Sonntag, 12. November 2017

"Symmetrie ist die Ästhetik der Dummen." Mies van der Rohe (angeblich)

Dieser Aphorismus scheint in Architektur- und Künstlerkreisen seit mindestens 60 Jahren bekannt zu sein und wird - immer ohne Quellenangabe - Mies van der Rohe, aber auch Picasso, Salvatore Dali und Friedensreich Hundertwasser unterschoben. Bisher ist es noch niemandem gelungen, den Spruch in einer ihrer Schriften oder Interviews nachzuweisen.

Wie so viele Sprichwörter ist auch dieser Aphorismus wahrscheinlich anonymen Ursprungs und in verschiedenen Versionen überliefert.

Varianten: 
Symmetrie sei die Ästhetik des kleinen Mannes / des Kleinbürgers / der Dummen / der Doofen / der Einfältigen / der Einfallslosen / der Primitiven / of fools.


 1965 (erstmals)
  • "Von einem für seine ironischen Bemerkungen bekannten Architekten stammt der Satz: 'Die Symmetrie ist die Ästhetik des kleinen Mannes', der hier offensichtlich zuzutreffen scheint ..." (Link)
1999
  • "Symmetrie ist die Ästhetik des Kleinbürgers." Der Spiegel, 51/1999 (Link)
2003
  • "'Symmetrie ist die Ästhetik der Dummen.' Ich behaupte, Picasso hat's gesagt. Ein Kollege von mir behauptet, Hundertwasser. Und Google hat keine Ahnung. Anyone?" (Link)
2004
  • " .. vor Jahren (vielen) habe ich den Spruch "Symmetrie ist die Ästhetik der Doofen" mal im SPIEGEL gelesen".
2006
  • "Bei uns im Studium hieß es wenigstens noch 'Symmetrie ist die Ästhetik des kleinen Mannes'." 
 
2007 
  • "Symmetrie ist die Ästhetik der Dummen" (Ludwig Mies van der Rohe) 
2009
  • "Symmetrie ist die Ästhetik der Einfallslosen"
  • "Respektlos vor dem Alten höhnte man damals: Symmetrie ist die Ästhetik der dummen Kerle."
2010
  • "Salvador Dali said that symmetry is the aesthetics of fools."
 2014
  • "'Symmetry is the aesthetics of fools.' Picasso, Mies van der Rohe, Schopenhauer? Whoever said it, Sister O. won’t know the name." 
2015
  • "Als ich ein Kind war, hat mir ein Nachbar den Satz „Symmetrie ist die Ästhetik der Primitiven“ beigebracht." 

  • "I think it was Picasso who supposedly said that symmetry is the aesthetics of fools."
     
2016
  • "'Symmetrie ist die Ästhetik der einfältigen.' — Ein ehemaliger Arbeitskollege meines Vaters."
 2017
  • "Symmetrie ist die Ästhetik der Doofen"  
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Quellen:
Google
Bauen auf dem Lande, Bände 16-17, 1965, S. 55 (Link) (Erstmals in einem digitalisierten Text nachweisbar; genauere bibliogr. Angaben folgen.)

Donnerstag, 9. November 2017

"Lieber Freund, entschuldige meinen langen Brief, für einen kurzen hatte ich keine Zeit." Charlotte von Stein (angeblich)

Pseudo-Wolfgang-von-Goethe-Zitat.
Dieser Satz wird außer Charlotte von Stein auch Voltaire, Goethe, Churchill, Mark Twain und vielen anderen - immer ohne genaue Quellenangabe - zugeschrieben. In keiner ihrer Schriften ist dieses Zitat allerdings gefunden worden.

Der Satz stammt so ähnlich aus dem Postskriptum eines etwa 40-seitigen Briefes des französischen Mathematikers und Philosophen Blaise Pascal aus dem Jahr 1656:
  • "Ich habe den gegenwärtigen Brief aus keiner andern Ursach so lang gemacht, als weil ich nicht Zeit hatte, ihn kürzer zu machen." 

    Blaise Pascal, 16. Brief, 4. Dezember 1656, Übersetzung: 1792, S. 263
    (Link)
  • "Nachschrift. Ehrwürdige Väter, meine Briefe pflegten nicht so schnell auf einander zu folgen und auch nicht so lang zu sein. Die wenige Zeit, die ich hatte, ist Ursache von dem einen wie von dem andern. Ich habe diesen Brief nur deshalb länger gemacht, weil ich nicht Muße hatte ihn kürzer zu machen."

    Blaise Pascal, 16. Brief, Übersetzung von Karl Adolf Blech, 1841, S. 364 (Link)
  • "Je n’ai fait celle-ci plus longue que parce que je n’ai pas eu le loisir de la faire plus courte."

    Blaise Pascal,
    4. Dezember 1656   (Link)
Garson O'Toole (Quote Investigator) ist der englischen Geschichte dieses Satzes nachgegangen (Link).

Wenn ich mich nicht irre, ist die falsche Zuschreibung des Zitats an Frau von Stein noch keine 20 Jahre alt. Da es weder in einem seriösen Zitat-Lexikon noch in sonst einer seriösen Quelle Charlotte  von Stein zugeschrieben wird, muss man davon ausgehen, dass es ihr so wie Voltaire, Goethe und einigen anderen irrtümlich unterschoben wurde.

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ZITATFORSCHUNG unterstützen.

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Quellen:
Google, Google
Fred R. Shapiro: The Yale Book of Quotations, Yale University Press, New Haven: 2006, S. 583
Quoteinvestigator: "If I Had More Time, I Would Have Written a Shorter Letter  Blaise Pascal? John Locke? Benjamin Franklin? Henry David Thoreau? Cicero? Woodrow Wilson?" 2012 (Link)
Johann Wolfgang Goethe: Repertorium sämtlicher Briefe 1764 - 1832  (Link)
Blaise Pascal: Provinzialbriefe über die Sittenlehre und Politik der Jesuiten ..., Band 2, 1792,  16. Brief, An die Ehrwürdigen Väter von der Gesellschaft Christi, 4. Dezember 1656, S. (219-)263 (Link)

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Artikel in Arbeit.



 Letzte Änderung: 22/6 2020

Mittwoch, 8. November 2017

"Seht diesen Moment, den wir teilen: Es ist der Moment, von dem Hegel sprach. Der Moment, in dem Minervas Eule aufsteigt!" Emmanuel Macron

Was ist der Moment, von dem Hegel sprach?
  • "Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug."
    Georg Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Vorrede, 1820 (Link)
Als ich die beeindruckende Athener Europa-Rede Emmanuel Macrons las, verstand ich zuerst nicht, welchen Moment Emmanuel Macron meinte. Ich las: Wir (die Europäer) teilen den Moment von dem Hegel sprach -: Das ergibt im Zusammenhang mit der zukunftsorientierten Rede Macrons an die Jugend Europas keinen Sinn. Auch 

Die Sache ist aber einfacher als ich dachte. Macron hatte seine Rede am Hügel der Pnyx, dem klassischen Ort Athener Volksversammlungen, absichtlich am späten Abend angesetzt. Am Ende seiner Rede, als er von Hegels Eule der Minerva (griechisch: Athene) sprach, war es dunkel und im Hintergrund strahlte die Akropolis.

Macron hat Hegels Metapher, "die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug", wörtlich genommen und seine Rede  anscheinend auch wegen dieser Metapher in der Dämmerung Athens inszeniert.
Mein Irrtum: ich hatte das "wir" viel zu umfangreich verstanden. Mit der Interpretation, "Wir (die Athener Zuhörerinnen und Zuhörer sowie der Päsident Frankreichs) teilen jetzt diesen Moment, von dem Hegel sprach", ist die Bedeutung des Satzes klar und unmißverständlich: Es dämmert, und die Eulen Athens beginnen zu fliegen.
Es beginnt die Zeit, weise zu sein. Macron kümmert sich nicht um Hegels "Grau in Grau" der zu spät kommenden Philosophen, sondern empfiehlt der Jugend Europas auch etwas verrückt scheinende Ambitionen bei der Planung der gemeinsamen Zukunft.
Emmanuel Macron, 7. September 2017, Pnyx, Athen.
Macron brennt darauf, nach der Regierungsbildung in Berlin loslegen zu können. Ihm schwebt nichts weniger als eine "Renaissance Europas" vor. In Athen hielt er schon eine flammende Europarede, die in den Satz gipfelte: "Seht diesen Moment, den wir teilen: Es ist der Moment, von dem Hegel sprach. Der Moment, in dem Minervas Eule aufsteigt!" Nicht alle verstanden den Hinweis auf das Symbol der Weisheit – aber alle waren sie von dem Furor des jungen Europäers hingerissen. - derstandard.at/2000067300478/Macron-brauchte-ein-halbes-Jahr-zum-Verlust-des-Heiligenscheins Macron brennt darauf, nach der Regierungsbildung in Berlin loslegen zu können. Ihm schwebt nichts weniger als eine "Renaissance Europas" vor. In Athen hielt er schon eine flammende Europarede, die in den Satz gipfelte: "Seht diesen Moment, den wir teilen: Es ist der Moment, von dem Hegel sprach. Der Moment, in dem Minervas Eule aufsteigt!" Nicht alle verstanden den Hinweis auf das Symbol der Weisheit – aber alle waren sie von dem Furor des jungen Europäers hingerissen. - derstandard.at/2000067300478/Macron-brauchte-ein-halbes-Jahr-zum-Verlust-des-Heiligenscheins
  • "Macron wollte diese Rede aller Sicherheitsbedenken zum Trotz auf dem Hügel der Pnyx halten, dort wo die Griechen den Staat und die Demokratie erfunden haben. Er wollte sie mit Beginn der Dämmerung halten, wenn die Hügel rings um Athen in ein rosafarbenes Licht getaucht sind, wenn die Zikaden noch zirpen, während jener blauen Stunde also, da alles möglich scheint, sogar die Neuerfindung einer so alten und inzwischen vielfach verratenen Idee wie Europa." (Link)
  • "Macron brennt darauf, nach der Regierungsbildung in Berlin loslegen zu können. Ihm schwebt nichts weniger als eine Renaissance Europas vor. In Athen hielt er im September vor der nächtlichen Akropolis eine flammende Europarede, die in dem Satz gipfelte: «Schaut diesen Moment, den wir teilen, es ist der Moment, von dem Hegel sprach, der Moment, in dem Minervas Eule aufsteigt!» Nicht alle verstanden den Hinweis auf das Symbol der Weisheit; aber alle waren sie von dem Furor des jungen Europäers hingerissen."
    (Link)
    Macron brennt darauf, nach der Regierungsbildung in Berlin loslegen zu können. Ihm schwebt nichts weniger als eine "Renaissance Europas" vor. In Athen hielt er schon eine flammende Europarede, die in den Satz gipfelte: "Seht diesen Moment, den wir teilen: Es ist der Moment, von dem Hegel sprach. Der Moment, in dem Minervas Eule aufsteigt!" Nicht alle verstanden den Hinweis auf das Symbol der Weisheit – aber alle waren sie von dem Furor des jungen Europäers hingerissen. - derstandard.at/2000067300478/Macron-brauchte-ein-halbes-Jahr-zum-Verlust-des-HeiligenscheinsMacron brennt darauf, nach der Regierungsbildung in Berlin loslegen zu können. Ihm schwebt nichts weniger als eine "Renaissance Europas" vor. In Athen hielt er schon eine flammende Europarede, die in den Satz gipfelte: "Seht diesen Moment, den wir teilen: Es ist der Moment, von dem Hegel sprach. Der Moment, in dem Minervas Eule aufsteigt!" Nicht alle verstanden den Hinweis auf das Symbol der Weisheit – aber alle waren sie von dem Furor des jungen Europäers hingerissen. - derstandard.at/2000067300478/Macron-brauchte-ein-halbes-Jahr-zum-Verlust-des-HeiligenscheinsMacron brennt darauf, nach der Regierungsbildung in Berlin loslegen zu können. Ihm schwebt nichts weniger als eine "Renaissance Europas" vor. In Athen hielt er schon eine flammende Europarede, die in den Satz gipfelte: "Seht diesen Moment, den wir teilen: Es ist der Moment, von dem Hegel sprach. Der Moment, in dem Minervas Eule aufsteigt!" Nicht alle verstanden den Hinweis auf das Symbol der Weisheit – aber alle waren sie von dem Furor des jungen Europäers hingerissen. - derstandard.at/2000067300478/Macron-brauchte-ein-halbes-Jahr-zum-Verlust-des-Heiligenscheins
  • "An die Jugend Europas gewandt sagte er: «Die Eule von Athen schaut leicht nach hinten. Tun Sie es nicht - schauen Sie nach vorne.»"
    (Link)
Macron brennt darauf, nach der Regierungsbildung in Berlin loslegen zu können. Ihm schwebt nichts weniger als eine "Renaissance Europas" vor. In Athen hielt er schon eine flammende Europarede, die in den Satz gipfelte: "Seht diesen Moment, den wir teilen: Es ist der Moment, von dem Hegel sprach. Der Moment, in dem Minervas Eule aufsteigt!" Nicht alle verstanden den Hinweis auf das Symbol der Weisheit – aber alle waren sie von dem Furor des jungen Europäers hingerissen. - derstandard.at/2000067300478/Macron-brauchte-ein-halbes-Jahr-zum-Verlust-des-HeiligenscheinsMacron brennt darauf, nach der Regierungsbildung in Berlin loslegen zu können. Ihm schwebt nichts weniger als eine "Renaissance Europas" vor. In Athen hielt er schon eine flammende Europarede, die in den Satz gipfelte: "Seht diesen Moment, den wir teilen: Es ist der Moment, von dem Hegel sprach. Der Moment, in dem Minervas Eule aufsteigt!" Nicht alle verstanden den Hinweis auf das Symbol der Weisheit – aber alle waren sie von dem Furor des jungen Europäers hingerissen. - derstandard.at/2000067300478/Macron-brauchte-ein-halbes-Jahr-zum-Verlust-des-Heiligen7Emmaunel Macron, 7. September 2017, Athen:
Macron brennt darauf, nach der Regierungsbildung in Berlin loslegen zu können. Ihm schwebt nichts weniger als eine "Renaissance Europas" vor. In Athen hielt er schon eine flammende Europarede, die in den Satz gipfelte: "Seht diesen Moment, den wir teilen: Es ist der Moment, von dem Hegel sprach. Der Moment, in dem Minervas Eule aufsteigt!" Nicht alle verstanden den Hinweis auf das Symbol der Weisheit – aber alle waren sie von dem Furor des jungen Europäers hingerissen. - derstandard.at/2000067300478/Macron-brauchte-ein-halbes-Jahr-zum-Verlust-des-Heiligenscheins
  • "Regardez l'heure que nous partageons, c’est ce moment dont HEGEL parlait, ce moment où la chouette de Minerve s'envole. Il est délicieux ce moment parce qu'il a quelque chose de confortable et de rassurant. La chouette de Minerve porte la sagesse mais elle regarde toujours derrière, c'est aussi ce que nous dit HEGEL avec humilité en parlant du philosophe, elle regarde derrière parce qu'il est toujours si facile et si agréable de regarder ce que nous avons, l'espace déterminé de ce que nous connaissons !"
    Emmanuel Macron, Athen  (Link) 
  • "Look at the time that we are sharing, it is the moment of which Hegel spoke, the moment when the owl of Minerva takes flight. This is such a wonderful time because there is something comfortable and reassuring about it. The owl of Minerva provides wisdom but it continues to look back, it is also what Hegel said with humility when speaking of philosophy, it looks back because it is always so easy and so nice to look at what we have, a determined space of what we know!
    Do not be like the owl of Minerva,
    have this crazy ambition again to desire a stronger, more democratic Europe, revitalized by its culture and what unites us! I am asking you and especially you, the young people of Europe, to have this extreme and perhaps a bit crazy ambition!
    What we are hoping for is in our hands; let us desire this together for ourselves and our children! I promise you that we will succeed! To do so, apply the words of the poet, George Seferis, and I quote: “And when you look for the miracle you’ve got to scatter your blood to the eight points of the wind because the miracle is nowhere but circulating in the veins of man.”
    So let us together give this miracle a chance for our Europe!"
    Emmanuel Macron, Athen  (Link) 
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  • "Half an hour of fine rhetoric leads up to the oratorical climax: “Look at the time that we are living in: it is the moment of which Hegel spoke, the moment when the owl of Minerva takes flight.” Macron doesn’t explain the metaphor; no doubt he overestimates his audience’s level of philosophical sophistication. Minerva is the goddess of wisdom, and the owl is her symbol; this owl, Hegel says, waits for night to fall before flying over the battlefield of history. In other words, philosophy can’t keep pace with events. “The owl of Minerva,” he continues, “provides wisdom but it continues to look back. It looks back because it is always so easy and so comforting to look at what we have, what we know, rather than at the unknown … ”(Link)

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Quellen:
Georg Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. (EA: 1820) Suhrkamp, Frankfurt am Main: 1972, S. 14. (Link)
Discours du Président de la République, Emmanuel Macron, à la Pnyx, Athènes le jeudi 7 septembre 2017, 8. September 2017, Französisch und Englisch (Link)
Emmanuel Carrère: "Orbiting Jupiter: my week with Emmanuel Macron. Is France’s new president a political miracle, or a mirage that is already fading away?" The Guardian, 20. Oktober 2017 (Link) Martina Meister: "Am Geburtsort der Demokratie beschwört Macron die Neugründung Europas". Welt, 7. September 2017 (Link)
Stefan Brändle: "Macron brauchte ein halbes Jahr zum Verlust des Heiligenscheins Analyse" Der Standard, 7. November 2017 (Link)

Dienstag, 7. November 2017

"Wer von seinem Tag nicht zwei Drittel für sich selbst hat, ist ein Sklave." Friedrich Nietzsche (angeblich)

Vollständig lautet Friedrich Nietzsches Satz:
  • "Alle Menschen zerfallen, wie zu allen Zeiten so auch jetzt noch, in Sclaven und Freie; denn wer von seinem Tage nicht zwei Drittel für sich hat, ist ein Sclave, er sei übrigens wer er wolle: Staatsmann, Kaufmann, Beamter, Gelehrter."
Friedrich Nietzsche, 1878:
  • "Hauptmangel der thätigen Menschen.Den Thätigen fehlt gewöhnlich die höhere Thätigkeit: ich meine die individuelle. Sie sind als Beamte, Kaufleute, Gelehrte, das heisst als Gattungswesen thätig, aber nicht als ganz bestimmte einzelne und einzige Menschen; in dieser Hinsicht sind sie faul. — Es ist das Unglück der Thätigen, dass ihre Thätigkeit fast immer ein Wenig unvernünftig ist. Man darf zum Beispiel bei dem geldsammelnden Banquier nach dem Zweck seiner rastlosen Thätigkeit nicht fragen: sie ist unvernünftig. Die Thätigen rollen, wie der Stein rollt, gemäss der Dummheit der Mechanik. — Alle Menschen zerfallen, wie zu allen Zeiten so auch jetzt noch, in Sclaven und Freie; denn wer von seinem Tage nicht zwei Drittel für sich hat, ist ein Sclave, er sei übrigens wer er wolle: Staatsmann, Kaufmann, Beamter, Gelehrter." 
    Friedrich Nietzsche: "Menschliches, Allzumenschliches." I: § 283. Erste Veröffentlichung: 1878. (Link)
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Quelle:
Friedrich Nietzsche: Digitale Kritische Gesamtausgabe der Werke und Briefe, basierend auf der Ausgabe von G. Colli und M. Montinari, Berlin/New York, de Gruyter: 1967ff., hrsg. von Paolo D’Iorio, Menschliches, Allzumenschliches." I, 283. (Link)


Montag, 6. November 2017

"Dieses Jahr wird in die Geschichte eingehen. Zum ersten Mal hat eine zivilisierte Nation ein vollständiges Waffenregister. Unsere Straßen werden dadurch sicherer, unsere Polizei effizienter und die ganze Welt wird in der Zukunft unserem Beispiel folgen!“ Adolf Hitler (angeblich)

Pseudo-Hitler quote.

Dieses angebliche Hitler-Zitat ist in Amerika wahrscheinlich Hitlers bekanntestes Zitat und wurde vor kaum 40 Jahren anscheinend als PR-Instrument für eine Waffenlobby erfunden. Seitdem wird es in Dutzenden Zeitungen und Hunderten Diskussionen als politisches Argument gegen eine strengere Reglementierung von Waffenbesitz verwendet.

Da es noch niemand in einer Schrift oder Rede Hitlers nachweisen konnte, ist es ein Falschzitat. Es kann auch deswegen nicht stimmen, weil es im Dritten Reich nie ein vollständiges Waffenverbot für Private gab.  Im Gegenteil. Die Waffengesetze waren während der Weimarer Republik strenger.

Juden wurden allerdings ab 1933 Waffenscheine entzogen und ab November 1938 der Besitz von Waffen generell verboten (Link).

Der Autor des Zitats ist unbekannt. 1994 galt es schon als berühmtes Hitler-Zitat (Link),  inzwischen hat es mehr als 40.000 Google-Treffer, und wird immer noch in Büchern gegen gun controll verbreitet (Link), obwohl man längst (Link) wissen kann, dass es ein erlogenes Zitat ist.

Nach einem Massenmord in Amerika, wenn wieder Stimmen für strengere Waffengesetze laut werden, wird unzählige Male in Zeitungsartikeln, Leserbriefen und in Social Media mit diesem Zitat suggeriert, Waffenregistrierungen wären der erste Schritt zu einer Diktatur und zum Genozid.

Varianten:
  • "Dieses Jahr wird in die Geschichte eingehen. Zum ersten Mal hat eine zivilisierte Nation ein vollständiges Waffenregister. Unsere Straßen werden dadurch sicherer, unsere Polizei effizienter und die ganze Welt wird in der Zukunft unserem Beispiel folgen!"
    (Link)
  •  "1935 / 1933 / 1938 will go down in history! For the first time a civilized nation has full gun registration! Our streets will be safer, our police more efficient, and the world will follow our lead in the future!"
    (Link)
  • "This year will go down in history! For the first time, a civilized nation has full gun registration! Our streets will be safer, our police more efficient, and the world will follow our lead into the future!"



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Quellen:
Bernard E. Harcourt: "On Gun Registration, the NRA, Adolf Hitler, and Nazi Gun Laws: Exploding the Gun Culture Wars (A Call to Historians)", Fordham Law Review, Vol. 73, Issue II, 653, New York:  2004 (pdf)
Zweite RWaffG-Durchführungsverordnung gegen den Waffenbesitz der Juden vom 11. November 1938 (RGBl. I S. 1573) 
Alex Seitz-Wald: "The Hitler gun control lie", Salon 1. November 2013 (Link)
Wikipedia: Entwaffnung der deutschen Juden 1933-1938
Stephen P. Halbrook: "Das Nazi-Waffengesetz und die Entwaffnung der  deutschen Juden." Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift, Nr. 12, Dezember 2001, S. 8-11  (pdf)
blog.skepticallibertarian.com/2013/03/19/
(Link)
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Sonntag, 5. November 2017

"Wer Multikultur will, der hat keine eigene Kultur, das heißt, er hat überhaupt keine Kultur. Ihm fehlt also das, was den Menschen ausmacht." Friedrich Nietzsche (angeblich)

Pseudo-Friedrich-Nietzsche-Zitat.

Das ist wohl das dümmste Zitat, das seit einem Jahrzehnt auf rechtsextremen Seiten und auf Twitter Friedrich Nietzsche untergeschoben wird. Es kann schon deswegen in keiner Schrift Nietzsches gefunden werden, weil das Wort "Multikultur" erst etwa sieben Jahrzehnte nach seinem Tod aufgekommen ist.

Stilistisch und gedanklich bewegt sich dieses Falschzitat auf dem schlichten Niveau von Landser-Heften: auch deswegen kann es nicht von Friedrich Nietzsche stammen.
"Multikultur", Ngram


Falschzitat, vollständige Variante:

  •  "Wer Multikultur will, der hat keine eigene Kultur, das heißt, er hat überhaupt keine Kultur. Ihm fehlt also das, was den Menschen ausmacht. Denn Kultur ist nach Auffassung aller Philosophen, Anthropologen, Biologen der bestimmte Unterschied zwischen Mensch und Tier. Der Multikulturist muß also unter dem Menschen angeordnet werden. Er ist offensichtlich für Kultur zu dumm und für das gesunde Tier fehlt ihm der Instinkt.
    Friedrich Nietzsche"

Nachtrag 10. Dezember 2022

Inzwischen wird diese Pseudo-Nietzsche-Zitat kaum mehr verbreitet & alte Erwähnungen wurden gelöscht.

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Quellen:
Google
Erstmals taucht das Falschzitat um 2004 auf:
2015: https://rassekrieg.de.tl/Zitate.htm
Google books Ngram Viewer
Friedrich Nietzsche: Digitale Kritische Gesamtausgabe der Werke und Briefe, basierend auf der Ausgabe von G. Colli und M. Montinari, Berlin/New York, de Gruyter: 1967ff., hrsg. von Paolo D’Iorio (Link)
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Dank:
Ich danke Sonstwer.works für den Hinweis. 

Letzte Änderungen: 10/12 2022

"Alles im Leben dreht sich um Sex, nur nicht der Sex. Der dreht sich um Macht.“ Oscar Wilde (angeblich)

Pseudo-Oscar-Wilde-Zitat.
Der heutzutage sehr beliebte Spruch ist vor dem Jahr 1980 weder auf Englisch noch auf Deutsch in digitalisierten Texten nachweisbar und auch in keinem Werk Oscar Wildes zu finden.

Bekannt wurde der Aphorismus durch die Netflix-Serie "House of Cards":
  • "Francis Underwood
    A great man once said, everything is about sex. Except sex. Sex is about power."
    House of Cards, Chapter 9, 2013  (Link)

Wer den Spruch geprägt hat, wissen wir nicht. Er ist in verschiedenen Variationen schon vor der TV-Serie "House of Cards" in den 1990er Jahren als alter Witz unter amerikanischen Psychoanalytikern bekannt.
Erstmals irrtümlich Oscar Wilde zugeschrieben wurde dieser Witz anscheinend im Jahr 2002 (Link).

Varianten:

  • "Everything is about sex except sex, which is about aggression."
  • "Everything in the world is about sex except sex. Sex is about power." 
  • "Everything is about sex. Except sex. Sex is about power."

 

Evolution des Spruchs:


1959
  • "Everything is sex except sex, and God knows what sex has become. "
1984
  • "Because sex is about power, then sado-masochism is argued to be only an extension of that power, and anyway, where do you draw the line?"

1997
  • ".. the importance with which sex and aggression are viewed as motivators of human behavior by psychoanalysts is captured by the saying, "Everything is about sex, except sex, which is about aggression." I think of the Beast Within as a wolf ..."

1998
  • "As the old analytic joke goes, "Everything is about sex except sex, which is about aggression."
2002
  • "Brendan Lemon thoroughly understands Oscar Wilde's assertion that everything in the world is really about sex, except sex: Sex is about power." (Link)
2002
  • "Summarizing Freud and all of psychoanalysis most succinctly, Robert Michels (personal communication) wryly suggested: "Everything is about sex, except sex; sex is about power." ...  "Sometimes sex is just about sex !" (Link)
2013
  • "Francis Underwood
    A great man once said, everything is about sex. Except sex. Sex is about power."
    House of Cards, Chapter 9, 2013  (Link)
    _______
    Quellen: 
    Google
    Wikiquote: unsourced
    Vergebliche Suche (Link)
    Usenet:  (Link)
    IMDb (Link) 
    ________
    Dank:
    Ich danke Ralf Bülow für die Korrektur der ersten Fassung des Artikels.
    Artikel in Arbeit.

    Mittwoch, 1. November 2017

    "Wer Gott sagt, will betrügen." Pierre-Joseph Proudhon (angeblich)

    Das erfolgreichste Falschzitat Carl Schmitts ist sein Proudhon-Zitat, "Wer Gott sagt, will betrügen".

    Carl Schmitt behauptet, sein Bonmot, "Wer Menschheit sagt, will betrügen", sei eine Modifikation von Proudhons Satz, "Wer Gott sagt, will betrügen." - Bisher hat allerdings noch niemand diesen Satz so oder so ähnlich in einer Schrift Proudhons gefunden.

    Der gefeierte deutsche Rechtsgelehrte Carl Schmitt, der mit seinem vulgäranalytischen Bonmot Immanuel Kant oder den Autor der Letzten Tage der Menschheit, der ihm verhasst war, als heimliche Betrugs-Hilskräfte hinstellt, hat mit seiner falschen Zuschreibung an den Anarchisten Proudhon sich selbst und seine Leser - wahrscheinlich unabsichtlich - betrogen.

    Und wenn Carl Schmitt sich ideologiekritischer und wahrheitsliebender präsentiert als jene angeblichen Betrüger-Rechtsphilosophen, die an der Kant'schen Idee der Menschheit festhalten, obwohl der Begriff Menschheit wie jeder Begriff propagandistisch mißbrauchbar ist, wirkt der unter Hitler und Göring virtuos praktizierende Opportunist Schmitt nicht sehr glaubwürdig, und sein Bonmot kommt mir nur so wahr vor wie seine Zuschreibung des Wer-Gott-sagt-will-betrügen-Aphorismus an Proudhon.
    "Wer Carl Schmitt sagt, will ..."


    Carl Schmitt, 1932:
    • "»Menschheit« ist ein besonders brauchbares ideologisches Instrument imperialistischer Expansionen und in ihrer ethisch-humanitären Form ein spezifisches Vehikel  des ökonomischen Imperialismus. Hierfür gilt mit einer naheliegenden Modifikation, ein von  Proudhon geprägtes Wort: Wer Menschheit sagt, will betrügen. Die Führung des Namens  »Menschheit«, die Berufung auf die Menschheit, die Beschlagnahme dieses Wortes, alles das  könnte, weil man nun einmal solche erhabenen Namen nicht ohne gewisse Konsequenzen  führen kann, nur den schrecklichen Anspruch manifestieren, daß dem Feind die Qualität des  Menschen abgesprochen, daß er hors-la-loi und hors l'humanité erklärt und dadurch der Krieg  zur äußersten Unmenschlichkeit getrieben werden soll."
    Carl Schmitt, 1954:
    • "Wenn heute der Name Gottes fällt, dann zitiert der Normal-Gebildete von heuzutage automatisch den Ausspruch Nietzsches: Gott ist tot. Andere, noch besser informiert, zitieren einen Ausspruch des französischen Sozialisten Proudhon, der dem Ausspruch Nietzsches um vierzig Jahre vorauseilt und behauptet: Wer Gott sagt, will betrügen."
    Immanuel Kant, 1785:
    • "Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst."
    ________
    Quellen:
    Google
    1785: Immanuel Kant: Grundlegung der Metaphysik der Sitten. Kant Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff., AA IV, S. 429  (Link)
    1932: Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen: Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien. 7. Aufl., Duncker und Humblot, Berlin: 1991, S. 55 (Link)
    1954: Carl Schmitt: Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber. (1954), Klett Cotta, Stuttgart: 2008, S. 11 (Link)
     
    Andreas Anter, Universität Bremen und  Christoph Cornelißen, Goethe-Universität Frankfurt am Main, zum Beispiel, haben Schmitts Proudhon-Zitat auch nicht gefunden (Link),  (Link).
    Die meisten Bewunderer Carl Schmitts glauben ihm allerdings ohne seriösen Quellennachweis sein Proudhon-Zitat, so wie auch Peter Sloterdijk  (Link).
    __________
    Anmerkung:
    Das Zitat, "Eigentum ist Diebstahl", ist wirklich von Pierre-Joseph Proudhon.
    In der Sekundärliteratur zu Carl Schmitt wird auch einige Male das "Wer-Menschhheit-sagt"-Bonmot Proudhon unterschoben, zum Beispiel hier: (Link), (Link).

    Dienstag, 31. Oktober 2017

    "Wenn du wissen willst, wer dich beherrscht, mußt du nur herausfinden, wen du nicht kritisieren darfst." Voltaire (angeblich)

    Pseudo-Voltaire quote.
    Dieses in konservativen amerikanischen Kreisen äußerst beliebte Zitat wird seit kaum 10 Jahren irrtümlich Voltaire zugeschrieben, aber der Spruch stammt nicht von dem französischen Philosophen aus dem 18. Jahrhundert, sondern aus dem Text eines vorbestraften rechtsextremen amerikanischen Holocaust-Leugners aus dem Jahr 1993:
    •  "To determine the true rulers of any society, all you must do is ask yourself this question: who is it that I am not permitted to criticise? We all know who it is that we are not permitted to criticise. We all know who it is that it is a sin to criticise. Sodomy is no longer a sin in America. Treason, and burning and spitting and urinating on the American flag is no longer a sin in America. Gross desecration of Catholic or Protestant religious symbols is no longer a sin in America. Cop-killing is no longer a sin in America – it is celebrated in rap ‘music’."
      Kevin Alfred  Strom: "All America Must Know the Terror", National Vanguard, 1993 (Link)
      Aus diesem Absatz entstanden diese Sprüche und ähnliche:
    • "To determine the true rulers of any society, all you must do is ask yourself this question: Who is it that I am not permitted to criticize?"
    • "To learn who rules over you, simply find out who you are not allowed to criticize."
    • "Um zu erfahren, wer über euch herrscht, braucht ihr nur herauszufinden, wen ihr nicht kritisieren dürft."

    Pseudo-Voltaire quote.

    __________
    Quellen:
    Google
    Paul Gibbard, University of Western Australia, davor: Voltaire Foundation in Oxford, in:  "Cory Bernardi mistakenly 'quotes' Voltaire on Twitter with neo-Nazi's line", The  Guardian, 27. November 2015 (Link)
    Kevin Alfred  Strom: "All America Must Know the Terror", National Vanguard:1993 (Link)

     

     

     

    Letzte Änderung: 29/11 20121 (Dank an Hermann Bianchi für Korrektur.)

    "Wer dich veranlassen kann, Absurditäten zu glauben, der kann dich auch veranlassen, Gräueltaten zu begehen." Voltaire (angeblich)

    Das ist ein zugespitztes Voltaire-Zitat; das Original klingt weniger alarmistisch. Voltaire schreibt in seinen "Untersuchungen über die Wunder" (1765) nicht von "Gräueltaten", sondern von "ungerecht" (injuste) machen:

     Voltaire, 1765
    •  "Certainement qui est en droit de vous rendre absurde est en droit de vous rendre injuste." (Link)
    Übersetzung, 1788
    • "Wer berechtigt ist, einen ungereimt zu machen, kann ihn auch ungerecht machen."
      (Link)
    ______
    • "Sicher, wer dich von Absurditäten überzeugen kann, kann Dich auch zu Ungerechtigkeiten verleiten."
      Übersetzung: von mir
    •  "Certainly any one who has the power to make you believe absurdities has the power to make you commit injustices."
      Übersetzung: Norman Lewis Torrey
    ______
    Wie Wikiquoter herausgefunden haben, hat sich auf Englisch schon seit dem 19. Jahrhundert die extremere Version eingebürgert:

    • "Those who can make you believe absurdities, can make you commit atrocities".

    Durch die Übersetzungen der Bestseller von Richard Dawkins und Steven Pinker (Google) sowie durch Zitatesammlungen hat sich diese ungenaue Übersetzung von Voltaires Gedanken auch auf Deutsch verbreitet:
    • "Wer dich veranlassen kann, Absurditäten zu glauben, der kann dich auch veranlassen, Gräueltaten zu begehen." 

     ___________
    Quellen:
     Google
    Voltaire: Questions sur les miracles, 11. Brief an M. Corvelle (1765), Oeuvres completes de Voltaire. Band 16, 1784,  S. 451 (Link)
    Voltaire: Untersuchung über die Wunder in Briefen, 11. Brief, Voltair's sämtliche Schriften: Sechszehnter Band, Band 16, Arnold Wever, Berlin:1788, S. 365 (Link)
     Norman Lewis Torrey: Les Philosophes. The Philosophers of the Enlightenment and Modern Democracy. Capricorn Books, New York: 1961, S. 277f.
    Wikiquote E
     Wikiquote

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    Dank:
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