1912: (Link)
Theodor Lessing: "Feind im Land. Satiren und Novellen. "(EA 1923), Hofenberg, Berlin: 2017 (Link)
Kurt Tucholsky: "Ludendorff oder Der Verfolgungswahn" von Theobald Tiger (Psd.), "Die Weltbühne", XXIV Jg., Nr. 45, 6. November 1928, S. 700 (Letzte Zeile: "Alles Unheil ist das Werk der Heeresbrüder.") (Link) Hannah Arendt: "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft." (1955) Ullstein, Berlin: 1975, S. 23 (Link) Hannah Arendt: "The Origins of Totalitarianism." (EA1951) Penguin Books Classics: 2017 (Link)
Slavoj Žižek: "Žižek's Jokes - Treffen sich zwei Hegelianer ..." Übers: Franz Born, Suhrkamp, Berlin: 2014 (Link) Slavoj Žižek: "Žižek's Jokes: (Did you hear the one about Hegel and negation?)" Ed. by Audun Mortensen, MIT Press, Boston: 2014, S. 117 (Link) Avi Primor, Christiane von Korff: "An allem sind die Juden und die Radfahrer schuld", Piper Verlag, München: 2010, S. 9 (Link) Albert Lichtblau (Hrsg.): "Als hätten wir
dazugehört: österreichisch-jüdische Lebensgeschichten aus der
Habsburgermonarchie." Böhlau, Wien: 1999 (Link) Erich Maria Remarque: "Der schwarze Obelisk: Geschichte einer verspäteten Jugend." Kiepenheuer u. Witsch, Köln: 1956, S. 293 (Link)
"Das Vaterland." Abendblatt, 27. November 1897, S. 1 Parlament (Link)
"Arbeiterwille", 27. Juni 1925, S. 3 1925: "Die Juden und die Radfahrer." Walter Ludwig: "Soziologie des deutschen Stammtisches. Die Entstehung politischer Schlagworte." "Salzburger Wacht", 30. Januar 1932, S. 7: "'Die Juden und die Radfahrer' sind an allem schuld. Besser als mit diesem Witzwort, kann man die Mentalität eines Stammtisches nicht beschreiben." (Link)