Freitag, 3. Dezember 2021

"Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihren Schlächter selber." Kurt Tucholsky oder Bertolt Brecht (angeblich)


Pseudo-Bertolt-Brecht-Zitat.

In den letzten Jahrzehnten wurde dieser anonyme Spruch aus dem 19. Jahrhundert irrtümlich Bertolt Brecht, Kurt TucholskyWilhelm Busch oder Heinrich Heine zugeschrieben.

 Dieses Sprichwort taucht erstmals 1874 auf einem Schweizer Stimmzettel zur Wahl der Züricher Steuerkommission auf, was damals von vielen deutschen und österreichischen Zeitungen  amüsiert berichtet wurde. 

1874

  • "(Wahlhumor) Auf einem Stimmzettel zur Wahl in die Züricher Steuerkommission war zu lesen:
         'Nur die allergößten Kälber
         Wählen ihre Metzger selber.' "
    (Link)


Neues Fremden-Blatt, Abendausgabe, Wien, 27. Mai 1874, S. 2.

Der Witz des unbekannten Autors wurde in den Jahren darauf weit verbreitet und von Sozialdemokraten schon vor dem 1. Weltkrieg bei Wahlen oft als Slogan verwendet.

 Am häufigsten wird dieses Zitat heutzutage fälschlich Bertolt Brecht zugeschrieben:

 

Pseudo-Bertolt-Brecht-Zitat.


Varianten:

  • "Nur die allerdümmsten Kälber // wählen ihren Schlächter selber."
  • "Nur die allergrößten Kälber wählen ihre Metzger selber."
  • "Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Schlächter selber."
  • "Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber." 

Bertolt Brecht spielt in dem "Kälbermarsch", seiner Parodie des Horst-Wessel-Liedes, in dem 1943 entstandenen Drama "Schwejk im Zweiten Weltkrieg" auf das Sprichwort an, aber er hat es selber weder geprägt noch in einer der ihm irrtümlich zugeschriebenen Versionen verwendet.

 

Bertolt Brecht

  • "Hinter der Trommel her
    Trotten die Kälber
    Das Fell für die Trommel
    Liefern sie selber.
    Der Schlächter ruft:
    Die Augen fest geschlossen
    Das Kalb marschiert.
    In ruhig festem Tritt.
    Die Kälber, deren Blut im Schlachthaus schon geflossen
    Marschiern im Geist in seinen Reihen mit."
    _____



[Ist Ihnen ZITATFORSCHUNG etwas wert?]


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Quellen:

Bertolt Brecht: Stücke. Band 10 – Stücke aus dem Exil: Schweyk im Zweiten Weltkrieg; Der kaukasische Kreidekreis; Die Tage der Commune. Suhrkamp, Frankfurt am Main: (1957) 1959, S. 103
 
Neues Fremden-Blatt, Abendausgabe, Wien, 27. Mai 1874, S. 2 (Link)
19 Zitate in der Wiener Arbeiter Zeitung von 1895-1933 (anno)
 Arbeiter Zeitung, Wien, 17. März 1895, S. 8 (anno.)
 Arbeiter Zeitung, Wien, 16. April 1907, S. 2. 

Beispiele für falsche Zuschreibungen:


An Bertolt Brecht:


An  Wilhem Busch:
Michael Wolffsohn: Und wir stecken den Kopf in den Sand, Die Welt, 26. März 2019 (Link)

An Kurt Tucholsky:
Twitter

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Dank:
Ich danke Christian Seidl und Wolfgang Gruber für ihre Hinweise auf den Schweizer Stimmzettel.

Letzte Änderungen: 17/6 2020; 3/12 2021.