Montag, 4. März 2019

"Ich bin kein Huhn, aber ich weiss, wann ein Ei faul ist." Karl Kraus (angeblich)

Dieser Lieblingsspruch vieler Kritiker wird Karl Kraus irrtümlich unterschoben und ist in seinen Texten weder so noch so ähnlich zu finden, auch wenn zum Beispiel der streitbare Journalist Henryk M. Broder das Gegenteil behauptet.

Henryk M. Broder, 2018:
  • "Es gibt ein wunderbares Wort von Karl Kraus, den ich als meinen Gott verehre, wahrscheinlich den einzigen, den ich anbete, er hat mal gesagt: 'Ich bin kein Huhn, aber ich weiss, wann ein Ei faul ist.'"
    Henryk M. Broder, 8. Oktober 2018, Sitzung des Petitionsausschusses zur "Erklärung 2018". - twitter, Youtube, ab 4:08

Die erste falsche Zuschreibung einer Variante dieses Spruchs an Karl Kraus stammt aus dem Jahr 1992, also mehr als 50 Jahre nach seinem Tod:


1992

Diese Version des Spuchs ist so ähnlich seit dem Jahr 1907 nachzuweisen, ist aber in keinem Text von Karl Kraus zu finden.

1907
  • um konstatieren zu können, daß ein Ei faul sei, muß ich es da ganz auslöffeln?
    books.google 
Jahrzehntelang wurden Varianten dieses Bonmots ohne Namensnennung des wahrscheinlich anonymen Urhebers verbreitet, bis es im Jahr 1970  erstmals dem in seiner Zeit gefeierten Kritiker Alfred Kerr und zwanzig Jahre danach erstmals dessen Gegner Karl Kraus zugeschrieben wurde.

Seriöse Quellen für diese Zuschreibungen an Kerr oder Kraus werden in den digitalisierten Texten niemals angegeben. Ob ein Satz so oder so ähnlich wirklich in einem Werk Alfred Kerrs vorkommt, kann ich noch nicht sagen.



1948
  • Muß man selbst Eier legen können, um festzustellen, ob ein Ei faul ist?
    Pandora, Heft 2. Aegia Verlag, Ulm: 1948, S. 82 books.google

1955
  • "Wer gibt Ihnen das Recht", sprach der Theaterdirektor zum Kritiker, "diese Tragödie zu verreissen, obwohl Sie selber vermutlich nicht den simpelsten Einakter schreiben können?" "Ich kann", antwortete der Kritiker, auch keine Eier legen - aber ich kann feststellen, ob ein Ei faul ist."
    Gunter Groll: "Magie des Films", in: Filmkunst, 1955, Heft Nr. 2, Juni 1955, S. 25 books.google 

  • 1970: Kerr lächelte kühl. „Ich kann auch keine Eier legen", erklärte er, „aber trotzdem weiß ich, ob ein Ei gut oder schlecht ist. Berliner Illustrierte
2008?

2015
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Quellen:
Gunter Groll: Magie des Films. Kritische Notizen über Film, Zeit und Welt. München: Süddeutscher Verlag 1953,
Pandora, Heft 2. Aegia Verlag, Ulm: 1948, S. 82
 Henryk M. Broder, 8. Oktober 2018, Sitzung des Petitionsausschusses zur "Erklärung 2018". - twitter, Youtube 4:08

In Arbeit.