Samstag, 10. Juni 2017

"Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche.“ Gustav Mahler (angeblich)

Dieses Zitat stammt nicht von Gustav Mahler, obwohl es millionenfach so von fast allen Zeitungen der Welt verbreitet wird: "Irrwege einer Metapher", Wiener Zeitung, 10. Juni 2017 (Link).

Geboren wurde diese schöne Metapher am 21. Januar 1910 im französischen Parlament. Der Sozialist Jean Jaurès antwortet konservativen Abgeordneten mit dieser beeindruckenden Rede:

  •  "Herr Barrès fordert uns öfter auf, in die Vergangenheit zurückzugehen; für die, die nicht mehr sind und die, die zur Unbeweglichkeit erstarrt, gleichsam heilig geworden sind, hegt er eine Art pietätvolle Verehrung. Nun, meine Herren, auch wir verehren die Vergangenheit. Aber man ehrt und achtet sie nicht wirklich, indem man sich zu den verloschenen Jahrhunderten zurückwendet und eine lange Kette von Phantomen betrachtet: die richtige Art, die Vergangenheit zu betrachten, ist, das Werk der lebendigen Kräfte, die in der Vergangenheit gewirkt haben, in die Zukunft weiterzuführen.

    Alle, die in den entschwundenen Jahrhunderten gekämpft haben, welcher Partei, welcher Richtung sie auch angehört haben mögen, waren durch die unbesiegbare Macht des Lebens Kräfte der Bewegung, des Antriebes, der Verwandlung; sie waren es schon allein dadurch, dass sie Menschen waren, die dachten, wünschten, litten - und einen Ausweg suchten: alle waren es, selbst die, die in den damaligen Kämpfen als konservativ erscheinen mochten.
    Und wir nehmen dieses Beben, diese Schauern, diese Bewegung in uns auf, wir tragen die Vergangenheit treu in uns, so wie der Fluß die Quelle treu in sich trägt, indem er zum Meere strömt.

    Jawohl, meine Herren, auch wir verehren die Vergangenheit. Nicht vergeblich hat die Flamme im Herd so vieler menschlicher Generationen gebrannt und gefunkelt; aber wir, die wir nicht stillstehen, die wir für ein neues Ideal kämpfen, wir sind die wahren Erben der Herde unserer Vorfahren: wir haben daraus ihre Flamme geholt, ihr habt nur die Asche bewahrt."
    Jean Jaurès, 21. Januar 1910, Paris, Parlament; nach einer Übersetzung von

    Grete Helfgott.
 Diese Metapher wird später in diversen Variationen Thomas Morus, Benjamin Franklin, einem "alten griechischen Philosophen", Friedrich dem Großen, Johannes XXIII., Ricarda Huch, Jean Juares und auf der ganzen Welt am erfolgreichsten Gustav Mahler zugeschrieben. Die Metapher von Asche und Feuer ist aber weder in den Schriften von Thomas Morus noch in denen von Gustav Mahler und all den anderen zu finden. Diese Zuschreibungen sind also alles Falschzitate, solange keine seriöse Quelle für eine dieser Zuschreibungen bekannt gemacht wird.

Ein Beispiel für die vielen falschen Zuschreibungen ist auf der rechtsextremen Seite "Metapedia" zu bestaunen. Man gibt sich auf dieser Seite besonders traditionsbewusst, aber unter ihrem Stichwort "Tradition" stehen fast ausschließlich erfundene Zitate: das ist unfreiwillig komisch.
Pseudo-Mahler, Pseudo-Franklin, Pseudo-Huch, and Pseudo-Johannes XXIII. quotes.


Erstmals Gustav Mahler zugeschrieben wurde dieses Zitat anscheinend im Jahr 1992, ungefähr 80 Jahre nach seinem Tod, als der Burgtheater-Direktor Klaus Bachler in einem Interview (Link) meinte, Gustav Mahler habe gesagt: "Tradition ist Weitergabe des Feuers ohne Anbetung der Asche."
  
Variationen
  • Gustav Mahler:  "Tradition ist Weitergabe des Feuers ohne Anbetung der Asche."
  • Gustav Mahler: "Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche."
  •  Gustav Mahler: "Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers." (Abiturrahmenthema 2011)
  • Gustav Mahler: "Tradition ist Bewahrung des Feuers, nicht Anbetung der Asche."
  • Gustav Mahler: "Tradition heißt nicht, Asche verwahren, sondern eine Flamme am Brennen halten."
  • Gustav Mahler: "Tradition is the spreading of fire and not the veneration of ashes." 
  • Gustav Mahler : "Tradition is not the worship of ashes, but the preservation of fire."
  • Gustav Mahler: "Non ricordare le ceneri, ma tenere acceso il fuoco."


In folgenden Variationen wird dieses Zitat Jean Jaurès zugeschrieben: 
  • 1) "nous en avons pris la flamme, vous n'en avez gardé que la cendre."
    2) "wir haben daraus die Flamme geholt, ihr habt nur die Asche behalten." 
    3) "wir haben dem Herd die Flamme entnommen, ihr habt nur seine Asche aufbewahrt."
    4) "Tradition heißt nicht, die Asche zu verwahren, sondern die Glut wieder zum Lodern zu bringen."
    5) "Tradition is not guarding the ashes, but stirring up the flames."
    6) "Take from the altar of the past the fire, not the ashes.”  
    7) "Wir wollen aus der Vergangenheit das Feuer übernehmen, nicht die Asche."
    8) "Tradition ist nicht das Bewahren der Asche, sondern das Schüren der Flamme."
      (DUDEN)
    9) "Tradition heißt nicht, die Asche bewahren; Tradition heißt, die Flamme weitergeben." 
    10) "Tradition heißt nicht, Asche verwahren, sondern eine Flamme am Brennen erhalten."

         (Maucher und Malik, deutsch) 
    11) "Being conservative doesn't mean keeping the ashes but preserving the flame."
         (Maucher und Malik, englisch) (Link)
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Anmerkung
 (Artikel in Arbeit.)
Der sozialdemokratische Politiker Jean Jaurès (*1859 +1914) hat als junger Mann mit der Dissertation: "Über die Realität der Sinnenwelt", die er 1902 neu auflegen ließ, promoviert und philosophische Fragen fesseln ihn sein Leben lang; er nimmt Religionen so ernst wie Atheisten und Agnostiker: Er hat Ehrfurcht vor dem Lebendigen und den Naturkräften, liebt viele ihrer Erscheinungen und der Wunsch nach Gerechtigkeit gehört zum Fundament seiner Politik; wer will, kann ihn mit guten Gründen in die philosophiegeschichtliche Schublade zu den Pantheisten einsortieren. Jean Jaurès' philosophische Absicht: Synthesen von entgegengesetzten philosophischen Positionen zu bilden, setzt er in seiner politischen Arbeit fort. Wie Victor Adler in Österreich gelingt es ihm in Frankreich, unterschiedliche linke Strömungen zu vereinen und eine sozialdemokratische Partei zu bilden. Auch als Historiker versucht er marxistischen Determinismus mit idealistischen Positionen zu versöhnen.
Am 30. Juli 1914 wird der Kriegsgegner Jean Jaurès, der im Ruf steht, ein Freund Deutschlands zu sein, von einem 29-jährigen Rechtsextremen in dem Pariser Café du Croissant ermordet. Der Mörder wird nach fünf Jahren Untersuchungshaft wegen Unzurechnungsfähigkeit mit fadenscheinigen Argumenten freigesprochen.
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Quellen:
"Jean Jaurès. Aus seinen Reden und Schriften." Große Gestalten des Sozialismus. II. Band.  Eingeleitet und ausgewählt von Louis Lévy. Übersetzt von Grete Helfgott. Verlag der Wiener Volksbuchhandlung, Wien: (1949)
Jean Jaurès: "Discours et conférences." Flammarion, Paris: 2014:
"Oui, nous avons, nous aussi, le culte du passé. Ce n'est pas en vain que tous les foyers des générations humaines ont flambé, ont rayonné ; mais c'est nous, parce que nous marchons, parce que nous luttons pour un idéal nouveau, c'est nous qui sommes les vrais héritiers du foyer des aïeux ; nous en avons pris la flamme, vous n'en avez gardé que la cendre."
Jean Jaurès, 21. Januar 1910, Paris, Chambre des députés (Link) 
J. Hampden Jackson: "Jean Jaurès. Sein Leben und Werk." Übersetzt von Bruno Schönlank. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg: 1949"Jean Jaurès. Seiner Ermordung vor dem Schwurgericht in Paris." Mit einer Einleitung von Dr. Arthur Dieseldorff und einem Geleitwort von Hellm. von Gerlach. Verlag "Friede durch Recht", Ludwigsburg: 1922
Heinz Abosch: "Jean Jaurès. Die vergebliche Hoffnung." Piper, München / Zürich: 1986
Helmut Maucher, Fredmund Malik und Farsam Farschtschian. "Maucher and Malik on Management: Maxims of Corporate Management - Best of Helmut Maucher´s Speeches, Essays and Interviews." Übersetzt von  Myrna Lesniak. Campus Verlag, Frankfurt / New York: 2013 (Link) 
Urs Brand: "Jean Jaurès. Internationalist und Patriot." Musterschmidt, Göttingen / Zürich / Frankfurt: 1973


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Ich danke Lisi Moosmann, Renate Stark-Voit und Lucile Dreidemy für ihre Anworten und Hinweise.

Freitag, 9. Juni 2017

"Der Mensch ist so glücklich, wie er es beschließt zu sein." Abraham Lincoln (angeblich)

Pseudo-Abraham-Lincoln quote, 2017.
Dieses Zitat wurde - wie der Quote Investigator herausgefunden hat - Abraham Lincoln erst 50 Jahre nach seinem Tod (von einem amerikanischen Prediger und Autor) unterschoben. Es ist in keiner seiner Varianten in einer Schrift Lincolns oder in einem zeitgenössischen Text des 19. Jahrhunderts zu finden.

  • "Most folks are about as happy as they make up their minds to be."
  • “I have noticed that most people in this world are about as happy as they have made up their minds to be.”

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Anmerkung
Das ist nicht das einzige Falschzitat in diesem Abschiedsbrief der Schuldirektorin an Maturantinnen und Maturanten aus dem Jahr 2017.
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Quelle
Quote Investigator: "Folks Are Usually About as Happy as They Make Up Their Minds To Be  Abraham Lincoln? Frank Crane? Orison Swett Marden? Dale Carnegie? Anonymous?" 2012
(Link)

"Der Ziellose erleidet sein Schicksal - der Zielbewusste gestaltet es." Immanuel Kant (angeblich)

Pseudo-Immanuel-Kant-Zitat.
Dieser Aphorismus einer unbekannten Person wird Immanuel Kant seit ungefähr 70 Jahren unterschoben und ist in seinen Schriften weder so noch so ähnlich zufinden.

Das Wort "zielbewusst" kommt in keiner seiner Flexionen in Kants Wortschatz vor.

Da Kants Werke mehrfach digitalisiert sind, ist es so gut wie ausgeschlossen, dass der Satz jemals auf einer versteckten Stelle in Kants Schriften gefunden werden wird.


Varianten des Kuckuckszitats:

  • "Der ziellose Mensch erleidet sein Schicksal, der zielbewusste gestaltet es."
  • "Der ziellose Mensch erleidet ein Schicksal, der zielbewusste gestaltet es."
  • "Der Ziellose erleidet sein Schicksal - der Zielbewusste gestaltet es." 



Pseudo-Immanuel-Kant-Zitat.
Dieses angebliche Kant-Zitat wurde meiner Tochter bei der Matura-Feier im Juni 2017 zum Abschied von der Schule überreicht. Ihre Schuldirektorin ist wahrscheinlich auf eine unseriöse Online-Zitat-Sammlung oder auf ein Meme hereingefallen, aber sie könnte das Zitat auch einmal in "DIE ZEIT" gelesen haben.
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Quellen:
Elektronische Edition von Immanuel Kants Gesammelten Werken: Universität Duisburg
Google Statistik: "Ungefähr 8 780 Ergebnisse"
Google Books: Erstmals unterschoben: 1953  (Link)

Beispiele für falsche Zuschreibungen:
"Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt", Bände 39-40, C. Heymann: 1953, S. 45 (Link)
Martin Wehrle: "Das Zitat... und Ihr Gewinn. Immanuel Kant sagt: Der ziellose Mensch erleidet sein Schicksal, der zielbewusste gestaltet." Die Zeit, 48/2012, 28. November 2012 (Link)
Robert Lutsch: "Zitate, die das Leben beschreiben", Books on Demand, Norderstedt: 2013, S. 42 (Link)

Letzte Änderung: 9/9 2018; 8/2 2020

Montag, 5. Juni 2017

"Schönheit ist der Glanz der Wahrheit." Ludwig Mies van der Rohe (angeblich)

Für Platon ist wahre Schönheit mit der Idee des Wahren, und Wahrheit mit der Idee des Guten verbunden: im wirklich Schönen glänze das Wahre.

Von der Scholastik wurde Platons Gedanke wieder aufgenommen und die Wendung: "Pulchrum est splendor veri" geprägt. Diese Wendung, "Das Schöne ist der Glanz des Wahren", wird ohne Quellenangabe auch oft Augustinus und Thomas von Aquin zugeschrieben, stammt aber vielleicht von einem unbekannten Autor aus der hochscholastischen Tradition.

Dieser Satz wird seit Jahrhunderten oft zitiert, auch zum Beispiel von James Joyce und Mies van der Rohe. Es ist aber nicht richtig, einen uralten Satz als Zitat eines Autors aus dem 20. Jahrhundert auszugeben.

  • "Mies van der Rohe bekannte sich zu dem satz des thomas von aquin: »Schönheit ist der glanz der wahrheit« ...."
    Hugo Häring, 1965  (Link)

Varianten:
  • "Pulchrum est splendor veri."
  • "Pulchritudo splendor veritatis." 
  • "Pulchrum quasi splendor veritatis."
  • "The beautiful is, as it were, the splendour of truth."
  • "Das Schöne ist der Glanz des Wahren." 
  • "Schönheit ist der Glanz der Wahrheit." 

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Quellenangaben folgen


"Die Wahrheit enthält immer auch Lüge." Johann Wolfgang von Goethe (angeblich)

Pseudo-Goethe quote.

Diese Weisheit ist nach Wikiquote und anderen Webseiten in einem Brief Johann Wolfgang von Goethes an Charlotte von Stein zu finden. Das Datum des Briefes wird nirgends erwähnt. Nun: Ich habe die Korrespondenz Goethes mit Frau von Stein in mehreren Online-Ausgaben durchsucht und in Richard Dobels Lexikon der Goethe-Zitate nachgeschlagen. Bei Literaturwissenschaftlern kommt das Zitat ebensowenig vor wie im Briefwechsel mit Charlotte Stein. Vor dem 21. Jahrhundert ist dieser Satz nirgends zu finden.

Dieses Zitat wurde also Goethe irgendwann im 21. Jahrhundert von einer unbekannten Person unterschoben und gilt seither zu Unrecht als "Goethe"-Zitat.

Wer glaubt, Wahrheit enthalte immer eine Lüge, was, nebenbei gesagt, nicht stimmt, kann sich also nicht auf Goethe berufen. Außerdem rate ich, Autorinnen und Autoren nur nach seriösen Lexika und sorgfältig hergestellten Editionen zu zitieren und nicht nach Zitat-Sammlungen wie Gutezitate.com.
Pseudo-Goethe quote.

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Quellen:
 Lexikon der Goethe-Zitate. Hrsg. von Richard Dobel, Artemis Verlag, Weltbild Verlag, Augsburg: 1991
Falsche Zuschreibungen zum Beispiel in:
Gutezitate.com (Das ist eine große Zitate-Sammlung mit hunderten falsch zugeschriebenen Zitaten und Memes.)
Wikiquote
 "Der Standard", 3./4./5. Juni 2017, S. 31

"Man kann die Wahrheit nicht lange unterdrücken." - Nelson Mandela (angeblich)

Ich habe das Zitat auf Englisch nicht gefunden und auf Deutsch nur in der Tiroler Tageszeitung, die als Quelle einen Artikel im Mai 1961 angibt, der wahrscheinlich eine Erfindung einer Zitate-Website ist.  Sonst kommt das Zitat auf Deutsch in keinem digitalisierten Medium vor. Ich habe den starken Verdacht, dass diese Zitat Mandela nur unterschoben wurde, müsste aber noch länger suchen, um mir sicher zu sein.
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Quelle:
"Der Standard", 3./4./5. Juni 2017, S. 31

"Die Wahrheit ist für die Menschen nur deshalb wichtig, weil sie für sie nützlich und unerlässlich ist." - Thomas Hobbes

Pseudo-Hobbes quote.

Mit diesem nichtssagenden Spruch wäre der Philosoph Thomas Hobbes nicht berühmt geworden; der fade Aphorismus ist erst ein paar Jahre alt; es gibt ihn kaum zehn Mal im Internet und das nur auf Deutsch.
Ich wette, dass er weder so noch so ähnlich in einer seriösen Quelle von Thomas Hobbes zu finden ist.
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Quellen:
Google-Statistik
Gutezitate.com (Das ist eine große Zitate-Sammlung mit hunderten falsch zugeschriebenen Zitaten und Memes.)
"Der Standard", 3./4./5. Juni 2017, S. 30

"Der Erfinder der Notlüge liebte den Frieden mehr als die Wahrheit.“ James Joyce (angeblich)

Pseudo-Joyce quote.

Dieses Pseudo-Joyce-Zitat wurde im 21. Jahrhundert auf Deutsch erfunden und ist erst seit ein paar Jahren auch auf Englisch nachzuweisen. Es wird immer ohne Quellenangabe zitiert und niemals von Literaturwissenschaftlern.
  • "The inventor of white lies loved peace more than truth."
 Ich wette, dass niemand dieses Zitat in einer Schrift von James Joyce finden kann. 

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Quelle:
"Der Standard", 3./4./5. Juni 2017, S. 30

„Wer sich von der Wahrheit nicht besiegen lässt, wird vom Irrtum besiegt.“ Augustinus

  • "Vinci nolens a veritate, vincitur ab errore."
    Augustinus 
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Quelle:
Augustinus: Sermones, 40, 358 SERMO CCCLVIII. De pace et charitate. Carthagine habitus, ante collationem cum Donatistis, II.  (Link)

"Der Standard", 3./4./5. Juni 2017, S. 30f.
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Christian Seidl hat die Quelle für dieses Zitat gefunden, das ich als Falschzitat verdächtigt hatte. Danke.

"Lügen können Kriege in Bewegung setzen, Wahrheiten hingegen können ganze Armeen aufhalten." Otto von Bismarck (angeblich)

Pseudo-Bismarck quote.

Dieses Zitat ist noch keine zehn Jahre alt und wird seit ungefähr sieben Jahren Otto von Bismarck unterschoben. Obwohl der Spruch noch so jung ist, ist er schon weit verbreitet. Er kam schon als Motto in einem Artikel in der Bild-Zeitung vor und ist in vielen Online-Zitat-Sammlungen zu finden.

Da der Spruch niemals mit einer seriösen Quellenangabe zitiert wird und in keinem digitalisierten Medium des 19. und 20. Jahrhunderts zu finden ist, muss man davon ausgehen, dass er zu der Unmenge der im 21. Jahrhundert erfundenen Falschzitate gehört.  Jene Person, die als Erste dieses Zitat Bismarck unterschoben hat, ist unbekannt.
  • "Lies can start wars, truth can stop armies."
  • "Lies can start wars, but the (simple) truth will stop entire armies." 
  • "Lügen können Kriege in Bewegung setzen, Wahrheiten hingegen können ganze Armeen aufhalten." 
  • "Lügen können Kriege in Bewegung setzen, Wahrheit hingegen kann ganze Armeen aufhalten."  
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Quellen:
Google-Statistik: "ungefähr 2 750 Ergebnisse"
Google
Gutezitate.com
Heiko Roloff: "Dichtung und Wahrheit - So lief die Jagd nach Osama bin Laden. BILD listet die Ungereimtheiten zwischen CIA-Folterbericht und Aussagen der Bush-Regierung auf." Bild-Zeitung, 13. Dezember 2014, Bild.de
"Trumps Lügen und andere. Machiavelli wäre stolz. Donald Trump betreibt eine Politik der Lügen. Die Geschichte zeigt: So haben es schon viele gemacht. Nur – Gutes kam dabei selten raus." 23. Januar 2017,   TAZ.de
"Der Standard", 3./4./5. Juni 2017, S. 30: "Nichts als die Wahrheit"
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Im Übrigen rate ich, Autorinnen und Autoren nur nach seriösen Lexika und sorgfältig hergestellten Editionen zu zitieren und nicht nach unseriösen Zitat-Sammlungen.

"Nur die Lüge braucht die Stütze der Staatsgewalt. Die Wahrheit steht von alleine aufrecht." Thomas Jefferson (angeblich)

Das ist ein ein entstelltes Thomas-Jefferson-Zitat: er schreibt von "Irrtum", nicht von "Lüge".
Das Zitat ist in seiner entstellten Variante viel weiter verbreitet als in angemessenen Übersetzungen.

Thomas Jefferson

  • "Truth will do well enough if left to shift for herself. She seldom has received much aid from the power of great men to whom she is rarely known & seldom welcome. She has no need of force to procure entrance into the minds of men. Error indeed has often prevailed by the assistance of power or force. Truth is the proper and sufficient antagonist to error."
    Thomas Jefferson: Notes on Religion (October 1776), published in The Writings of Thomas Jefferson : 1816–1826 (1899) (Link)

Varianten:

  • "Nur Irrtum braucht die Stütze der Staatsgewalt, die Wahrheit steht von alleine aufrecht."
  • "Nur der Irrthum bedarf der Hilfe der Regierung, die Wahrheit steht am festesten aus eigener Kraft."
  • "Fehler allein bedürfen der Unterstützung der Regierung. Die Wahrheit steht für sich selbst."
  • "Nur die Lüge braucht die Stütze der Staatsgewalt. Die Wahrheit steht von alleine aufrecht."

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Quellen:
Wikiquote
Google Books
Thomas Jefferson: Notes on Religion (October 1776), published in The Writings of Thomas Jefferson: 1816–1826 (1899) edited by Paul Leicester Ford, v. 2, p. 102 (Zitiert nach Wikiquote) (Link)
 

"Alles, was du sagst, sollte wahr sein. Aber nicht alles, was wahr ist, solltest du sagen." Voltaire (angeblich)


Pseudo-Voltaire quote.
Dieses Zitat wird seit ungefähr 2006 auf Deutsch Voltaire unterschoben.  Bislang hat es meines Wissens noch niemand in Voltaires Schriften entdecken können. (Artikel in Arbeit)


1733:  
  • "Mais la vérité ne suffit pas ; la justice est nécessaire ; toute vérité n'est pas bonne à dire, ni par conséquent à jurer." Google
 1788
  • "man muß nicht alles sagen, was wahr ist - toute vérité n'est pas bonne à dire"
    (Link)

JJ Rousseau (Link) 


1995:
  • "The following German proverb might be a helpful guide in many situations: Everything you say should be true, but not everything that is true needs to be told."
    (Link)

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Quellen:
"Der Standard", 3./4./5. Juni 2017, S. 30
2006: albertmartin.de/ Forum 

2006:  (Link)
(Artikel in Arbeit)

"Durch die Gasse der Vorurteile muss die Wahrheit ständig Spießrute laufen." Indira Gandhi (angeblich)

Ich habe bis jetzt das Original dieses Zitats nicht gefunden. Es könnte ein falsch zugeschriebenes Zitat sein, aber ich bin mir keineswegs sicher.
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Quellen:
Indira Gandhi: "Selected Thoughts of Indira Gandhi: A Book of Quotes." 1985 Indira Gandhi quotes
"Der Standard", 3./4./5. Juni 2017, S. 30

Samstag, 3. Juni 2017

"Religion ist Opium fürs Volk." Karl Marx (angeblich)

Auf Twitter und auch sonst liest man oft, Karl Marx habe gechrieben, Religion sei Opium FÜRS Volk, aber er schrieb, sie sei Opium DES Volkes; die Wendung "fürs Volk" impliziert eine Priesterbetrugstheorie.
  • Kant, 1793:
    (Gegen einen geistlichen Tröster am Totenbett:)
    "An dessen statt aber gleichsam Opium fürs Gewissen zu geben, ist Verschuldigung an ihm selbst und andern, ihn Überlebenden; ganz wider die Endabsicht, wozu ein solcher Gewissensbeistand am Ende des Lebens für nöthig gehalten werden kann."
  • Novalis, 1798:
    (Über Philister:)
    "Ihre sogenannte Religion wirkt bloß wie ein Opiat reizend, betäubend, Schmerzen aus Schwäche stillend."
  • Heine, 1840:
    „Heil einer Religion, die dem leidenden Menschengeschlecht in den bittern Kelch einige süße, einschläfernde Tropfen goss, geistiges Opium, einige Tropfen Liebe, Hoffnung und Glauben!“
  • Karl Marx, 1844:
    "Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.
    Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammerthales, dessen Heiligenschein die Religion ist."

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Quellen:
Karl Marx: "Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung." 1844  (Link)
(Artikel in Arbeit)

"Productivity is being able to do things that you were never able to do before." Franz Kafka (angeblich)

Pseudo-Franz-Kafka quote.

Dieser Satz wird seit ungefähr 10 Jahren ohne ersichtlichem Grund auf Englisch Franz Kafka unterschoben. Auf Deutsch ist dieses Pseudo-Kafka-Zitat unbekannt und in seinen Schriften unauffindbar.

 Laut dem 1989 erschienenen "The Manager's book of quotations" prägte das Zitat Jim Manzi, der damalige CEO der Softwarefirma Lotus.

Heute ist der Spruch auf Englisch hauptsächlich in Ratgeber-Literatur sowie auf Facebook und Twitter sehr weit verbreitet.
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Quellen:
Google-Statistik für den Spruch: "Ungefähr 1770 Ergebnisse"
Lewis D. Eigen, Jonathan P. Siegel: "The Manager's book of quotations", amacom,  New York: 1989, S. 364 (Zitiert nach Basso Continuo)
Wikiquote: Kafka: unsourced
Jim Manzi, in: APO News, Bände 30-31, 2000
Frühe Zuschreibung an Franz Kafka:
Bernice Bratter, Helen Dennis: "Project Renewment: The First Retirement Model for Career Women", Scribner, New York: 2008, S. 29 (Link)
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Ich danke Paulus Esterhazy für den Hinweis auf dieses Kuckuckuszitat und Basso Continuo für seine Recherchen zu Jim Manzi.

Donnerstag, 1. Juni 2017

"Der Mensch denkt, Gott lenkt." Bertolt Brecht (angeblich)

Pseudo-Bertolt-Brecht quote.

Dieses Pseudo-Bertolt-Brecht-Zitat ist doppelt daneben: Erstens ist es ein altes Sprichwort, das von einem Bibelspruch kommt und mit Brecht nichts zu tun hat und zweitens zitiert Bertolt Brecht diesen Spruch tatsächlich drei Mal in dem "Lied von der Großen Kapitulation" der Mutter Courage. Allerdings verwandelt er die Aussage dieses Bibelspruchs durch einen Doppelpunkt in ihr Gegenteil: Der Mensch denke, Gott lenke, aber es ist nicht so. Bertolt Brecht: "Der Mensch denkt: Gott lenkt – Keine Red davon!" Dieses Zitat ist ein schönes Beispiel dafür, wie ein einziges Satzzeichen einen Satz vollständig verändern kann.

Entwicklung des Sprichworts:
  • "Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg; aber der HERR allein lenkt seinen Schritt."
    Sprüche 16, 9
  • "Homo proposit, sed Deus disponit."
    Mittellateinisches Sprichwort
  • "Man proposes, God disposes."
    Englisches Sprichwort
  • "L'uomo propone ma Dio dispone."
    Italienisches Sprichwort
  • "Der Mensch denkt, Gott lenkt."
    Etwa um 1750 entstandenes deutsches Sprichwort.
  • "Der Mensch denkt: Gott lenkt – Keine Red davon!"
    Refrain vom "Lied von der Großen Kapitulation", Bertolt Brecht, 1941
  
Weitere Varianten dieses Sprichworts:
  • "Der Mann zielt, und Gott lenkt die Kugel;"
    J.C. Passeck, 1838 (Link)
  • "'Der Mensch denkt, Gott lenkt.' Die Philosophen sind sehr gute Denker, aber schlechte Lenker."
    Moritz G. Saphir, 1849 (Link)
  • "Der Mensch denkt, aber der Nebenmensch lenkt. Er denkt nicht einmal so viel, daß er sich denken könnte, daß ein anderer denken könnte."
    Karl Kraus, 1909
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Quellen:
Zitate.eu: "Der Mensch denkt, Gott lenkt. Bertolt Brecht"
Lutherbibel 2017, Sprüche 16, 9 (Link)
Bertolt Brecht: "Mutter Courage und ihre Kinder. Eine Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg." 4. Bild, in: "Die Stücke von Bertolt Brecht in einem Band." Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main: 1978; bei der "Mutter Courage"-Ausgabe von 2013 fehlt der Gedankenstrich nach "lenkt": (Link)
Wolfgang Mieder: "'Wer andern eine Grube gräbt ...' Sprichwörtliches aus der Bibel in moderner Literatur, Medien und Karikaturen." Praesens Verlag, Wien: 2014, S. 286ff.
Wolfgang Mieder: "'Der Mensch denkt: Gott lenkt – Keine Red davon!' Sprichwörtliche Verfremdungen im Werk Bertolt Brechts." Peter Lang, Bern: 1998, S. 47ff.
Karl Kraus: "Sprüche und Widersprüche", 1909
Jan Knopf: "Brechthandbuch. Band 1, Stücke." J.B. Metzler, Stuttgart: 2001

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Ich danke Bill Roth für den Hinweis auf dieses Zitat.
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  • Maryl Streep in einer großartigen englischen Version vom "Lied von der Großen Kapitulation".

Helene Weigel, Berliner Ensemble: "Lied von der Großen Kapitulation", ab 1:09:20


Mittwoch, 31. Mai 2017

"No sports." Winston Churchill (angeblich)

Pseudo-Winston-Churchill-Zitat.

Dieses im deutschen Sprachraum beliebteste Churchill-Zitat ist in England und Amerika unbekannt. Diese Maxime unsportlicher Menschen wurde wahrscheinlich in "DIE ZEIT" 1976 geprägt, 1982 begann "Der Spiegel" dieses Zitat dem Sieger des 2. Weltkriegs zu unterschieben, 1993 folgte die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", und beide haben es in den folgenden Jahrzehnten an die vierzig Mal wiederholt.

2005 deckt Christoph Drösser in "DIE ZEIT" auf, dass Winston Churchill diese Worte nie gesagt hat, aber er verrät nicht, dass dieses Pseudo-Churchill-Zitat wahrscheinlich von einem seiner Kollegen in "DIE ZEIT" 1976 erfunden wurde. -

Winston Churchill ritt und jagte übrigens bis ins hohe Alter mit großem Vergnügen und gewann als junger Mann Polo-Turniere.

1976
  • "Als Churchill kurz vor seinem Tode – er wurde 90 Jahre alt – von einem Reporter gefragt wurde, wie er es fertig gebracht habe, trotz seines starken Rauchens so alt geworden zu sein, antwortete er: 'No Sport! No sport!'" Die Zeit, 4/1976 (Link)
1982
  • "Jene Gruppe unter den Bürgern, die wie dereinst der zählebige Britenpremier Sir Winston Churchill (Lebensdauer: 1874 bis 1965. Überlebens-Rezept: "absolutely no sports") Sport verachten und meiden ..." Der Spiegel, 30/1982 (Link)
1986
  • 'No sports', gurgelte Sir Winston Churchill den Reportern entgegen, als sie ihn am 90. Geburtstag nach seinem Rezept für ein langes Leben fragten." Der Spiegel, 14/1986 (Link)
1989
  • "'No sports, pflegte Churchill zu antworten, wenn er nach der Lebensweise, die ihn alt werden und hinreichend gesund bleiben ließ, gefragt wurde." Die Zeit, März 1989 (Link)
  1995
  • "Als Winston Churchill achtzigjährig seine außergewöhnlich gute Gesundheit mit den Worten: "Absolutely no sports!" begründete, da jubelten ihm ..." FAZ, August 1995 (Link)
  • "Tatsache ist, daß ein Winston Churchill, dessen Lebensmaxime 'No sports, just whisky and cigars' lautete, fast 90 Jahre alt wurde ..." profil, 1995 (Link)
2010 
  • "Churchill starb 1965 hochbetagt im Alter von 90 Jahren. Sein Geheimrezept für ein langes Leben, soll er einmal einem Reporter verraten haben, war ziemlich simpel - und bestand aus nur zwei Wörtern: 'No Sports!' Es wurde, obwohl nicht unumstritten ist, ob Churchill es wirklich so gesagt hat, sein berühmtestes Bonmot."
    Der Spiegel, Einestages, 16/8 2010 (Link)
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Quellen:
Gerhard Prause: "Sport war ihnen ein Greuel. Von Kant bis Churchill, von Goethe bis Einstein: Kein Spaß an Reck und Ball." Tratschkes Streifzüge durch die Geschichte. "Die Zeit", 4/1976, 16. Januar 1976 (Link)
(Das ist ein auch sonst schlecht recherchierter Artikel, der zum Beispiel auch unterschlägt, dass Immanuel Kant gerne und gut Billard spielte.)
Christoph Drösser: "Stimmt’s? Sportlicher Premier." "Die Zeit", 25/2005, 16. Juni 2005 (Link)
Wikipedia
Der Spiegel, Einestages, 16/8 2010 (Link)
profil, 1995 (Link)
FAZ, August 1995 (Link) 
Die Zeit, März 1989 (Link) 
Der Spiegel, 14/1986 (Link)
Der Spiegel, 30/1982 (Link)

Dienstag, 30. Mai 2017

"Gesetze sind Jungfrauen im Parlament, aber Huren vor Gericht." Kurt Tucholsky (angeblich)

Dieser Spruch ist vor dem 21. Jahrhundert unbekannt und wird seit etwa 10 Jahren Kurt Tucholsky unterschoben. Wer den Spruch geprägt hat, weiß man nicht.
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Quellen:
Wolfgang Prinz: "Politzirkus: Bissige Aussprüche und Zitate von Politikern und über sie."  Books on demand: 2009 (Link)
Friedhelm Greis: Sudelblog, Angebliche Tucholsky-Zitate

"Zurück zur Natur!" Jean-Jacques Rousseau (angeblich)

Pseudo-Rousseau quote.



Dieses populäre Rousseau-Zitat ist in seinen Werken so wenig zu finden wie der Terminus vom "Edlen Wilden" (bon sauvage, noble savage), der Jean-Jacques Rousseau fast ebenso oft fälschlich zugeschrieben wird. Rousseaus Gedanken werden durch diese unterschobenen Zitate verfälscht. Immanuel Kant verehrte Rousseau, dessen Porträt als einziges Bild in seinem Arbeitszimmer hing, aus ganz anderen Gründen:
Immanuel Kant:
  • "Ich bin selbst aus Neigung ein Forscher. Ich fühle den gantzen Durst nach Erkentnis u. die begierige Unruhe darin weiter zu kommen oder auch die Zufriedenheit bey jedem Erwerb. Es war eine Zeit da ich glaubte dieses allein könnte die Ehre der Menschheit machen u. ich  verachtete den Pöbel der von nichts weis. Rousseau hat mich zurecht gebracht. Dieser verblendende Vorzug verschwindet, ich lerne die Menschen ehren u. ich würde mich unnützer finden wie den gemeinen Arbeiter wenn ich nicht glaubete daß die Betrachtung allen übrigen einen Werth ertheilen könne, die rechte der Menschheit herzustellen".                               
Varianten:
  • „Retour à la nature!“
  • "Zurück zur Natur!"
Brief von Voltaire an Jean-Jacques Rousseau, 30. August 1755:
  • "Man hat noch nie so viel Geist aufgewendet, um uns zurück zu den Tieren zu schicken, man bekommt Lust, auf vier Pfoten zu laufen, wenn man Ihr Werk liest." 
    "On n’a jamais employé tant d’esprit à vouloir nous rendre bêtes; il prend envie de marcher à quatre pattes, quand on lit votre ouvrage."  (Link)

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Quellen:
Lutz Röhrich: "Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten." Herder, Freiburg / Basel / Wien: 1994, Bd 3 S. 1085f.
Antwort auf die Preisfrage (von "Der Sprachdienst", 1989, Heft 5) nach frühen deutschen Belegen von: "Zurück zur Natur!" von Ralf Bülow in: "Der Sprachdienst", Jg. XXXIV, 1990, Heft 2 (Link)
Gutezitate.com
Gerd Irrlitz: "Kant-Handbuch. Leben und Werk." Verlag J.B. Metzler, Stuttgart / Weimar: 2002 (Link) 
Brief von Voltaire, Les Délices bei Genf, an Jean-Jacques Rousseau, 30. August 1755 (Link)
Auszug aus Will Durant: "Kulturgeschichte der Menschheit", Bd. 15, I,  (Link)

 
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Ich danke Ralf Bülow für den Hinweis auf dieses Falschzitat.

Sonntag, 28. Mai 2017

"Ich kann nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte." Max Liebermann

Der Maler Max Liebermann hat angeblich mit diesen Worten am 30. Januar 1933 seinen Ekel vor dem Sieges-Fackelzug von Nationalsozialisten in Berlin ausgedrückt (Link)
Die Anekdote wird in verschiedenen Versionen  seit dem Jahr 1934 weitererzählt. 
 Max Liebermann war nicht nur als Maler berühmt, sondern auch wegen seiner "Berliner Schnauze", seinen "lapidaren Aussprüchen", die "oft und oft durch die Welt" gegangen seien, wie in einem Nachruf der Wiener Tageszeitung "Die Stunde" am 13. Februar 1935 zu lesen war (Link).
 Bei einer frühen Erwähnung der Anekdote im Jahr 1934 wurde der Name des berühmten Malers noch verschwiegen, wohl um ihn vor Verfolgung durch Nazi-Behörden zu schützen:
1934
  • "Man erzählt in Berlin:
  • Professor...., der berühmte Maler, wird von einem seiner Schüler gefragt, wie er sich mit den Zuständen im Dritten Reiche abgefunden habe.

  • 'Ach Jott', erwidert der Meister, 'man kann nich halb so viel essen, wie man kotzen möchte.'"

  • Das Neue Tage-Buch, 2. Jahrgang, Nr. 40, Paris-Amsterdam, 6. Oktober 1934, S. 959 (Link)
1935
  • "Gefragt wie ihm Deutschland unter Hitler gefalle, sagte der greise Meister: 'Soviel kann man gar nicht fressen, als man kotzen möchte!'"
  • Hendric: "Totenklänge um einen Künstler", "Die Stunde", 13. Februar 1935, S. 3 (Link).
 Eine Version des Ausspruchs stammt von der Malerin Käthe Kollwitz.
 1947
  • "Mit Max Liebermann verband Käthe Kollwitz eine enge Freundschaft. Auch nach der Machtergreifung der Nazis ging sie oft zum Tee zu ihm. ... Einmal sagte er höhnisch und drastisch über die Zustände im Nazireich: "Ick kann janich so viel fressen, wie ick kotzen möchte!"
  • Katharina Laessig: "Mit den Augen der Freundin. Zum 80. Geburtstag von Käthe Kollwitz." (Link)

1954
  • "Harrass: (rülpst genüßlich) Verzeihung. Der geradezu nicht-arische Kunstmaler Max Liebermann, 'n juter oller Berliner, der gar betreffenden Witzes in großem Maße teilhaftig, hat einmal den schlichten Satz jeprägt: Kann jar nich soviel essen, wie ich kotzen möchte."
  • "Des Teufels General", Film, 1955 (Link)

Jahrzehnte später wird der Spruch Max Liebermanns manchmal fälschlich Kurt Tucholsky oder Bertolt Brecht zugeschrieben, und kommt ohne Hinweis auf Liebermann wie eine sprichwörtliche Redensart zum Beispiel auch in Max Frischs Drama  "Biedermann und die Brandstifter - Ein Lehrstück ohne Lehre" vor.
Varianten:
  • "Ick kann janich so viel fressen, wie ick kotzen möchte!"
  • "Kann jar nich soviel essen, wie ich kotzen möchte." 
  • "So ville kann ick gar nich essen, wie ick kotzen möchte."
  • "Ich kann nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte." 
  • "Man kann gar nicht so viel fressen, wie man kotzen möchte."
  • "Man kann gar nicht so viel essen, wie man kotzen möchte."
  • "Ach Jott, man kann nich halb so viel essen, wie man kotzen möchte." 
  • "Soviel kann man gar nicht fressen, als man kotzen möchte!" 
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Quellen:
Das Neue Tage-Buch, 2. Jahrgang, Nr. 40, Paris-Amsterdam, 6. Oktober 1934, S. 959 (Link) 
Hendric: "Totenklänge um einen Künstler", "Die Stunde", 13. Februar 1935, S. 3 (Link).
Katharina Laessig: "Mit den Augen der Freundin. Zum 80. Geburtstag von Käthe Kollwitz." in: "Aufbau,  Band 3, Aufbau Verlag, Berlin: 1947, S. 63 (Link) 
"Des Teufels General". Film 1955, Drehbuch: George Hurdalek, Helmut Käutner und Gyula Trebitsch; Regie: Helmut Käutner (nach dem Drama Carl Zuckmayers) Transkription einer Szene von Wolfgang Näser: (Link)
Carl Zuckmayer: "Des Teufels General." Drama in drei Akten, verfasst: 1945; Uraufführung 14. Dezember 1946,  in: Carl Zuckmayer: Gesammelte Werke, Die Deutschen Dramen, Bermann-Fischer Verlag, Stockholm: 1947 (In dieser Ausabe scheint die Liebermann-Anekdote nicht enthalten zu sein.)
"Max Liebermann: Poesie des einfachen Lebens",  Ausstellungskatalog, hrsg. von  Nicole Bröhan und  C. Sylvia Weber,  Swiridoff:  2003,  S. 192  (Link)
Johannes John: "Reclams Zitaten-Lexikon." Philipp Reclam jun., Stuttgart: 1992 (Link)
Bernd Küster: "Max Liebermann – ein Malerleben."  Ellert und Richter, Hamburg: 1988, S. 216 (zitiert nach Wikiquote)
Friedhelm Greis: Sudelblog, Angebliche Tucholsky-Zitate
Kurt Tucholsky-Gesellschaft, Angebliche Tucholsky-Zitate (Link)
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Dank:
Ich danke den Leuten von Wikiquote, Friedhelm Greis und Herbert Gnauer und besonders auch Garson O' Toole für ihre Recherchen. Dank auch an Klaus Allwicher für eine Korrektur.
 
Letzte Änderungen: 5/7 2021 (Belege 1930er Jahre) ; 7/7 2021; 12/9 2023.