Sonntag, 1. Oktober 2017

"Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen." Johann Wolfgang von Goethe (angeblich)

Pseudo-Johann-Wolfgang-Goethe-Zitat.


Dieses Bonmot wird seit vier Jahrzehnten Johann Wolfgang Goethe immer ohne genaue Quellenangabe zugeschrieben und seitdem von Politikern und Ratgebern aller Art gerne zitiert.

Zum ersten Mal wurde dieses Bonmot anscheinend am 27. Februar 1986 (Link) Johann Wolfgang von Goethe unterschoben, und zwar von dem FDP-Abgeordneten Klaus Beckmann im Deutschen Bundestag anlässlich einer verkehrspolitischen Debatte über die Einführung der Parkkralle in Deutschland.

Klaus Beckmann, Deutscher Bundestag, Bonn, 27. Februar 1986
 
Da das Zitat auch in den folgenden Jahrzehnten immer ohne Quellenangabe ausschließlich in für Philologen nicht vertrauenswürdigen Publikationen auftaucht und weder in Goethes Schriften noch in literaturwissenschaftlichen Studien oder seriösen Nachschlagwerken so oder so ähnlich vorkommt, ist es ein Kuckuckszitat.

Im 21. Jahrhundert werden auch englische und italienische Versionen des angeblichen Goethe-Zitats verbreitet.

Vielleicht ist dieses Pseudo-Goethe-Zitat aus einem Aphorismus  des TV-Moderators Robert Lembke entstanden:
  • "Mit etwas Geschick kann man sich aus den Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, eine Treppe bauen."
    Robert Lembke, 1974  (Link)

Viele verschiedenen Versionen und Zuschreibungen dieses Zitats findet man in Juttas Zitateblog (Link).
Pseudo-Erich-Kästner-Zitat.
Dieses Kuckuckszitat wird im 21. Jahrhundert auch sehr oft fälschlich Erich Kästner zugeschrieben. Johan Zonneveld, der Autor der dreibändigen Erich-Kästner-Bibliographie, hat mir per E-Mail versichert, dass dieses Zitat in den Schriften Erich Kästners so wenig zu finden ist wie in den Schriften Johann Wolfgang von Goethes.

Einige Versionen des Pseudo-Goethe-Zitats:

  • "Auch aus Steinen, die dir in den Weg gelegt werden, kannst du etwas Schönes bauen."  
  • "Even the stones that have been placed in one's path can be made into something beautiful."
  • "Puoi costruire qualcosa di bello anche con le pietre che trovi sul tuo cammino."
  • "Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen." 
Pseudo-Goethe-Zitat.
 
Pseudo-Johann-Wolfgang-Goethe-Zitat. (Link)



Nachweislich hat Goethe allerdings einmal dem Stolpern eine positive Seite abgewonnen:

  • "Durch Stolpern kommt man bisweilen weiter, man muß nur nicht fallen und liegen bleiben."
    Johann Wolfgang von Goethe zu Johann Christian Mahr, August 1831,  (Link)

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Quellen:
Google
Goethes Gespräche: eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang. 1825-1832, Gespräch mit Johann Christian Mahr, Artemis Verlag, 1965, S. 814 (Link)
Abgeordneter Klaus Beckmann (FDP), 27. Februar 1986: Verhandlungen des Deutschen Bundestages: Stenographische Berichte, Deutscher Bundestag,  Band 137, 1986, S. 15429 (Link)  
Publik-Forum, Band 21, 1992, S 39 (Link)
Lexikon der Goethe-Zitate. Hrsg. von Richard Dobel, Artemis Verlag, Weltbild Verlag, Augsburg: 1991 
Juttas Zitateblog: "Goethe und die Steine, die einem in den Weg gelegt werden – oder sind sie doch von Kästner oder von wem?", 2012 (Link) (Lesenswert.)
Johan Zonneveld: "Bibliographie Erich Kästner." 3 Bände im Schuber. Aisthesis Verlag, Bielefeld: 2011
E-Mail von Dr. Johan Zonneveld vom 2. Juli 2018
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Dank
Ich danke  Johan Zonneveld von der Erich-Kästner-Forschung  für die Auskunft sowie Juttas Zitateblog für die Dokumentation des Kuckuckzitats.

Letzte Änderung: April 2020.
 (Artikel in Arbeit.)

Samstag, 30. September 2017

"Erkenne dich selbst!" Sokrates (angeblich)

Γ     Ν     Ω       Θ     Ι 

(Gamma Ny Omega Theta Iota)

 Σ      Α       Υ      Τ     Ο     Ν 

(Sigma Alpha Ypsilon Tau Omikron Ny)

Der berühmte Spruch, über den schon so viel geschrieben wurde, wird manchmal im 20. Jahrhundert und oft im 21. Jahrhundert - hauptsächlich im Internet - Sokrates untergeschoben, obwohl Sokrates diese delphische Forderung nur sehr ernst genommen und sicher nicht geprägt hat.

"Γνῶθι σεαυτόν" (Gnothi seauton; lateinisch: Nosce te ipsum oder Temet Nosce; Know thyself, "Erkenne dich selbst") stand über einem Eingang des Apollo-Tempels von Delphi und galt als Imperativ des Gottes Apollo.  

Umstritten ist, wer den Spruch zuerst formuliert hat. Er könnte ägyptischen Ursprungs sein oder von den Sieben Weisen stammen, also von Thales von Milet, Pittakos von Mytilene, Bias von Priene, Solon von Athen, Kleobulos von Lindos, Myson von Chenai oder von Chilon von Sparta, wie es  Autoren verschiedentlich vermutetet haben.

  • "SOKRATES:
    Der Grund davon, mein  Freund,  ist  dieser:  Ich  vermag  noch  nicht  gemäß  dem  delphischen  Spruche  mich  selbst  zu  erkennen. Lächerlich  aber  scheint  es  mir,  solange  man  dies  nicht  kennt,  das  Fremde  zu  erforschen.  Darum  laß  ich  jenen Dingen  ihren  Lauf  und  nehme  den  Glauben  über  sie  an,  wie  er  dem  Brauche  entspricht,  und  erforsche,  wie  ich eben  sagte,  nicht  jene,  sondern  mich  selbst,  ob  ich  etwa  ein  Untier  bin,  verschlungener  und  aufgeblasener  als Typhoni , oder ein milderes und einfacheres Geschöpf, das ein göttliches und gebändigtes Schicksal von Natur erlost hat. Aber, Freund, indem wir so reden – war das nicht der Baum, zu dem du uns führen wolltest?"

    Platon: "Phaidros oder Vom Schönen", übersetzt von Kurt Hildebrandt, 1957 (pdf)

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"TEMET NOSCE "

in
THE MATRIX
(1999)


The Matrix, Neo, "Temet Nosce".
  • The Oracle: You know why Morpheus brought you to see me?
    Neo
    : I think so.
    The Oracle
    : So, what do you think? Do you think you're The One?
    Neo
    : I don't know.
    The Oracle
    : You know what that means? It's Latin. Means 'Know thyself'. I'm going to let  you in on a little secret. Being The One is just like being in love. No one can tell you you're in love, you just know it. Through and through. Balls to bones.
    The Matrix, 1999 (Link)

 

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Quellen:
Google
Dagmar Rudel-Steinbauer: "Emotionale Kompetenz: Quelle des Erfolgs persönlich, beruflich, privat" ebook, (Link)
Platon: "Phaidros oder Vom Schönen", übersetzt von Kurt Hildebrandt, Reclam, Stuttgart: 1957 (pdf)
Plato: Phaedrus, [229e] Plato in Twelve Volumes, Vol. 9 translated by Harold N. Fowler. Cambridge, MA, Harvard University Press; William Heinemann Ltd., London: 1925. (Link)
Plato, Protagoras, [343a, b]  (Link), (Link)
Hermann Tränkle: Gnothi seauton. Zu Ursprung und Deutungsgeschichte des delphischen Spruchs. Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft, Neue Folge, Bd. 11, 1985, S. 19–31 (pdf)  (zitiert nach Wikipedia)
Wikipedia Deutsch (Link)
Wikipedia English (Link)
Lexika, Zeno.org (Link)
Zu "Temet Nosce", Lateinforum (Link)
The Matrix101: "The Matrix: Meaning & Interpretations"  (Link)

Montag, 25. September 2017

“You were given the choice between war and dishonour. You chose dishonour, and you will have war.'’ Winston Churchill (angeblich)

  • "Sie hatten die Wahl zwischen Krieg und Schande, sie haben sich für die Schande entschieden und werden trotzdem den Krieg bekommen". (Link)
Es stimmt nicht, auch wenn's in Schulbüchern steht, dass Winston Churchill diesen Satz Anfang Oktober 1938 dem Premierminister im Unterhaus vorgeworfen habe. 

Das enstellte Zitat hat sich aus zwei ähnlichen Sätzen von Winston Churchill, die nicht direkt an Nelville Chamberlain gerichtet waren, entwickelt:

Winston Churchill, in 2 Briefen im August und September 1938:
  • "I think we shall have to choose in the next few weeks between war and shame..." (Link)
  • "We seem to be very near the bleak choice between War and Shame. My feeling is that we shall choose Shame, and then have War thrown in a little later ..." (Link)
Winston Churchill wurde später zugeschrieben:
  • 1939 ff.: "Churchill says the government had to choose between war and shame. They chose shame. They will get war too."
  • 1940: "I saw Churchill. You know his formula. France and England have the choice between war and dishonor. You have elected and you will have war." 
  • 1964: "When Chamberlain returned from Munich bringing, as he said, "peace in our time," Churchill pointed out to him in the House of Commons, "You were given the choice between war and dishonour. You chose dishonour and you will have war."
Churchills briefliche Wendung von der Wahl zwischen "war and shame" hat bald Flügel bekommen, aber es ist - wie gesagt - nur eine Legende, dass er diese Worte Anfang Oktober 1938 im House of Commons zum Premierminister gesagt habe (Link). Der Satz ist in keinem Parlamentsprotokoll zu finden. Chamberlain musste allerdings auf einen Zwischenruf ("Shame!") reagieren:

  • "The relief that our escape from this great peril of war has, I think, everywhere been mingled in this country with a profound feeling of sympathy—[HON. MEMBERS: "Shame."] I have nothing to be ashamed of. Let those who have, hang their heads. We must feel profound sympathy for a small and gallant nation in the hour of their national grief and loss. "
    Nelson Chamberlain, Prime Ministers Statement,  3. Oktober 1938  (Link) 
Das entstellte Chuchill-Zitat ist bis heute - auch in Schulbüchern - in diversen Variationen weit verbreitet, zum Beispiel:
  • "Winston Churchill aber sagt im Unterhaus: „Großbritannien hat zwischen Krieg und Schande zu wählen gehabt, und seine Minister haben die Schande gewählt, um auch noch den Krieg zu bekommen."  (Link)
  •  
 
Ich folge den Recherchen des Winston-Churchill-Experten Richard M. Langworth ("War and Shame",  (Link)) und den Hinweisen von Tobias Blanken auf Twitter.
 
Die Evolution des Falschzitats
13. August 1938
  • "I think we shall have to choose in the next few weeks between war and shame, and I have very little doubt what the decision will be."
    Winston Churchill an Lloyd George, 13. August 1938
    (Link)
11. September 1938
  • "We seem to be very near the bleak choice between War and Shame. My feeling is that we shall choose Shame, and then have War thrown in a little later on even more adverse terms than at present."
    Winston Churchill an Lord Moyne, 11. September 1938 (Link)
29. , 30. September 1938
  • Münchner Abkommen
3. Oktober 1938
Prime Ministers Statement: 
  • "The relief that our escape from this great peril of war has, I think, everywhere been mingled in this country with a profound feeling of sympathy—[HON. MEMBERS: "Shame."] I have nothing to be ashamed of. Let those who have, hang their heads. We must feel profound sympathy for a small and gallant nation in the hour of their national grief and loss. "
    Nelson Chamberlain, Prime Ministers Statement,  3. Oktober 1938  (Link) 
1940
  • "Then the Paris legend goes on : "Voice of M. Mandel: 'I saw Churchill. You know his formula. France and England have the choice between war and dishonor. You have elected and you will have war.' "
    The Living Age, 1940, Band 359, S. 238 (Link)

1964
  • "When Chamberlain returned from Munich bringing, as he said, "peace in our time," Churchill pointed out to him in the House of Commons, "You were given the choice between war and dishonour. You chose dishonour and you will have war."
    Himmat, India, 1964, Band 1, S. 125  (Link)
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Quellen:
Google
Richard M. Langworth: "War and Shame", 2009 (Link)
Winston S. Churchill: "Churchill by Himself", Rosetta books, ebook: 2013
Randolph Spencer Churchill, Martin Gilbert: Winston S. Churchill: The prophet of truth, 1922-1939. Companion. pt. 1. The exchequer years, 1922-1929. pt. 2. The wilderness years 1929-1935. pt. 3. The coming of war 1936-1939, Houghton Mifflin, Boston: 1983
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Dank:
Ich danke Tobias Blanken (@Tobias_B) für den Hinweis auf dieses entstellte Zitat.
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Arikel in Arbeit

Sonntag, 24. September 2017

"Ich ziehe die Gesellschaft der Tiere der menschlichen vor. Gewiss, ein wildes Tier ist grausam." Sigmund Freud (angeblich)



Die freundlichen Bemerkungen Sigmund Freuds über Tiere stammen meines Wissens alle aus seinen letzten zwei Lebensjahrzehnten. Erst nach seinem 65. Geburtstag hat Sigmund Freud einen Hund in seine Wohnung in der Berggasse 19 aufgenommen.


Ich dachte zuerst, das Zitat wäre erst im 21. Jahrhundert Sigmund Freud zugeschrieben worden, aber  Ralf Bülow verdanke ich den Hinweis, dass es aus einem Interview mit  Georg S. Viereck aus dem Jahr 1926 stammt (Link); die Wörter "bei weitem" aus Sigmund Freuds urspünglichem Satz werden von den Zitierenden oft unterschlagen.

  • "Ich ziehe die Gesellschaft der Tiere der menschlichen Gesellschaft bei weitem vor. Gewiss, ein wildes Tier ist grausam. Aber die Gemeinheit ist das Vorrecht des zivilisierten Menschen."
    Sigmund Freud, 1926
    (Link)


Georg S. Viereck und Sigmund Freud:


  • "»Ich weiß nicht, was man eigentlich gegen das Tier einzuwenden hat«, sagte Freud. »Ich ziehe die Gesellschaft der Tiere der menschlichen Gesellschaft bei weitem vor. Gewiß, ein wildes Tier ist grausam. Aber die Gemeinheit ist ein Vorrecht des zivilisierten Menschen. Eine ganze Reihe häßlicher Eigenschaften des Menschen ist eine Folge ihrer Anpassung an eine hochentwickelte Zivilisation und ist das Ergebnis eines Konflikts zwischen unseren Instinkten und unserer Kultur. Die Psychoanalyse scheint mir gewissermaßen als der Faden, der aus dem Labyrinth des Lebens hinausführt.«"
    Georg Silvester Viereck: Professor Freud über den Wert des Lebens. Ein Gespräch mit dem großen Gelehrten. Neue Freie Presse, 28. August 1927, S. 4
    (Link)


  • » "I sometimes wonder," I questioned, "if we would not be happier if we knew less of the processes that shape our thoughts and emotions? Psychoanalysis robs life of its last enchantments, when it traces every feeling to its original cluster of complexes. We are not made more joyful by discovering that we all harbor in our hearts the savage, the criminal and the beast."

    "What is your objection to the beasts?" Freud replied: "I prefer the society of animals infinitely to human society."
    "Why?"

    "Because they are so much simpler. They do not suffer from a divided personality, from the disintegration of the ego, that arises from man’s attempt to adapt himself to standards of civilization too high for his intellectual and psychic mechanism.
    The savage, like the beast, is cruel, but he lacks the meanness of the civilized man. Meanness is man’s revenge upon society for the restraints it imposes. This vengefulness animates the professional reformer and the busy body. The savage may chop off your head, he may eat you, he may torture you, but he will spare you the continuous little pinpricks which make life in a civilized community at times almost intolerable.
    Man’s most disagreeable habits and idiosyncrasies, his deceit, his cowardice, his lack of reverence, are engendered by his incomplete adjustment to a complicated civilization. It is the result of the conflict between our instincts and our culture.

    How much more pleasant are the simple, straightforward, intense emotions of a dog, wagging his tail or barking his displeasure! The emotions of the dog," Freud thoughtfully added, "remind one of the heroes of antiquity. Perhaps that is the reason why we unconsciously bestow upon our canines the names of ancient heroes such as Achilles and Hector." «
    George S. Viereck: "An Interview with Freud", in: "Glimpses of the Great", The Macaulay company, 1930, p. 33 (pdf)
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Quellen:
Tierzitate: (Link)
ORF.at, 2006: "Ein Tag im Leben von Sigmund Freud" 
Google
Zitate von Sigmund Freud:  thorwart-online.de/Seite_Freudzitate.htm
PEP, Psychonalytic Electronical Publishing  (Link)
Sigmund Freud House Bulletin, Bände 1-3, 1975, S. 4 (Link)
Georg Silvester Viereck: Professor Freud über den Wert des Lebens. Ein Gespräch mit dem großen Gelehrten. Neue Freie Presse, 28. August 1927, Morgenblatt, S. 4 (Link)
 George Sylvester Viereck: "Glimpses of the Great", The Macaulay company, 1930, p. 33 (Link)(Vorerst zitiert nach Google Books; das Interview auf Englisch ist umfangreicher als das in der Neuen Freien Presse abgedruckte. Zum Beispiel fehlt in der NFP Freuds Lob des Hundes, wonach ein Hund mit seinen starken Gefühlen an antike Helden wie Achilles und Hektor erinnere.)
In der digitalisierten Gesamtausgabe der Schriften von Sigmund Freud habe ich das Zitat nicht gefunden (Link).


 
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Dank:
Ich bin Ralf Bülow für seinen Hinweis auf G. S. Vierecks Interview und Buch sehr dankbar.

Korrigierte Fassung 29/9 2017, 28/3 2018; 29/9 2019 Artikel in Arbeit.

Freitag, 22. September 2017

"Es wird niemals so viel gelogen wie vor der Wahl, während des Krieges und nach der Jagd." Otto von Bismarck (angeblich)

Pseudo-Otto-von-Bismarck-Zitat.

Dieses weltweit wahrscheinlich beliebteste Pseudo-Bismarck-Zitat wurde Otto von Bismarck erst Jahre nach seinem Tod zugeschrieben und ist in seinen Schriften und Reden nicht zu finden. Es wird ihm also fälschlich zugeschrieben.

Geprägt hat das Zitat der liberale Abgeordnete Louis Berger (Witten) um 1879. 

Vor diesem Jahr ist der Spruch in keinem digitalisierten Text auffindbar. Louis Berger (auch: Louis Constantin Berger Witten) gehörte im Deutschen Reichstag zu einer kleinen liberalen Partei mit dem Namen "Gruppe Löwe-Berger".
  • "Daß niemals so viel gelogen wird, als wäh­rend eines Krieges, vor einer Wahl und nach einer Jagd, war der Leibspruch des Abgeordneten Louis Berger (Witten)."
    Salzburger Chronik, 10. März 1903, S. 1 (Zitat aus der Kölnischen Volkszeitung) (Link) 
1879 wurde das Zitat ohne Namensnennung einem Abgeordneten aus der Parlamentsgruppe Löwe zugeschrieben, also Louis Berger oder einem seiner Kollegen, und nicht Otto von Bismarck:
  • "Auch bemerkte ein Abgeordneter aus der „Gruppe Löwe" treffend: „Es wird nie mehr gelogen als vor der Wahl, während des Krieges und nach der Jagd." (Link).
    Im neuen Reich. Wochenschrift für das Leben des deutschen Volkes in Staat, Wissenschaft und  Kunst. Band 9 (1879), 1. Halbband, S. 199 books.google.
1887 wusste man noch, wer das Zitat geprägt hat: Louis Berger.
  •  "Noch keine Wahlbewegung ist vorübergegangen, ohne uns Gelegenheit zu geben, an das Wort Louis Berger's zu denken, daß nie so viel gelogen wird, wie nach einer Jagd, während eines Krieges und vor einer Wahl."
    Pfälzer Zeitung, Nr. 34, 10. Februar 1887, S. 1 (Link)
1890 scheint der nationalistische Historiker Treitschke (Link) das Zitat in der Version: "der Deutsche lüge am meisten n a c h  der Jagd und v o r den Wahlen",  verwendet zu haben und 1897 wird es von einem Abgeordneten wieder einem verstorbenen Kollegen und nicht Otto von Bismarck zugeschrieben:
  • Abg. Lieber: "Ich erinnere an das Wort eines verstorbenen Kollegen: Es wird nirgends mehr gelogen als vor der Wahl, während des Krieges und nach der Jagd. (Heiterkeit.)"
    Berliner Tageblatt, 15. Juli 1897, S. 13 (Link)
Ende des 19. Jahrhunderts war der Spruch schon weit verbreitet (Link) (Link) und
wird - wie Wikipedia-Autorinnen herausgefunden haben - Bismarck 1904 erstmals unterschoben:
  •   "[...] wenn Bismarck sein bekanntes Wort über die Gelegenheiten, bei welchen am meisten gelogen wird, zu wiederholen hätte, so müßte er den von ihm genannten dreien (vor einer Wahl, während eines Krieges, nach einer Jagd) jedenfalls die Unterleibsentzündung der Frau voranschicken."
    Zeitschrift für Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. Im Auftrage der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. Band 2 (1904) S. 283 (Link)
Seitdem ist dieser Spruch, mit ein paar Ausnahmen, auf Deutsch, Englisch und Italienisch offenbar untrennbar mit dem Namen Otto von Bismarcks verbunden und kommt bei einer Google-Suche weit über 100.000 Mal vor.

Auf Französisch wird der Spruch seit ein paar Jahrzehnten erfolgreich dem Ministerpräsidenten Georges Clemenceau untergeschoben.

 Varianten:


  • "Es wird niemals so viel gelogen wie vor der Wahl, während des Krieges und nach der Jagd."
  • "Es wird nie mehr gelogen als vor der Wahl, während des Krieges und nach der Jagd." 
  • "People Never Lie So Much as Before an Election, During a War, or After a Hunt." 
  • "People never cheat as much as during war, after hunt and before elections."
  • "Non si mente mai così tanto prima delle elezioni, durante una guerra e dopo la caccia."
  • "On ne ment jamais autant qu'avant les élections, pendant la guerre et après la chasse." (Pseudo-Clemenceau) 
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Quellen:
Google
Wikiquote
Zitat aus "Frantf. Zig" in: Pfälzer Zeitung, Nr. 34, 10. Februar 1887, S. 1 "Das wahre Ziel des Parteikampfes ist die Partei Bismarck sans phrase." (Link)
Berliner Tageblatt, 15. Juli 1897, S. 13 (Link)
Zeitschrift für Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. Im Auftrage der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. Band 2 (1904) S. 283 (Link)

(Zitiert nach Wikipedia) 
Im neuen Reich. Wochenschrift für das Leben des deutschen Volkes in Staat, Wissenschaft und  Kunst. Band 9 (1879), 1. Halbband, S. 199 (Link) (Via Wikipedia)
Salzburger Chronik, 10. März 1903, S. 1 (Zitat aus der Kölnischen Volkszeitung) (Link)  
(Artikel in Arbeit.) tawa-news.com)Tassilo Wallentin: "Lüge in Kriegszeiten", Kronen Zeitung (Krone Bunt) 15. Mai 2022 (tawa-news.com)(Link) Letzte Änderungen: 14/8 2022, 17/3 2023______Dank:Ich danke den Mitarbeiter:innen von Wikiquote, sowie Gregor Brand für das Zitat in der Pfälzer Zeitung.

Mittwoch, 20. September 2017

"Habt Ehrfurcht vor dem Baum, er ist ein einziges großes Wunder, und euren Vorfahren war er heilig. Die Feindschaft gegen den Baum ist ein Zeichen von Minderwertigkeit eines Volkes und von niederer Gesinnung des einzelnen." Alexander von Humboldt (angeblich)


Pseudo-Alexander-von-Humboldt-Zitat.

Alexander von Humboldt hat mit diesem Zitat so wenig zu tun wie Häuptling Sitting Bull mit der Prophezeiung aus dem 20. Jahrhundert: "Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet Ihr merken, dass man Geld nicht essen kann."

Seit 1961 wird Humboldt dieser pathetische Appell unterschoben, anscheinend ursprünglich von Reinhold Tüxen, einem angesehenen Botaniker, der allerdings 1939 seine Aufgabe noch darin sah, "die deutsche Landschaft vor der unharmonischen ausländischen Substanzen" und von allen "mongolischen Eindringlingen" "zu reinigen" (Link).

Dieser Pseudo-Alexander-von-Humboldt-Spruch, der im Nazi-Jargon die "Minderwertigkeit eines Volkes" diagnostiziert, wird immer ohne seriöse Quellenangabe zitiert und ist vor 1961 nicht auffindbar. 

Da Experten von der Alexander-von-Humboldt-Forschungsstelle der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften schon lange vergeblich nach diesem Zitat in einem Text Alexander von Humboldts gesucht haben und es ihm erst über 100 Jahre nach seinem Tod erstmals zugeschrieben wurde, wird es wohl niemals in einem Werk oder Brief Alexander von Humboldts gefunden werden.

Dieses angebliche Humboldt-Zitat steht auch meines Wissens in keinem einzigen seriösen Zitate-Lexikon. 





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ZITATFORSCHUNG unterstützen.

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Quellen:
Google
E-Mail von Dr. Ingo Schwarz vom 19. September 2017

Beispiele für falsche Zuschreibungen:

Bundesanstalt für Vegetationskartierung: "Pflanzen und Pflanzengesellschaften als lebendiger Bau- und Gestaltungsstoff in der Landschaft", 1961, S. 176  (Link)

ARD, LexiTV - Wissen für alle, 14. September 2017   (Link).
zitate.eu/author/von-humboldt-alexander-freiherr/zitate/157454
aphorismen.de/zitat/20902
taz.de/Alexander-von-Humboldts-250

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Letzte Änderung: 14/9 2019

 
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Dank:
Ich danke Ingo Schwarz von der Berliner Alexander-von-Humboldt-Forschungsstelle für die Bestätigung, dass dieser Spruch kein authentisches Zitat ist.

Montag, 18. September 2017

"Die Gegenden von Salzburg, Neapel und Konstantinopel halte ich für die schönsten der Erde." Alexander von Humboldt (angeblich)

Dieses in der Salzburger Tourismuswerbung beliebte Zitat wird Alexander von Humboldt, der selbst nie in Konstantinopel war, seit 1870 unterschoben. Erstmals wurde Salzburg 1839 gemeinsam mit Neapel und Konstantinopel von unbekannten "Reisenden" als eine der schönsten Städte gepriesen.

1839
  • "Nach den Berichten von Reisenden, welche die Städte und Sitten vieler Menschen gesehen,  ist  Neapel die erste, Konstantinopel die zweyte, Salzburg die dritte der schönsten Städte Europens. Nach ihnen kommt  Vincenca."
    Benedikt Pillwein, Das Herzogthum Salzburg oder der Salzburger Kreis, Linz 1839, S. 273. (Zitiert nach R. Hoffmann)
40 Jahre später wurde aus einer der schönsten Städte Europas eine der drei schönsten Städte der Erde:

1870
  • "Die Gegenden von Salzburg, Neapel und Constantinopel halte ich für die schönsten der Erde."
    Alexander v. Humboldt in einem Briefe an Bergrath Math. Mielichhofer."
    "Führer durch Salzburg", 1870 (pdf)
    Der undatierte Brief wurde nie gefunden. Es gibt keine schriftlichen Zeugen, dass Alexander von Humboldt je mit dem Salzburger Bergrath und Botaniker Mielichhofer, nach dem die Salix mielichhoferi, die Tauernweide, benannt wurde, korrespondiert hätte.

    Allerdings scheint der Sohn des Bergraths, Ludwig Mielichhofer, diesen Brief öfters mündlich erwähnt zu haben.

    Über Ludwig Miellichhofer, 1871:
    • "Wenn Mielichhofer mit Fremden von der schönen Lage Salzburgs spricht, zitirt er sehr gerne einen Brief Alexanders von Humboldt an seinen Vater, den Bergrath Mielichhofer, in welchem der Erstere Salzburg mit Neapel und Konstantinopel in in eine Linie stellt; in solchen Augenblicken vergißt Mielichhofer, daß er nicht sein eigener Vater ist; er fühlt sich dann nicht allein als Redakteur der Salzburgerin und siebzehnzeiliger Dichter im Wurzbach, sondern sogar als Bergrath, und wenn er noch zehn Jahre lebt, wird er endlich überzeugt sein, daß Humboldt eigentlich an ihn geschrieben hat.
      Rupertus
      "

      "Neue Böse Zungen"
      , 1871
      (Link)
    Nach dem Urteil dieses unbekannten Autors mit dem Pseudonym "Rupertus" war Ludwig Mielichhofer, der Autor und Chefredakteur der Salzburger Zeitung,  kein vertrauenswürdiger Zeuge für einen undatierten Brief, der spurlos verschwunden ist und von dem man nur eine Zeile kennt.
     
    Humboldt wohnte zwar ein halbes Jahr in Salzburg, war aber sein Leben lang nie in Konstantinopel, weswegen sein enthusiastisches Lob Konstantinopels völlig unwahrscheinlich ist. Also ist der ganze Satz erfunden.  Ich folge hier der Argumentation des Salzburger Historikers Robert Hoffmann (pdf), der sich die Mühe machte, die Entwicklung der Legende von diesem "Schlagwort im Dienste des Tourismus" in allen Details nachzuzeichnen.
    Pseudo-Alexander-von-Humboldt quote.


    Die Schönheit der Landschaft um Salzburg wurde in den 1790er Jahren von Gelehrten, Künstlern und Reiseschriftstellern entdeckt und später als romantisches Landschaftideal verherrlicht. Erstaunlicherweise auch vom Bruder Alexander von Humboldts, dessen Begeisterung für die Salzburger Landschaft von der Salzburger Tourismuswerbung völlig ignoriert wurde und wird:

    Wilhelm von Humboldt, Salzburg, 14. August 1828:
    • "Ich schreibe Ihnen wieder aus Deutschland, liebe Charlotte, und aus der Gegend, die man wohl die schönste von Deutschland nennen kann. Wenigstens kenne ich keine, die man als schöner rühmen könnte. Die Lage ist wirklich prachtvoll, eine lachende, fruchtbare Ebene, von der man überall die Ansicht majestätischer Gebirge hat, und in der selbst einige wie hingeschleuderte Felsenparthien liegen. Diese sind wirklich merkwürdig, und ich sah nirgends sonst ähnliche dieser Art. Es sind nicht einzelne Felsstücke blos, noch weniger einzelne gipfelige Berge, sondern hohe, lange und verhältnißmäßig schmale Felsmassen, die auf ihrer Oberfläche eine mit fruchtbarer Erde bedeckte, mit Garten und Häusern geschmückte Ebene bilden."  (Link)
    Man wirbt für Salzburg lieber mit einem kurzen, einprägsamen Slogan von Alexander von Humboldt, auch wenn der höchstwahrscheinlich nur erlogen ist.

    Varianten:

    • "Die Gegenden von Salzburg, Neapel und Konstantinopel halte ich für die schönsten der Erde."
    • "Die Gegend um Konstantinopel, Neapel und Salzburg halte ich für die schönsten der Erde."
    • “I regard the areas of Salzburg, Naples and Constantinople as the most beautiful on Earth."
    • "Ich zähle die Gegend von Salzburg zu den drei schönsten Regionen der Erde."
    • "Salzburg wurde von einem berühmten Reisenden als eine der drei schönsten Städte dieser Erde bezeichnet; die anderen waren Venedig und Rio de Janeiro." 
    • “the surroundings of Salzburg, Naples and Constantinople are one of the most beautiful places in the world”.
    • "Schon Alexander von Humboldt nannte Hallstatt »den schönsten Seeort der Welt«".
    • "Alexander von Humboldt zählte Berchtesgaden zu den fünf schönsten Gegenden weltweit." 
    Salzburg ist nicht die einzige Stadt, die mit erfundenen Zitaten von Alexander von Humboldt beworben wird.

     _________
     Quellen:
    Robert Hoffmann: "Die Entstehung einer Legende. Alexander von Humboldts  angeblicher  Ausspruch über Salzburg" (mit einer Einleitung von Ingo Schwarz), 2006: (pdf)
    Benedikt Pillwein: "Das Herzogthum Salzburg oder der Salzburger Kreis", Linz: 1839, S. 273. (Zitiert nach R. Hoffmann)
    Führer durch Salzburg und seine Umgebungen . Mit besonderer Berücksichtigung von Gastein,  Berchtesgaden und Reichenhall. Zweite berichtigte und sehr vermehrte  Auflage, Verlag Dieter und Kroll, Salzburg 1870. (Zitiert nach R. Hoffmann) (pdf)
    Wilhelm von Humboldt: "Briefe an eine Freundin." I. Theil, Brockhaus, Leipzig: 1847, S. 362 (Link)
    "Neue Böse Zungen. Eine Revue alles Interessanten", Wien, 2. Jg., Nr. 14, 7. Juli 1871, S. 231 (Link)
    Salzburg Wiki 
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    Anmerkung:
    "Auch Mathias Mielichhofers Sohn Ludwig ... äußerte sich nie – was wohl naheliegend gewesen wäre – über einen Kontakt seines Vaters zu Humboldt."  Nach dem Quellen-Fund von Christian Opitz (Link) stimmt dieser Satz von Robert Hoffmann so nicht mehr. Ludwig Mielichhofer scheint sich zwar schriftlich nie über das Verhältnis seines Vaters mit  Alexander von Humboldt geäußert zu haben, mündlich in seinem Bekanntenkreis aber öfters (Link), wenn man dem boshaften Artikel von 1871 glauben kann.

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    Dank:
    Ich danke Ingo Schwarz für den Hinweis auf dieses Zitat und Christian Opitz für seinen Hinweis auf den satirischen Artikel über den Sohn des Bergraths Mielichhofer.